Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → SOZIALES

STIGMA/003: Rede von Romani Rose - Niemals und nirgendwo wieder (Der Schlepper)


Der Schlepper Nr. 50 - Frühling 2010
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in Schleswig-Holstein

Niemals und nirgendwo wieder

Rede von Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma,
zum Anlass des Gedenktags für die Opfer des Nationalsozialismus,
Januar 2010, Landtag Sachsen-Anhalt
- Gekürzte Fassung -


Vor nun mehr 65 Jahren, am 27. Januar 1945, befreite die Rote Armee die letzten Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Wir gedenken heute all jener Menschen, die der nationalsozialistischen Herrschaft zum Opfer fielen: weil sie als Sinti, Roma oder Juden geboren worden waren, weil sie behindert oder krank waren, weil sie eine andere politische oder religiöse Überzeugung vertraten, weil sie sich zur ihrer Homosexualität bekannten oder weil sie sich in den besetzten Staaten Europas gegen den nationalsozialistischen Terror zur Wehr setzten. All diese Menschen verbindet das erlittene Unrecht, und ihr gemeinsames Vermächtnis gilt es auch künftig zu bewahren.

Der Name Auschwitz ist zum Symbol geworden auch für den systematischen Völkermord an den Sinti und Roma im nationalsozialistisch besetzten Europa. Es gibt unter uns kaum eine Familie, die mit dem Namen "Auschwitz" nicht den Verlust von Angehörigen verbindet. Das ehemalige Lagergelände von Auschwitz-Birkenau ist für uns in erster Linie ein riesiger Friedhof. Für die wenigen Überlebenden ist "Auschwitz" gleichbedeutend mit qualvollen Erinnerungen, die sich unauslöschlich in das Gedächtnis eingebrannt haben. Und auch das Bewusstsein und die Identität unserer künftigen Generationen wird geprägt sein von dem schrecklichsten Verbrechen, dass die Geschichte der Menschheit kennt.

Die Aufarbeitung des Jahrzehnte lang geleugneten Holocaust an unserer Minderheit wie auch das Aufzeigen der ideologischen und personellen Kontinuitäten aus der NS-Zeit waren von Anfang an zentraler Bestandteil unseres politischen Engagements. Vor allem ging - und geht - es uns darum, uns endlich vom Stigma des Fremden zu befreien und das Bewusstsein zu schärfen, dass Sinti und Roma seit Jahrhunderten in Deutschland sowie in den anderen europäischen Ländern beheimatet sind, deren Geschichte und deren Kultur sie mit geprägt haben.


Antiziganistische Klischees sind im kollektiven Bewusstsein der Mehrheitsgesellschaft verwurzelt

Die Auseinandersetzung mit den gegen unsere Minderheit gerichteten Stereotypen bildet einen Kernbereich unserer Arbeit. Wir wollen aufzeigen, dass die Lebenswirklichkeit unserer Menschen grundsätzlich von jenen antiziganistischen Klischees unterschieden werden muss, die seit Jahrhunderten im kollektiven Bewusstsein der Mehrheitsgesellschaft verwurzelt sind und die auch die Nazi-Propaganda gezielt aufgegriffen und verbreitet hat.

Tatsächlich waren Sinti und Roma bereits lange vor der so genannten "Machtergreifung" der Nationalsozialisten als Nachbarn und Arbeitskollegen in das gesellschaftliche Leben und in die lokalen Zusammenhänge integriert. Viele hatten im Ersten Weltkrieg in der kaiserlichen Armee gedient und hohe Auszeichnungen erhalten. Obwohl sie damit ihre Loyalität für ihr Vaterland unter Beweis gestellt hatten, wurden Sinti und Roma nach 1933 ebenso wie Juden vom Säugling bis zum Greis erfasst, entrechtet, gettoisiert und schließlich in die Todeslager deportiert. Der nationalsozialistische Staat sprach Sinti und Roma kollektiv und endgültig das Existenzrecht ab, nur weil sie als Sinti oder Roma geboren worden waren, und zwar völlig unabhängig von ihrem Verhalten, ihrem Glauben oder ihrer politischen Überzeugung.

