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ORGANISATION/568: Sicherheitsrat - Mächtig, aber mäßig angesehen (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 148/Juni 2015
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Mächtig, aber mäßig angesehen

Wie die Mitgliedsstaaten der UNO den Sicherheitsrat bewerten

von Martin Binder und Monika Heupel


Kurz gefasst: Der UN-Sicherheitsrat hat aufgrund seiner großen Machtfülle einen erhöhten Legitimationsbedarf. In den Augen der Mitgliedsstaaten der UN leidet der Sicherheitsrat jedoch an einem Legitimitätsdefizit. Denn wenn Staaten den Sicherheitsrat öffentlich bewerten, überwiegen die negativen Bewertungen deutlich. Vor allem die unfairen Entscheidungsverfahren des Rats werden von den Staaten kritisiert, während Mandatsüberschreitungen und mangelnde Effektivität weniger stark ins Gewicht fallen. Dies zeigt eine Studie, in der die Autoren bewertende Aussagen von UN-Mitgliedsstaaten in Debatten in der Generalversammlung der UN zum Sicherheitsrat ausgewertet haben.


Der UN-Sicherheitsrat gilt weithin als eine der mächtigsten internationalen Institutionen. Er hat das Recht, Krisen und Konflikte als internationale Sicherheitsbedrohung zu definieren. Der Rat kann entsprechende Zwangsmaßnahmen ergreifen, entweder durch ökonomische Sanktionen - wie etwa gegen den Iran - oder durch die Autorisierung militärischer Interventionen, wie zuletzt in Libyen geschehen. Seine Entscheidungen sind rechtlich bindend für alle UN-Mitgliedsstaaten, sein Zuständigkeitsbereich ist kaum begrenzt, und seine Maßnahmen greifen tief in die inneren Angelegenheiten von Staaten ein.

Allerdings fehlen dem Rat - wie den meisten internationalen Institutionen - eigene Ressourcen zur wirksamen Durchsetzung seiner Entscheidungen. Bei der Umsetzung von Sanktionen, der Entsendung von Friedensmissionen oder bei militärischen Interventionen ist er auf die Mithilfe und die Folgebereitschaft der UN-Mitgliedsstaaten angewiesen.

Daraus folgt, dass sich der Sicherheitsrat um Legitimität, verstanden als rechtmäßig anerkannte Herrschaft, bemühen muss. Nicht nur bedarf seine Machtfülle einer legitimatorischen Abstützung. Auch um seine Aufgaben wirkungsvoll zu erfüllen, benötigt der Rat Legitimität und die daraus erwachsende Unterstützung seitens der Staatengemeinschaft. Schließlich hat die Legitimitätsforschung seit Max Weber gezeigt, dass legitime Herrschaft erfolgreicher ist als Herrschaft, die auf Zwang oder materiellen Anreizen beruht.

Doch wie solide ist das Fundament, auf dem die Legitimität des Rats beruht? Die wissenschaftliche Literatur diskutiert diese Fragen äußerst kontrovers. Einige Autoren heben die einzigartige Fähigkeit des Rats hervor, kollektive Interventionen zur Friedenssicherung zu legitimieren. In ihrer Sicht streben handlungswillige Staaten ein Mandat des Sicherheitsrats an, um ihren Maßnahmen Legitimität zu verleihen - man denke an die intensiven (wenn auch erfolglosen) Bemühungen der USA, für ihre Intervention im Irak 2003 ein Sicherheitsratsmandat zu erlangen. Andere Beobachter sprechen dem Gremium fast jegliche Legitimität ab. Kritiker betonen das unfaire und anachronistische Vetorecht, mit dessen Hilfe Vertreter der fünf ständigen Mitglieder Maßnahmen des Rats blockieren können - wie die aktuelle Blockade durch Russland und China im Falle Syriens. Sie heben ferner die undurchsichtigen Entscheidungsprozeduren sowie die unzureichende Rechenschaftspflicht des Rats hervor und verweisen auf die mangelnde Effektivität seiner Maßnahmen.

