Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → SOZIALES

RENTE/563: Lohnt sich die Ausweitung der Rentenversicherungspflicht? (spw)


spw - Ausgabe 2/2011 - Heft 183
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Money for nothing? - Lohnt sich die Ausweitung der
Rentenversicherungspflicht?

Von Johannes Steffen


Schon seit geraumer Zeit steht die Forderung nach einem Ausbau der gesetzlichen Rentenversicherung (gRV) von der bisherigen Arbeitnehmerversicherung hin zu einer Erwerbstätigenversicherung im Raum. Gewerkschaften, Sozialverbände, die Oppositionsparteien im Bund und selbst Vertreter der Deutschen Rentenversicherung haben sich mittlerweile entsprechend positioniert - wenn auch zum Teil mit deutlichen Unterschieden im Detail. Vor allem drei Gründe werden für die Notwendigkeit eines solchen Schrittes angeführt: Zum einen der Gleichbehandlungsaspekt. Er spricht dafür, aus dem Nebeneinander von gRV, berufsständischen Versorgungseinrichtungen, Beamtenversorgung etc. mit unterschiedlichen Anwartschaftsvoraussetzungen und Leistungsniveaus ein einheitliches und gemeinsames Sicherungssystem für alle Erwerbstätigen zu schaffen. Zum anderen verspricht man sich zumindest kurz- und mittelfristig einen finanziellen Entlastungseffekt für die gRV. Die Ausweitung des Versichertenkreises führt unmittelbar zu zusätzlichen Einnahmen, während die entsprechenden (Renten-) Ausgaben womöglich erst Jahrzehnte später anfallen. Zunehmend in den Vordergrund rückt jedoch der dritte Aspekt - das soziale Schutzbedürfnis einer steigenden Zahl nicht obligatorisch fürs Alter oder den Fall der Erwerbsminderung gesicherter Personengruppen. Angeführt werden beispielsweise die etwa zwei bis drei Millionen Selbständigen - vor allem Solo-Selbständigen - ohne obligatorische Absicherung sowie die rund sieben Millionen ausschließlich bzw. im Nebenjob geringfügig versicherungsfrei Beschäftigten. Gelegentlich wird auch generell auf alle "atypisch" Beschäftigten verwiesen, wobei die Qualifizierung als "atypisch" allerdings keinen Rückschluss auf den aktuellen versicherungsrechtlichen Status zulässt.

Bezüglich des gestiegenen sozialen Schutzbedürfnisses der aufgezählten Personengruppen steht nun die Frage im Raum, ob dieses im Rahmen der Rentenversicherung zuverlässig bedient werden kann. Wäre eine zur Erwerbstätigenversicherung ausgebaute gRV in der Lage, für den genannten Personenkreis das Armutsrisiko im Alter und bei Erwerbsminderung zu verringern? Lohnt sich die ganze Sache für die Betroffenen überhaupt oder fiele am Ende nur das Ausmaß der finanziellen Bedarfsunterdeckung geringer aus, ohne dass die Fürsorgeabhängigkeit im Alter als solche vermieden würde?

Die Frage liegt auf der Hand. Mit dem vor gut zehn Jahren unter Rot-Grün eingeleiteten Paradigmenwechsel ist die gesetzliche Rente nicht mehr einem bestimmten Sicherungsziel verpflichtet. Ihre weitere Entwicklung wird vielmehr ausschließlich bestimmt vom Ziel der Beitragssatzbegrenzung. Infolge dessen sinkt das Leistungsniveau der gRV bis zum Jahre 2030 um rd. ein Fünftel. Den Daten der Sozialhilfestatistik zufolge betrug der typisierte Bedarf von älteren Alleinstehenden in der Grundsicherung (SGB XII) Ende 2009 durchschnittlich 663 EUR im Monat. Um diesen Bedarf alleine mit der Rente decken zu können, ist wegen der Abgaben zur Kranken- und Pflegeversicherung eine monatliche Bruttorente von 738 EUR erforderlich. Da die Renten auf einer Beitrags-Leistungs-Äquivalenz beruhen, lässt sich auf Basis dieser Angaben die Frage beantworten, wie viele Beitragsjahre in Abhängigkeit von der erwerbslebensdurchschnittlichen Entgeltposition erforderlich sind, um mit der Nettorente mindestens das aktuelle Grundsicherungsniveau erreichen zu können. Durchschnittsverdiener(1) benötigen hierfür zur Zeit 27,1 Jahre, 75-Prozent-Verdiener 36,2 Jahre und Zwei-Drittel-Verdiener (66,67 Prozent des Durchschnittsentgelts) 40,7 Beitragsjahre. Dies gilt auf Basis eines Rentenniveaus von 52 Prozent(2) (2009). Betrüge das Sicherungsniveau - wie für 2030 politisch anvisiert - dagegen lediglich 43 Prozent, so stiege die Anzahl der erforderlichen Beitragsjahre nach heutigen Werten um rd. ein Fünftel auf 32,8 (Durchschnittsverdiener), 43,7 (75 Prozent-Verdiener) bzw. 49,2 Jahre (66,67-Prozent-Verdiener).