Diese mit der so genannten Rasse begründete Politik der Endlösung unterschied sich grundlegend von allen Formen der Verfolgung, der Angehörige unserer Minderheit über Jahrhunderte hinweg ausgesetzt waren. Nach Schätzungen fielen europaweit 500.000 Sinti und Roma dem Holocaust zum Opfer, einem Verbrechen, das in seinem Ausmaß unvorstellbar bleibt.

Am Beginn der Verfolgung im NS-Staat stand die systematische Entrechtung und Ausgrenzung. Die berüchtigten "Nürnberger Gesetze" wurden auf Anweisung von Reichsinnenminister Frick in gleicher Weise auf Angehörige unserer Minderheit angewandt wie auf jüdische Menschen. Sinti und Roma sowie Juden standen bald außerhalb jeder Rechtsordnung.

Diese systematische Ausgrenzung betraf alle Bereiche des öffentlichen Lebens. So wurden Sinti und Roma aus Berufsorganisationen wie der Handwerkskammer oder der Reichskulturkammer ausgeschlossen. Sie mussten ihre Geschäfte aufgeben oder wurden als Arbeiter und Angestellte von ihren Arbeitsplätzen verdrängt. Der NS-Staat erließ zahlreiche diskriminierende Sonderbestimmungen, die Sinti und Roma in ihrem Alltag immer stärker einschränkten.

So durften Sinti und Roma in manchen Städten nur zu festgesetzten Zeiten und in wenigen ausgewählten Geschäften einkaufen. Die Benutzung von Straßenbahnen oder Zügen war ihnen verboten. Vermieter wurden unter Druck gesetzt, keine Mietverträge mit Sinti und Roma abzuschließen und bereits bestehende zu lösen. Krankenhäusern wurde die Behandlung von Sinti und Roma untersagt. In Minden etwa ließ die Stadtverwaltung Schilder aufstellen mit der Aufschrift: "Zigeunern und Zigeunermischlingen ist das Betreten des Spielplatzes verboten". Sinti- und Roma-Kinder wurden vom Schulunterricht ausgeschlossen oder - wie es beispielsweise in Köln oder Gelsenkirchen der Fall war - als so genannte "Zigeunerklassen" getrennt unterrichtet. Auch aus der Wehrmacht wurden Sinti und Roma ausgeschlossen.


Verfolgung und Vernichtung von 1933 bis 1945

Im Februar 1941 und im Juli 1942 ordnete das Oberkommando der Wehrmacht auf Drängen der Parteikanzlei noch einmal den Ausschluss aller Sinti und Roma an, und zwar aus "rassepolitischen" Gründen, wie es ausdrücklich hieß. Trotz der Fürsprache vieler Vorgesetzter wurden Angehörige unserer Minderheit, die noch kurz zuvor an der Front gekämpft hatten, nach Auschwitz deportiert. Als sie dort eintrafen, trugen manche noch ihre Uniform oder ihre Auszeichnungen, wie sogar der Kommandant von Auschwitz, Rudolf Höß, in seinen Aufzeichnungen vermerkte.

Himmler, der als so genannter "Reichsführer SS" beim Vernichtungsprogramm der Nationalsozialisten eine Schlüsselrolle spielte, forderte bereits in seinem Erlass vom 8. Dezember 1938 die "endgültige Lösung der Zigeunerfrage". Eine Schlüsselrolle bei der totalen Erfassung unserer Minderheit spielte die so genannte "Rassenhygienische Forschungsstelle" unter Leitung von Dr. Robert Ritter, die 1936 in Berlin eingerichtet worden war und die eng mit dem SS-Apparat kooperierte. Mit Unterstützung staatlicher und kirchlicher Stellen führten Ritter und seine Mitarbeiter im gesamten Reich genealogische und anthropologische Untersuchungen an Sinti und Roma durch. Sie zwangen die Menschen, Auskunft über ihre Verwandtschaftsverhältnisse zu geben, und vermaßen sie von Kopf bis Fuß. Die von Ritters Institut bis Kriegsende erstellten 24.000 "Rassegutachten" bildeten eine entscheidende Grundlage für die Deportation der Sinti und Roma in die Konzentrations- und Vernichtungslager.

