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WOHNEN/131: Die soziale Mischung macht's (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2016

Die soziale Mischung macht's
Was die Wohnsituation für eine gelungene Integration (nicht) leisten kann

von Martin Kronauer


Viele Kommunen sind derzeit mit der großen Aufgabe konfrontiert, Wohnraum für Flüchtlinge bereitzustellen und einen erheblichen Teil von ihnen langfristig in die Gesellschaft aufzunehmen. Dies ist nicht das erste Mal in der jüngeren Geschichte. In den fünf Jahren unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs suchten den Angaben des Historikers Ulrich Herbert zufolge 8,3 Millionen Menschen aus den deutschen Ostgebieten und der sowjetischen Besatzungszone Zuflucht in den von den Westalliierten besetzten Zonen. Wohnraum war noch immer knapp, die Arbeitslosigkeit nahm zu, besonders die Neuankömmlinge waren davon betroffen. Und obgleich sie Deutsche waren, trafen sie auf erhebliche Ressentiments, nicht etwa auf eine "Willkommenskultur". Im Nachhinein erwies sich ihre Integration als eine Erfolgsgeschichte, doch zur damaligen Zeit war dies alles andere als ausgemacht. Die Integration musste politisch gewollt werden, und es gab keine Alternative zu ihr.

Die Situation ist heute in mancher Hinsicht ähnlich, in mancher Hinsicht aber auch nicht. Die Wirtschaftskraft der Bundesrepublik ist heute wesentlich stärker als die der Westzonen und der jungen Republik vor 1950. Die Zahl der Flüchtlinge ist zwar hoch im Vergleich zu den Jahrzehnten zuvor, aber erheblich niedriger (in absoluten Zahlen wie relativ zur Gesamtbevölkerung) als damals. Es sind keine Deutschen, die kommen, sondern Menschen aus anderen Ländern und Kulturkreisen, und es besteht die Aussicht, dass viele von ihnen eines Tages in ihre Herkunftsländer zurückgehen können und wollen. Aber auch heute gilt: Viele der Flüchtlinge werden bleiben, und es gibt keine Alternative dazu, ihnen die Aufnahme in die Gesellschaft zu ermöglichen. Wieder muss es politisch gewollt werden, damit es gelingt.

Welche Bedeutung kommt dabei der Wohnsituation zu? Vor allem in längerer Frist, über das meist nur pragmatisch zu lösende Problem der Erstaufnahme hinaus? Im Zusammenhang mit dieser Frage taucht immer wieder das Argument auf, die "ethnische Segregation", also die Herausbildung von Quartieren mit hohen Bevölkerungsanteilen von Zugewanderten, behindere die Integration. Sie verhindere den Kontakt mit Einheimischen, befördere den Rückzug in "ethnische Kolonien", wenn nicht gar die Herausbildung von "Parallelgesellschaften" mit eigenen sozialen Regeln, bis hin zur Ablehnung der Regeln der Aufnahmegesellschaft. In einigen Fällen ist das Argument als Warnung gedacht, Migrantinnen und Migranten räumlich von der "einheimischen" Bevölkerung zu isolieren. In anderen Fällen richtet es sich gegen die Aufnahme der Zugewanderten selbst. Was ist aus Sicht der Stadtforschung zu diesem Argument zu sagen?

Ein Blick in Einwanderungsgesellschaften zeigt, dass die ethnisch geprägten Nachbarschaften dort, wie Walter Siebel in seinem Buch Die Kultur der Stadt argumentiert, in erster Linie als Brücken in die Aufnahmegesellschaft fungieren. Sie ermöglichen es den Neuankömmlingen, Kontakt zu Menschen aufzunehmen, die ihre Sprache sprechen, möglicherweise aus derselben Herkunftsregion stammen, Erfahrungen im Umgang mit den Behörden des Aufnahmelandes gesammelt haben, Wohnraum und Arbeit vermitteln können. Es sind Orte des Übergangs, die es erlauben, sich mit den neuen Lebensbedingungen vertraut zu machen, ohne die eigene Herkunftsgeschichte verleugnen zu müssen. Das galt beispielsweise im typischen Einwandererviertel New Yorks, der Lower East Side, zunächst für die deutschen Migrantinnen und Migranten, dann für die italienischen, polnischen und die puertoricanischen. Der Wechsel in der ethnischen Zusammensetzung des Viertels zeigt den sozialen Aufstieg der jeweiligen Bewohnergruppen an, die weggezogen sind. Das Gebäude mit den Insignien der deutsch-amerikanischen Schützengesellschaft, die für Kunstausstellungen genutzte ehemalige Synagoge, die Papststatue vor der polnischen Kirche - all das sind zurückgebliebene Zeichen des sozialen Wandels. Diese "Migrantenviertel" mögen Probleme haben, ebenso wie mehrheitlich von Einheimischen bewohnte Viertel auch, aber sie stellen kein Problemviertel dar, nur weil dort viele Zugewanderte leben.