Ohne Rückkehr zu einem ausreichenden Sicherungsniveau(3) dürften damit alle Versuche in Richtung einer nennenswerten Ausweitung des Versichertenkreises politisch bereits im Ansatz scheitern. Die Einbeziehung weiterer - bislang anderweitig oder unzureichend bzw. gar nicht gesicherter - Personenkreise in die Pflichtversicherung ist politisch kaum vorstellbar, solange die Sicherungsperspektive der gRV langjährig Versicherten nach einem Vollzeit nahen Erwerbsleben kein deutlich höheres Leistungsniveau in Aussicht stellt als es die Grundsicherung im Alter auch ohne irgend eine Vorleistung garantiert.

In diesem Zusammenhang ist allerdings auch zu berücksichtigen, dass sich Ende 2009 nur 0,23 Millionen Personen außerhalb von Einrichtungen im Bezug aufstockender Leistungen der Grundsicherung im Alter befanden, obwohl gleichzeitig bei 45 Prozent der Altersrenten - das sind knapp acht Millionen Versichertenrenten, davon 6,2 Millionen an Frauen - der monatliche Rentenzahlbetrag unterhalb von 650 EUR lag. Anders formuliert: Nicht einmal drei Prozent aller Beziehenden einer Altersrente von weniger als 650 EUR erhielten ergänzende Fürsorgeleistungen. Selbst wenn man eine hohe Dunkelziffer der Nichtinanspruchnahme unterstellt, ändert dies kaum etwas an den Relationen. Niedrige Renten alleine geben noch keinerlei Auskunft über die Höhe des Haushaltseinkommens und determinieren somit auch keineswegs Fürsorgeabhängigkeit. Diese Feststellung rechtfertigt nicht den rentenpolitischen Paradigmenwechsel - sie soll nur vor Kurzschlüssen bewahren.

Vor dem Hintergrund dieser Daten bleibt die Schließung von Sicherungslücken im Erwerbsverlauf(4) deshalb auch unabhängig von der Entwicklung des Sicherungsniveaus geboten. Die Rente bildet nur eine - wenn auch die bei weitem wichtigste - Einkommensquelle im Alter. Treten weitere Einkommen - beispielsweise aus der betrieblichen Altersversorgung, aus privater Vorsorge oder Partnereinkommen - hinzu, erhöht die Schließung von Sicherungslücken auf jeden Fall das Gesamteinkommen und reduziert damit im Einzelfall das Risiko, im Alter oder bei Erwerbsminderung auf ergänzende Fürsorgeleistungen zurück greifen zu müssen.

Lohnt sich die ganze Sache aus Sicht der Betroffenen also doch? Die Frage mag alleine schon insofern verwundern, als sie beispielsweise bei Niedriglöhnern gar nicht erst aufgeworfen wird. Hier dreht sich die (sozial-) politische Diskussion vielmehr u.a. darum, wie deren Rentenansprüche erhöht werden können. So etwa im Wege der Re-Regulierung des Arbeitsmarktes und vor allem durch einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn, der bei vollzeitnaher Beschäftigung nicht nur die Hartz-IV-Abhängigkeit bei typisiertem Single-Bedarf vermeidet, sondern - nach "erfülltem" Erwerbsleben - auch ein Abgleiten in die Fürsorgeabhängigkeit im Alter ausschließen müsste. Oder aber - für Niedriglohnzeiten in der Vergangenheit - im Wege einer Verlängerung der Rente nach Mindestentgeltpunkten, durch die (auch nach 1991 liegende) Zeiten mit niedrigen Pflichtbeiträgen zum Zeitpunkt der Verrentung hochgewertet werden könnten. Auch die Versicherungspflicht von Teilzeitbeschäftigten wird nicht ernsthaft in Frage gestellt, obwohl allen klar sein dürfte, dass mit langjähriger Teilzeitarbeit gemeinhin keine (für sich betrachtet) armutsfeste Rentenanwartschaft erworben werden kann. Die kollektive soziale Absicherung ist für die Betroffenen von zentraler Bedeutung.