Bereits wenige Wochen nach der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs, am 21. September 1939, beschloss die SS-Führung, dass alle deutschen Sinti und Roma sowie Juden in das besetzte Polen deportiert werden sollten. Als vorbereitende Maßnahme untersagte ein Erlass Himmlers vom Oktober 1939 allen Angehörigen unserer Minderheit, ihre Wohnorte zu verlassen. Ein halbes Jahr später, am 27. April 1940, ordnete Himmler die Verschleppung von zunächst 2.500 Sinti und Roma in das so genannte "Generalgouvernement Polen" an. In Hamburg, Köln und Hohenasperg bei Stuttgart wurden besondere "Sammellager" eingerichtet. Im Mai 1940 starteten von dort die ersten Deportationszüge in die Konzentrationslager im besetzten Polen. Für die Mehrzahl der verschleppten Männer, Frauen und Kinder war es eine Fahrt in den Tod. Sie fielen in der Folge dem Hunger und der Kälte, den Misshandlungen und Krankheiten zum Opfer oder wurden von den Mordkommandos der SS erschossen.

Im besetzten Polen sind bisher über 180 Orte bekannt, an denen Sinti und Roma durch Exekutionskommandos der SS, der Polizei und der Wehrmacht ermordet wurden. Zu den Opfern zählten sowohl die nach Polen deportierten deutschen Sinti wie auch die dort beheimateten Roma. Einer dieser Orte ist das Dorf Szczurowa. Am frühen Morgen des 3. Juli 1943 umstellte ein Polizeikommando die Häuser der Roma-Familien. Die Menschen wurden aus ihren Betten gerissen, mit Leiterwagen zum Friedhof gefahren und dort erschossen: 94 Männer, Frauen und Kinder. Ihre Leichen verscharrte man in einem Massengrab. Ihr Hab und Gut wurde geraubt, ihre Häuser niedergebrannt. Wie das Pfarrbuch ausweist, waren Sinti und Roma seit Generationen in Szczurowa ansässig.


Das "Zigeunerlager" in Auschwitz-Birkenau

Ein geografischer Schwerpunkt des Völkermords an den Sinti und Roma waren die besetzten Gebiete Jugoslawiens, wo Einheiten der Wehrmacht an den Massenerschießungen maßgeblich beteiligt waren. Harald Turner, Leiter des Verwaltungsstabes beim Militärbefehlshaber in Serbien, brüstete sich in einem Vortrag bei General Löhr am 29. August 1942: "Serbien einziges Land, in dem Judenfrage und Zigeunerfrage gelöst sind".

Sinti und Roma gehörten neben Juden zu den ersten Opfern der industriellen Massentötungen in den neu errichteten Vernichtungslagern im besetzten Polen. Im November 1941 wurden etwa 5.000 österreichische Sinti und Roma - ein großer Teil waren Kinder und Jugendliche - in das Ghetto Lodz deportiert, wo die SS innerhalb des jüdischen Ghettos ein so genanntes "Zigeunerlager" einrichten ließ. Zuständig für die Organisation dieser Transporte war Adolf Eichmann. Anfang 1942 wurden die überlebenden Insassen des "Zigeunerlagers" Lodz wie ihre jüdischen Leidensgenossen nach Chelmno gebracht und unmittelbar nach ihrer Ankunft in Gaswagen erstickt.

Der als "Zigeunerlager" bezeichnete Abschnitt des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau wurde schließlich zum Zentrum des staatlich organisierten Völkermords an unserer Minderheit. Im Anschluss an den Auschwitz-Erlass Himmlers vom 16. Dezember 1942 wurden 23.000 Sinti und Roma aus fast ganz Europa in die Todesfabrik nach Auschwitz deportiert, davon über 10.000 aus Deutschland. Fast 90% unserer Menschen fielen in Auschwitz-Birkenau dem Terror und den mörderischen Lebensbedingungen im Lager zum Opfer oder mussten in den Gaskammern einen qualvollen Tod erleiden.