Damit die Einwandererviertel als Brücke fungieren können, müssen jedoch sozialer Aufstieg und räumliche Mobilität möglich sein. Ersterer hängt vom Zugang zum Arbeitsmarkt, zu schulischer und beruflicher Bildung ab, letztere von nicht-diskriminierendem Zugang zu Wohnungen in anderen Vierteln der Stadt. Bleiben die Zugänge für Teile der Bewohnerschaft versperrt, dann kann das Quartier für diese zu einer Falle der sozialen Isolation und zusätzlichen Benachteiligung werden. Das Problem ist dann aber die soziale, nicht die ethnische Segregation und diese betrifft in gleicher Weise die ebenfalls von sozialer Ausgrenzung bedrohten Bewohnergruppen des Viertels ohne Migrationsgeschichte. Die Debatte führt immer dann in die Irre, wenn sie als ethnisches Problem ausgibt, was im Kern ein soziales Problem darstellt.

Man kann sich auch in der Nachbarschaft aus dem Weggehen

Empirische Befunde für Deutschland zeigen bislang, dass Viertel mit hohen Anteilen von Migrantinnen und Migranten ethnisch gemischt sind. Kaum jemals übersteigt der Anteil einer Gruppe 30 %. Auch sozial sind sie intern heterogener als etwa die privilegierten Viertel der Wohlhabenden, über deren Segregation sich kaum jemand Gedanken macht. Der Begriff "Ghetto", der in amerikanischen Städten für Viertel mit Armutsquoten von 40 % der Bewohner verwendet wird, ist zur Charakterisierung von Stadtquartieren in Deutschland unangemessen. Auch die empirischen Studien, die Hartmut Häußermann in seinem 2009 erschienenen Aufsatz Behindern "Migrantenviertel" die Integration? zusammengefasst hat, belegen, dass ethnische Segregation Kontakte zu Einheimischen nicht verhindert. Umgekehrt bedeutet räumliche Nähe allein aber auch nicht ohne Weiteres eine Erleichterung sozialer Kontakte. Man kann sich auch in der Nachbarschaft aus dem Weg gehen. Wer mit wem gut kann und in näheren Kontakt treten will, hängt insbesondere von sozialer Nähe, der vergleichbaren sozialen Stellung, nicht aber von räumlicher Nähe ab.

Auch für Deutschland gilt, dass Menschen mit Migrationsgeschichte die migrantisch geprägten Viertel verlassen, je fester sie in dem Aufnahmeland Fuß gefasst haben und je stärker sie ökonomisch, sozial und kulturell eingebunden sind. Ein kulturell verankerter Wunsch zur räumlichen Absonderung lässt sich jedenfalls auf Seiten der Migrantinnen und Migranten nicht erkennen (eher bei den Einheimischen). Die Pflege der eigenen Herkunftskultur ist bei den Bewohnern "ethnischer Kolonien" nicht stärker ausgeprägt als bei Zugewanderten, die in anderen Vierteln leben. Allerdings spielen Bildung und Einkommen eine wichtige, intern differenzierende Rolle im Umgang mit den Traditionen des Herkunftslandes.

Wenn also Bildung, Einkommen und Beruf und nicht der Wohnort über die Eröffnung (oder Verschließung) von Teilhabechancen entscheiden, welche Bedeutung kommt dann überhaupt den "Nachbarschaftseffekten" von ethnisch geprägten Vierteln zu? Zuvor war von möglichen positiven "Brückeneffekten" und deren Voraussetzungen die Rede. Allerdings gehört zu den empirischen Befunden auch, dass das Erlernen der neuen Landessprache in "ethnischen Kolonien" schwerer als beim überwiegenden Zusammenleben mit Einheimischen fällt. Eigenständige, problematische Nachbarschaftseffekte zeigen sich dann, wenn Menschen mit geringen ökonomischen und beruflichen Ressourcen unter sich bleiben und kaum Chancen für sich sehen, ihre soziale Lage zu verbessern. Ihre Mobilität ist am stärksten eingeschränkt, sie sind auf die oft schlechter ausgestattete Infrastruktur im Quartier und dichte, aber enge soziale Netze angewiesen, die kaum Aufstiegsmöglichkeiten vermitteln. Dies sind jedoch Folgen sozialer, nicht ethnischer Segregation, selbst wenn beide zusammen auftreten. Kriminologische Studien von Dietrich Oberwittler haben für zwei deutsche Städte eigenständige Nachbarschaftseffekte bei der Delinquenz von Jugendlichen, deren Freundeskreise auf das Wohngebiet konzentriert sind, nachgewiesen, allerdings nicht bei Jugendlichen aus Migrantenfamilien. Unbestritten ist, dass der Schulerfolg von Jugendlichen von der sozialen Zusammensetzung der Schülerschaft und damit indirekt der des Wohnquartiers beeinflusst wird.