Nun kann eine Erwerbstätigenversicherung die meist in der Erwerbsphase liegenden Ursachen von Armut im Alter oder bei Erwerbsminderung alleine nicht beheben. Aber sie könnte (vor allem zusammen mit weiteren Reforminstrumenten) ganz wesentlich zur Problemreduzierung beitragen. Der über die letzten beiden Jahrzehnte in Teilbereichen geradezu dramatische Wandel der Erwerbsstrukturen führt zu immer mehr "perforierten" Erwerbsbiografien. Diese sind geprägt von einem permanenten Statuswechsel zwischen (häufig befristeter) versicherungspflichtiger Beschäftigung, arbeitnehmerähnlicher Tätigkeit, geringfügiger Beschäftigung, Arbeitslosigkeit (nicht selten ohne ausreichende Vorversicherungszeit für den Bezug von ALG und die darauf gründende Rentenversicherungspflicht) und selbständiger Tätigkeit. Geschlossene Versicherungsverläufe sind für die Arbeitskraftnomaden der Gegenwart so nicht herstellbar. Dabei ist gerade dies für den Anwartschaftserwerb, vor allem aber den Anwartschaftserhalt auf beispielsweise eine Erwerbsminderungsrente von zentraler Bedeutung. Bei häufigem Statuswechsel zwischen versicherungspflichtiger und versicherungsfreier Beschäftigung können keine entsprechenden Anwartschaften erworben werden - oder eine einmal erworbene Anwartschaft geht schnell wieder verloren. Mit einer durchgehenden Versicherungspflicht über die einzelnen Statusphasen hinweg könnte dem entgegen gewirkt werden.

Mit dem Hinweis darauf, dass sich die Einbeziehung in die Versicherungspflicht am Ende für die Betroffenen sehr wohl lohnt, ist die Sache politisch aber längst noch nicht in trockenen Tüchern. Hinzu treten nämlich bislang öffentlich nur selten gestellte oder nicht hinreichend beantwortete Fragen, die mit einer Ausweitung der Rentenversicherungspflicht unmittelbar aufgeworfen werden: Wie sollen vor allem ausschließlich geringfügig Beschäftigte und prekär selbständig Erwerbstätige die dann fällige Beitragsbelastung schultern? Mini-Jobs bis 400 EUR monatlich sind grundsätzlich versicherungsfrei. Der Arbeitgeber zahlt einen Pauschalbeitrag von 15 Prozent an die Rentenversicherung. Macht man die Mini-Jobs wieder (renten-) versicherungspflichtig, so bedeutete dies bei paritätischer Finanzierung und einem Beitragssatz von derzeit 19,9 Prozent für die Betroffenen eine Nettoeinbuße von rund 10 Prozent. Die Arbeitgeber würden gleichzeitig um rund 5 Prozent gegenüber heute entlastet. Soll dies verhindert werden, wäre beispielsweise die 1999 auf Auszubildende beschränkte Geringverdienergrenze, bis zu der der Arbeitgeber die Beiträge alleine trägt, hinsichtlich des aktuellen Grenzwertes (monatlich 325 EUR) wie auch des erfassten Personenkreises wieder auszuweiten. Und bezüglich der nicht obligatorisch abgesicherten Selbständigen, von denen viele über ein geringeres Erwerbseinkommen verfügen als vergleichbare Arbeitnehmer, ist bislang weder die Bestimmung der Beitragsbemessungsgrundlage geklärt, noch gibt es überzeugende Vorschläge dafür, wer in solchen Fällen den "Arbeitgeber"Anteil tragen soll. Derzeit zahlen versicherte Selbständige den vollen Beitrag (19,9 Prozent) alleine. Hinsichtlich der Traglast wird in der Debatte gemeinhin unterstellt, dass die Belastung über entsprechend höhere Preise zum großen Teil vorgewälzt wird. Für selbständige Arbeitskraftverkäufer ist diese Annahme lebensfremd. Der Belastungsaspekt, der im Falle von Freiberuflern sowie "traditionellen" Selbständigen aus erklärbaren Gründen vernachlässigt wird, gehört bei den nicht abgesicherten Personengruppen mit einem besonders hohen sozialen Schutzbedürfnis zu dem zentralen und womöglich existenziellen Knackpunkt. Was nützt dem prekarisierten Solo-Selbständigen die Aussicht auf ein reduziertes Armutsrisiko im Alter wenn als Preis dafür sein Armutsrisiko während der Erwerbsphase steigt? Die Frage, ob es sich "lohnt", zielt bei denen, die Kontinuität in der sozialen Absicherung nicht haben aber dringend bräuchten, nicht nur ab auf das in Aussicht gestellte Sicherungsziel, sondern gleichermaßen auf die Belastungswirkung bei der Finanzierung der ganzen Geschichte. Allerdings bleibt zu betonen, dass es Vorsorge für die Zukunft auch für diese Personengruppen nicht ohne Konsumverzicht in der Gegenwart geben kann.