Der Name Auschwitz steht für die totale Entmenschlichung des Menschen durch den Menschen. Die an der so genannten Rampe eintreffenden Frauen, Männer und Kinder wurden zu Nummern degradiert, die man ihnen auf den Arm - bei Säuglingen auf den Oberschenkel - tätowierte. Man raubte den Menschen den Namen und die Persönlichkeit; jeder Anspruch auf menschliche Würde wurde ihnen aberkannt. In den Augen der SS waren die Häftlinge bloße Arbeitssklaven oder Objekte medizinischer Versuche. Ihre Ausbeutung war eine totale: bis hin zu den Goldzähnen und den Haaren der Ermordeten, die zentral gesammelt und verwertet wurden.

Die letzte große Mordaktion an Sinti und Roma in Auschwitz fand bei der so genannten "Liquidierung" des "Zigeunerlagers" am 2. August 1944 statt. In einer einzigen Nacht wurden die letzten 2.900 Überlebenden dieses Lagerabschnitts - zumeist Frauen, Kinder und alte Menschen - von der SS in die Gaskammern getrieben. Niemand kann die Qualen ermessen, die die Menschen erleiden mussten. Es ist die spezifische Verbindung von menschenverachtender Ideologie und Barbarei, von kalter bürokratischer Logik und mörderischer Effizienz, die in der Geschichte der Menschheit ohne Beispiel ist.


Antiziganismus nach 1945

Der Völkermord an unserer Minderheit wurde jahrzehntelang verdrängt und geleugnet. Es fand weder eine politische noch eine juristische oder historische Aufarbeitung dieses Verbrechens statt. Unseren Überlebenden, die körperlich und seelisch von Verfolgung und KZ-Haft gezeichnet waren, verweigerte der deutsche Staat die moralische und rechtliche Anerkennung.

Den Funktionsträgern aus dem ehemaligen Amt V des "Reichssicherheitshauptamtes" gelang es nach Kriegsende, Schlüsselpositionen im neu aufgebauten Polizeiapparat zu besetzen. Dafür mussten sie ihre maßgebliche Rolle bei der Organisation des Völkermords an den Sinti und Roma systematisch verschleiern oder verharmlosen. Um sich selbst zu entlasten, rechtfertigten die ehemaligen SS-Offiziere die Deportationen von Sinti und Roma in die Vernichtungslager als vorgeblich "kriminalpräventiv". Diese Verfälschung der historischen Tatsachen, die sogar Eingang in die Urteile höchster deutscher Gerichte fand, war nicht nur eine Verhöhnung der Opfer, sie stellte die Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit und demokratischem Neubeginn radikal in Frage.

Dass die ehemaligen Täter die Deutungsmacht über ihre Opfer erlangten, war eine entscheidende Weichenstellung für die Rezeption des Völkermords an unserer Minderheit in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft. Diese war geprägt von einer nahezu bruchlosen Kontinuität rassistischer Denkmuster über "Zigeuner", die unmittelbar an die nationalsozialistische Rassenideologie anknüpften. Zudem gab es bis in die Siebziger Jahre hinein kaum zivilgesellschaftliche Kräfte, die zu diesen staatlich legitimierten Zerrbildern und der hierauf gegründeten gesellschaftlichen Ausgrenzung unserer Minderheit ein wirksames Gegengewicht gebildet hätten. So war die Wissenschaft an der Konstruktion rassistischer Stereotype über Sinti und Roma auch nach 1945 maßgeblich beteiligt.