Gibt es Möglichkeiten der sozialen Segregation und ihren Folgen innerhalb der Viertel entgegenzuwirken? Kontakte über die Grenzen von unterschiedlichen sozialökonomischen Positionen hinweg stellen sich, es wurde schon darauf hingewiesen, nicht bereits durch räumliche Nähe her. Es bedarf dazu besonderer Anlässe, und die müssen geschaffen werden. Ein zentraler Ort, an dem notwendigerweise solche Kontakte stattfinden, ist die Schule. Gemeinsames Lernen von Kindern unterschiedlicher sozialer Herkunft ist ein hervorragendes Mittel, um Bildungs- und damit Lebenschancen zu vermitteln. Und insofern sie dies gewährleisten kann, kommt der Schule eine entscheidende Bedeutung dabei zu, gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten zu eröffnen.

Gerade wegen ihrer weichenstellenden Bedeutung aber stehen die Schulen auch in besonderer Weise im Kräftefeld von sozialen Selektionsprozessen. Eltern aus den Mittelklassen fürchten um die Förderung ihrer Kinder, wenn sie mit Kindern aus ärmeren und beruflich weniger etablierten Haushalten zusammen unterrichtet werden. Deshalb kann man eine starke Tendenz erkennen, dass diese Eltern aus Vierteln mit hohen Anteilen von einkommensschwachen und migrantischen Haushalten wegziehen oder die Kinder auf Schulen außerhalb schicken. Eine der Integration verpflichtete Politik müsste deshalb die "Brückenfunktion" der Schule stärken und gerade in die Infrastruktur und die Lehrkräfte der Schulen jener Viertel investieren, um sie auch für Schüler aus den Mittelklassen (sowohl "einheimische" als auch solche mit Migrationsgeschichte) attraktiv zu machen; und um damit die (vor allem im internationalen Vergleich erwiesenen) Lernvorteile bei sozialer Mischung auszuschöpfen. Dies gilt bereits unabhängig von den gegenwärtigen, durch Flucht ausgelösten Migrationsbewegungen. Es wird aber durch sie noch dringlicher, da abzusehen ist, dass aufgrund der Verteilungseffekte des Wohnungsmarktes viele Flüchtlinge in solchen Quartieren wohnen werden, in denen bereits Migrantinnen und Migranten leben.

Dies wäre eine erste wichtige Konsequenz, hergeleitet aus der Forschung zu ethnischer und sozialer Segregation. Eine weitere betrifft die Bereitstellung neuer Wohnungen für die Flüchtlinge. Starke Gründe sprechen dagegen, neue Wohnsiedlungen am Stadtrand ausschließlich für Flüchtlinge zu bauen; gute Gründe sprechen für eine dezentrale Verteilung der Wohneinheiten in verschiedenen Quartieren, was soziale Mischung in der Nutzung gemeinsamer Infrastruktur - und hier wieder insbesondere Schulen und andere Ausbildungseinrichtungen - fördern würde. Aber auch in diesem Fall gilt, dass sich gedeihliche soziale Kontakte nicht schon aufgrund räumlicher Nähe herstellen. Das Gegenteil, Ablehnung und Abgrenzung, kann ebenfalls die Folge sein. Hier weist die Segregationsforschung (insbesondere die des amerikanischen Kriminologen Robert J. Sampson) auf die wichtige, Quartiere stabilisierende Rolle zivilgesellschaftlicher Nachbarschaftsorganisationen hin. Als Brücke können sie allerdings nur dann wirksam werden, wenn sie Partizipation auf beiden Seiten gewährleisten, also auch die Flüchtlinge einbeziehen.

Schließlich lässt sich aus der Forschung zu "ethnischen Kolonien" für die aktuelle Situation noch ein Drittes lernen. Wie andere Zugewanderte suchen auch die Flüchtlinge nach ihren eigenen "Brücken" in die Aufnahmegesellschaft. Sie nehmen, sofern sie solche haben, Kontakt zu Verwandten, Bekannten und Bekannten von Bekannten auf, die bereits in Deutschland leben und beim Übergang in die neue Lebenssituation helfen können. Auch diese Brückenfunktion gilt es zu nutzen und nicht durch bürokratische Aufenthaltsverpflichtungen zu schwächen.


Martin Kronauer ist Professor (em.) für Gesellschaftswissenschaft an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Inklusion und Exklusion im internationalen Vergleich, Stadt und soziale Ungleichheit.
kronauer@hwr-berlin.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2016, S. 29 - 32
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Kurt Beck, Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. April 2016

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