Beide Positionen in dieser Debatte teilen jedoch einen normativen Blick auf die Legitimität des Rats. Sie legen externe, in der Regel demokratietheoretische Kriterien an, um seine Legitimität zu bewerten. Bislang vernachlässigt wurde in der Forschung indes eine empirische Legitimitätsperspektive, die zu erfassen versucht, als wie legitim das Gremium von den UN-Mitgliedsstaaten wahrgenommen wird. Unsere Studie setzt an diesem Punkt an und untersucht systematisch, wie legitim der Rat in den Augen der UN-Mitgliedsstaaten ist und aus welchen Quellen sich deren Legitimitätswahrnehmungen speisen. Dazu unterscheiden wir drei potenzielle Legitimitätsquellen: Die wahrgenommene Legitimität des Rats kann sich auf dessen Mandatseinhaltung beziehen. Die ausschlaggebende Frage wäre dann, ob der Rat innerhalb der ihm zugewiesenen formalen Kompetenzen handelt. Die Wahrnehmung des Rats als legitim kann sich zweitens aus der Beschaffenheit seiner Verfahren speisen. Dann wäre die Frage, welche Rolle Transparenz, accountability (Rechenschaftspflicht) und Partizipation in den Entscheidungen des Rats zukommt. Drittens schließlich kann die wahrgenommene Legitimität des Rats von seiner Leistungsfähigkeit abhängen, also davon, ob es ihm gelingt, den ihm zugedachten Zweck (die Aufrechterhaltung der internationalen Sicherheit) effektiv zu erfüllen.

Um diese Fragen zu beantworten, haben wir untersucht, wie UN-Mitgliedsstaaten die Legitimität des Sicherheitsrats in öffentlichen Debatten in der UN-Generalversammlung bewerten. Die Zuschreibung beziehungsweise der Entzug von Legitimität in der öffentlichen Auseinandersetzung gilt als eine wichtige Praxis der Legitimation beziehungsweise Delegitimierung in der internationalen Politik. Der von uns generierte Datensatz umfasst über 1.500 evaluative Aussagen, die 117 Staaten in neun Debatten in der Generalversammlung über den Zeitraum 1991 bis 2009 äußerten. Diese Aussagen sind entweder positiv (Legitimitätszuschreibung) oder negativ (Legitimitätsentzug). Sie geben ferner Auskunft über die Quellen, aus denen sich die Legitimitätsbewertungen speisen.

Bewertungen von Staaten in einem diplomatischen Forum wie der UN-Generalversammlung sind nicht notwendigerweise aufrichtig. Es steht zu vermuten, dass auch andere - eigennützige - Interessen hinter ihren Äußerungen stehen. Ein autoritärer Staat etwa, der die undemokratischen Entscheidungsverfahren des Rats beklagt, mag andere Motive haben - etwa Ablenkung von eigenen Problemen - als die Demokratisierung des Sicherheitsrats. Für unsere Untersuchung ist das aber zweitrangig. Denn zum einen ist die öffentlich gemachte Aussage (ob nun aufrichtig gemeint oder nicht) selbst ein wichtiger politischer Akt. Zum anderen enthüllen solche Bewertungen, von welcher Art von Legitimationskriterium Staatenvertreter glauben, es verfange in besonderer Weise in der internationalen Staatengemeinschaft. Wenn also Staatenvertreter beispielsweise sehr häufig die mangelnde Transparenz des Rats hervorheben und dadurch die Legitimität des Sicherheitsrats bedroht sehen, können wir daraus Rückschlüsse auf die wahrgenommene Wichtigkeit von Transparenz ziehen.

Unsere Studie kommt zu zwei zentralen Ergebnissen. Erstens wird deutlich, dass der Sicherheitsrat unter einem erheblichen Legitimitätsdefizit leidet. In den von uns erhobenen evaluativen Aussagen überwiegen negative Legitimitätsbewertungen bei weitem. 73 Prozent der evaluativen Aussagen (1.123 von 1.531 Aussagen) der UN-Mitgliedsstaaten sind negativ. Dieses Ergebnis legt nahe, dass die Legitimität des Sicherheitsrats in den Augen der UN-Mitgliedsstaaten auf schwachen Füßen steht. Inwiefern kann ein Gremium, das weithin als illegitim angesehen wird, eine kollektive Legitimationsfunktion ausüben? Zugleich zeigen unsere Ergebnisse aber auch, dass immerhin 27 Prozent (408 Aussagen) der in den von uns untersuchten Debatten gemachten Aussagen positiv sind - und positive Aussagen kommen wohlgemerkt nicht nur von Staaten, die die Privilegien der ständigen Mitgliedschaft genießen. Das legt nahe, dass der Sicherheitsrat nicht in einer ausweglosen Legitimitätskrise steckt, sondern durchaus auf ein gewisses Maß an Legitimität zurückgreifen kann.