Die Selbstorganisation der Sinti und Roma in Deutschland

Erst mit der politischen Selbstorganisation der Betroffenen und der Gründung einer Bürgerrechtsbewegung, die seit Ende der Siebzigerjahre auf ihr Anliegen aufmerksam machte, wurde ein Wandel eingeleitet. Träger dieser Emanzipationsbewegung waren die Kinder der Opfergeneration, die im Schatten von Auschwitz aufgewachsen waren.

Eine wichtige Station in der Bürgerrechtsarbeit markierte der an Ostern 1980 in der Gedenkstätte Dachau durchgeführte Hungerstreik, über den in den Medien bis in die USA sehr ausführlich berichtet wurde. Unser damaliger Protest richtete sich gegen die verweigerte Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus und gegen die ideologische wie personelle Kontinuität insbesondere in den Polizeibehörden, die die rassistische Sondererfassung von Sinti und Roma auf der Grundlage der Aktenbestände aus der Nazizeit fortführten. Im Februar 1982 wurde der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma mit Sitz in Heidelberg gegründet. Diese Dachorganisation vertritt seither auf nationaler wie internationaler Ebene die Interessen der in Deutschland lebenden Sinti und Roma.

Ein weiterer Meilenstein war die Eröffnung des Dokumentations- und Kulturzentrums deutscher Sinti und Roma in Heidelberg mit der weltweit ersten Dauerausstellung zur Verfolgung und Vernichtung unserer Minderheit im NS-Staat im Jahre 1997. In seiner Eröffnungsansprache hat der damalige deutsche Bundespräsident Roman Herzog die historische Dimension der Vernichtung mit folgenden Worten ausgedrückt:

"Der Völkermord an den Sinti und Roma ist aus dem gleichen Motiv des Rassenwahns, mit dem gleichen Vorsatz und dem gleichen Willen zur planmäßigen und endgültigen Vernichtung durchgeführt worden wie der an den Juden. Sie wurden im gesamten Einflussbereich der Nationalsozialisten systematisch und familienweise vom Kleinkind bis zum Greis ermordet."

Dieses Zitat ist Teil der Chronologie, die am nationalen Holocaust-Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma am Berliner Reichstag angebracht wird. Das von dem international renommierten Künstler Dani Karavan gestaltete Denkmal ist in seiner politischen Bedeutung kaum zu überschätzen. Im Herzen der deutschen Hauptstadt gelegen, von wo der Holocaust einst geplant und vorbereitet wurde, reicht die Symbolkraft dieses Denkmals weit über die Grenzen Deutschlands hinaus.


Aufarbeitung der Vergangenheit

Das Vermächtnis der Opfer der nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen kann nicht darin bestehen, Schuld zu zementieren oder den nachgeborenen Generationen aufzubürden. Vielmehr sehe ich dieses Vermächtnis in der besonderen Verpflichtung der Völkergemeinschaft als Ganzes, diesen Abgrund von Unmenschlichkeit niemals wieder zuzulassen. Das Primat der universell gültigen Menschenrechte darf niemals und nirgendwo zugunsten kurzfristiger politischer oder wirtschaftlicher Interessen geopfert werden.

Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang noch einige Anmerkungen zur gegenwärtigen geschichtspolitischen Diskussion. Die notwendige Auseinandersetzung mit dem Unrecht der SED-Diktatur darf nicht dazu führen, dass die historische Einmaligkeit des Holocaust an den Sinti und Roma sowie an den Juden relativiert wird. Formulierungen wie jene von den "beiden deutschen Diktaturen" verwischen die fundamentalen Unterschiede zwischen dem Vernichtungskrieg im nationalsozialistischen besetzten Europa, der im deutschen Namen begangen wurde und dem Millionen unschuldiger Männer, Frauen und Kinder zum Opfer fielen, und dem nach 1945 begangenen Unrecht.

Selbstverständlich ist es notwendig und moralisch geboten, der unschuldigen Opfer anderer diktatorischer Regime würdig zu gedenken. Jedoch dürfen wir es nicht zulassen, dass Nazi-Täter, die später in die Mühlen des stalinistischen Unrechtssystems geraten sind, einseitig zu Opfern stilisiert werden. Mit anderen Worten: es muss eine klare Trennlinie geben zwischen der persönlichen Verstrickung in NS-Verbrechen und den unschuldigen Opfern stalinistischer Verfolgung.