Der Ausbau der gRV zu einer Erwerbstätigenversicherung ist aus den eingangs aufgeführten Gründen geboten. Gesellschaftspolitischer Widerstand gegen ein solches Vorhaben ist insbesondere von jenen zu erwarten, die bis dato anderweitig obligatorisch und/oder besser abgesichert sind - auch wenn in den meisten Reformkonzepten lediglich die Einbeziehung von neu in das Erwerbsleben eintretenden Beamten oder Freiberuflern vorgesehen ist, der Bestand also "unangetastet" bliebe. Umso wichtiger wird die Zustimmung der am meisten schutzbedürftigen Personengruppen zu einem solchen Schritt. Diese Zustimmung ist politisch nur erreichbar, wenn das Pflichtversicherungssystem wieder ein akzeptables sowie vor allem auch kalkulierbares Leistungsniveau in Aussicht stellt und die Beitragsbelastung etwa von Solo-Selbständigen derjenigen von Arbeitnehmern vergleichbar ausgestaltet wird. Ansonsten besteht die Gefahr, dass die politischen Realisierungschancen trotz des zunehmenden sozialen Schutzbedürfnisses dieser Personengruppen sinken.


ANMERKUNGEN

(1) 2009 waren dies monatlich 2.540 EUR (lt. Anlage 1 zum SGB VI).

(2) Bezogen auf das Sicherungsniveau vor Steuern (SvS), das die Standardrente aus 45 Entgeltpunkten (abzüglich darauf entfallender Sozialbeiträge) rechnerisch ins Verhältnis setzt zum Durchschnittsentgelt der Aktiven (abzüglich der gesamtwirtschaftlichen Sozialabgabenquote, also ohne Steuern aber einschließlich der Aufwendungen für private Altersvorsorge).

(3) Vgl. FES (Hrsg.), K.-H. Dedring, J. Deml, D. Döring, J. Steffen, R. Zwiener, Rückkehr zur lebensstandardsichernden und armutsfesten Rente, WISO Diskurs, August 2010.

(4) Zur Schließung von Sicherungslücken im Erwerbseinkommensverlauf kann das Konzept der Erwerbstätigenversicherung dagegen keinen Beitrag leisten; hier sind andere Instrumente (des Solidarausgleichs) gefragt.


Johannes Steffen ist Referent für Sozialpolitik bei der Arbeitnehmerkammer Bremen.


*


Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 2/2011, Heft 183, Seite 37-40
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
Abo-/Verlagsadresse:
spw-Verlag / Redaktion GmbH
Postfach 12 03 33, 44293 Dortmund
Telefon 0231/202 00 11, Telefax 0231/202 00 24
E-Mail: spw-verlag@spw.de
Internet: www.spw.de
Berliner Büro:
Müllerstraße 163, 13353 Berlin

Die spw erscheint mit 6 Heften im Jahr.
Einzelheft: Euro 5,-
Jahresabonnement Euro 39,-
Auslandsabonnement Euro 42,-


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juni 2011