Aus welchen Quellen speist sich dieses Defizit? Das zweite zentrale Ergebnis unserer Untersuchung ist, dass, anders als in der Forschung zu internationalen Organisationen weithin angenommen, die Bewertung der Legitimität des Rats nicht in erster Linie an seine Leistungsfähigkeit geknüpft wird. Das Gros der negativen Bewertungen des Sicherheitsrats entfällt vielmehr auf wahrgenommene Mängel seiner Verfahren. 65 Prozent aller negativen Bewertungen beziehen sich auf die unzureichende Transparenz der Entscheidungsverfahren des Rats, auf die mangelhaften Partizipationsmöglichkeiten für Nichtmitgliedsstaaten und auf die unzureichende Rechenschaftspflicht des Rats gegenüber der Generalversammlung. Auch das Vetorecht der ständigen Ratsmitglieder wird überwiegend negativ bewertet. Kritische Bewertungen des Rats hinsichtlich seiner Leistungsfähigkeit fallen demgegenüber weniger stark ins Gewicht. Nur 24 Prozent der negativen Aussagen beklagen die Ineffektivität und Selektivität des Rats im Umgang mit Krisen und Konflikten, sein Unvermögen, die Großmächte wirkungsvoll einzuhegen oder den Schutz von Menschrechten sicherzustellen. Überraschend wenig negative Bewertungen (11 Prozent) entfallen schließlich auf die Ausdehnung des Mandats des Sicherheitsrats, der neben bewaffneten Konflikten zwischen Staaten nun auch innerstaatliche Konflikte, humanitäre Krisen, massive Menschenrechtsverletzungen oder den Sturz demokratischer Regierungen als internationale Sicherheitsbedrohungen definiert hat. Ebenso zieht der vermehrte Rückgriff des Rats auf militärische und ökonomische Zwangsmaßnahmen nur relativ wenig Kritik nach sich.

Die Ergebnisse unsere Studie haben praktische Implikationen. Die wichtigste ist: Der Rat sollte versuchen, seine Verfahren zu verbessern, da diese für die höchste Unzufriedenheit unter den UN-Mitgliedsstaaten sorgen. In der Vergangenheit erfolgten bereits kleinere Reformschritte in diese Richtung. Der Rat informiert mittlerweile besser über seine Entscheidungen und beraumt zu bestimmten Themen offene Treffen für alle interessierten Mitgliedsstaaten an. Zudem hat er sich mit den sogenannten Arria-Formel-Treffen einen informellen Rahmen geschaffen, in dem Sicherheitsratsmitglieder und zivilgesellschaftliche Akteure in Austausch treten können. Die Analyse der Debatten zeigt, dass Mitgliedsstaaten diese Verbesserungen durchaus schätzen. Zugleich ist die Reform des Rats halbherzig geblieben. Grundlegende Änderungen wie etwa die weithin geforderte Reform des Vetorechts sind auch nach mehr als 20 Jahren Reformdiskussion ausgeblieben. In den vergangenen Jahren wurden deshalb auch weniger weitreichende, aber realistischere Reformvorschläge diskutiert. So hat zum Beispiel die Idee der "responsibility not to veto" Aufmerksamkeit erhalten, wonach die fünf ständigen Ratsmitglieder auf die Ausübung ihres Vetorechts verzichten sollen, wenn Resolutionen zur Abstimmung stehen, die massive Menschenrechtsverletzungen stoppen sollen. Ein anderer Vorschlag lautet, dass die Sicherheitsratsmitglieder ihr Abstimmungsverhalten öffentlich rechtfertigen sollen. Bislang haben allerdings selbst diese niederschwelligeren Vorschläge keine Zustimmung von den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats gefunden.


Martin Binder ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Global Governance. Er interessiert sich für internationale Institutionen und internationale Sicherheitspolitik.
martin.binder@wzb.eu


Monika Heupel ist Juniorprofessorin für internationale und europäische Politik an der Universität Bamberg und war davor wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Global Governance am WZB. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit internationaler Menschenrechtspolitik, internationaler Sicherheitspolitik und der Legitimität internationaler Organisationen.
monika.heupel@uni-bamberg.de


Literatur

Binder, Martin / Heupel, Monika: "Das Legitimitätsdefizit des UN-Sicherheitsrats. Ausmaß, Ursachen, Abhilfe". In: Vereinte Nationen - Zeitschrift für die Vereinten Nationen und ihre Sonderorganisationen, 2014, Vol. 62, No. 5, pp. 202-206.

Binder, Martin / Heupel, Monika: "The Legitimacy of the UN Security Council: Evidence from Recent General Assembly Debates". In: International Studies Quarterly (forthcoming). Article first published online: 13 May 2014, DOI: 10.1111/isqu.12134.

Caron, David D.: "The Legitimacy of the Collective Authority of the Security Council". In: The American Journal of International Law, 1993, Vol. 87, No. 4, pp. 552-588.

Claude, Inis L.: "Collective Legitimization as a Political Function of the United Nations". In: International Organization, 1966, Vol. 20, No. 3, pp. 367-379.

Thompson, Alexander: "Coercion Through IOs: The Security Council and the Logic of Information Transmission". In: International Organization, 2006, Vol. 60, No. 1, pp. 1-34.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 148, Juni 2015, Seite 14-16
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. September 2015

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