Gerade die Gedenkstätten und ihre Stiftungen, die einen elementaren Beitrag für unsere Erinnerungsarbeit leisten, stehen hier in einer besonderen Verantwortung.


Verdrängung und Kontinuität

Umso erschreckender ist es, wenn wir uns die Menschenrechtssituation unserer Minderheit in vielen europäischen Staaten über 70 Jahre nach der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs durch Hitler-Deutschland vergegenwärtigen. Wir erleben in der jüngsten Vergangenheit nicht nur ein Erstarken rechtsextremer Parteien und Gruppierungen, sondern auch eine dramatische Zunahme von rassistischer Gewalt, die sich in besonderer Weise gegen Angehörige unserer Minderheit richtet.

Die jahrzehntelange Verdrängung der Vernichtung von Sinti und Roma ist eine wesentliche Ursache dafür, dass die tief verwurzelten Stereotype über unsere Minderheit kaum etwas von ihrer Wirkungsmächtigkeit verloren haben. Auch in der Berichterstattung sind Sinti und Roma zuweilen einer Form der Darstellung ausgesetzt, die an längst überwunden geglaubte Denkmuster erinnert.

Selbst Vertreter bürgerlicher Parteien scheuen in manchen Ländern nicht davor zurück, sich in populistischer Manier aus dem Arsenal tief verwurzelter antiziganistischer Klischees und Zerrbilder zu bedienen, um auf Stimmenfang zu gehen. Dieses Schüren von Vorurteilen um des eigenen politischen Vorteils willen bereitet dem organisierten Rechtsextremismus und seiner rassistischen Ideologie den Weg in die Mitte der Gesellschaft. Verschärft durch die Wirtschaftskrise und die Suche nach Sündenböcken entsteht so ein gesellschaftliches Klima, das die Schwelle für Gewalttaten immer stärker sinken lässt. Allein in Ungarn fielen im letzten Jahr mindestens sieben Angehörige unserer Minderheit dem rechten Terror zum Opfer, ohne dass ein öffentlicher Aufschrei erfolgt wäre.


Die historische Verpflichtung ernst nehmen!

Menschen- und Minderheitenrechte sind unteilbar. Wer den mörderischen Antiziganismus nicht ebenso konsequent ächtet wie den Antisemitismus, wer ihm mit Passivität, Gleichgültigkeit oder Halbherzigkeit begegnet, der stellt nicht nur die Glaubwürdigkeit der europäischen Wertegemeinschaft von Grund auf in Frage, sondern verrät all das, wofür Auschwitz als unsere gemeinsame historische Verpflichtung steht.

In einer Zeit, in der ökonomische Zwänge und Verwertungsdenken immer mehr Lebensbereiche beherrschen, ist es umso wichtiger, grundlegende Werte der Menschlichkeit glaubhaft zu vermitteln. Ob uns dies gelingt, ist möglicherweise von entscheidender Bedeutung für die weitere Entwicklung unseres Gemeinwesens.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


Romani Rose ist Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. 13 Mitglieder seiner Familie wurden in NS-Vernichtungslagern ermordet.


*


Quelle:
Der Schlepper Nr. 50 - Frühling 2010, Seite 47-51
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in
Schleswig-Holstein
Herausgeber: Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V.
Oldenburger Str. 25, 24143 Kiel
Tel.: 0431/73 50 00, Fax: 0431/73 60 77
E-Mail: schlepper@frsh.de
Internet: www.frsh.de
Der Schlepper online im Internet: www.frsh.de/schlepp.htm

Der Schlepper erscheint vierteljährlich als Rundbrief
des Flüchtlingsrates Schleswig-Holstein e.V.
Für Vereinsmitglieder ist Der Schlepper kostenlos.
Nichtmitglieder können ihn für 18,00 Euro jährlich
abonnieren.


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Juli 2010