Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → WIRTSCHAFT


AUSSENHANDEL/1661: Exportweltmeister Deutschland (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 1/2017

We are the Champions
Exportweltmeister Deutschland: Erfolgsmodell oder Problem für den Rest der Welt?

Exportweltmeister Deutschland
Kartenhaus oder Erfolgsmodell?

von Jürgen Maier


Deutschland ist wirtschaftlich erfolgreich, soweit man das von ganzen Ländern überhaupt behaupten kann. Die meisten Menschen erleben es so, aber viele andere auch nicht. Anzeichen für wirtschaftlichen Erfolg sind in der Regel eine Reihe von Zahlen, Bruttoinlandsprodukt, Arbeitslosenquote, und eben auch die Handelsbilanz. 2016 lag der deutsche Handelsbilanzüberschuss bei der Rekordhöhe von über 310 Milliarden US-Dollar - mehr als die weitaus bevölkerungsreicheren Staaten China (260 Milliarden) oder Japan (170 Milliarden). Umgerechnet auf alle Einwohner Deutschlands sind das pro Kopf 3.875 US-Dollar, die Sie und ich statistisch mehr exportieren als importieren. Ein einsamer Weltrekord - der Wert für China liegt bei gerade einmal 190 US-Dollar.


Dies entspricht 8,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, eine seit Jahren wachsende Zahl. Die EU-Kommission (Europäische Union) stuft bereits Werte von dauerhaft mehr als 6 Prozent als stabilitätsgefährdend ein. Deutschland liegt seit 10 Jahren ununterbrochen darüber. Die Kommission rügt die Bundesregierung daher regelmäßig und empfiehlt, mehr zu investieren und so die Nachfrage im Inland zu stärken.

Doch in Deutschland interessieren solche Rügen kaum jemanden. Stattdessen hören wir ein anderes Mantra: Niemand profitiert so vom freien Handel wie Deutschland. Wir leben vom Export wie kein anderes Land. Der Export sichert ein Viertel der deutschen Arbeitsplätze. Solche und ähnliche Argumente waren ein zentraler Bestandteil der Argumentation für TTIP in den letzten Jahren. Allzu viel Durchschlagskraft entwickelten diese Hinweise in der Diskussion nicht, obwohl sie zumindest auf den ersten Blick durchaus zutreffen. Sie sind im Übrigen viel mehr als nur Zustandsbeschreibungen, sie sind auch ein Glaubensbekenntnis: die Exportorientierung hatte für die deutsche Wirtschaftspolitik seit Kriegsende geradezu den Charakter eines Staatsziels.

Überschuss hier, Defizit dort

Aber warum ist das überhaupt interessant für einen Rundbrief, bei dem es um Umwelt und Entwicklung geht? Wenn wir die berühmte "Transformation" zu einer nachhaltigen Entwicklung, zu mehr globaler Gerechtigkeit schaffen wollen, kommen wir nicht umhin, die Grundlagen der heutigen Wirtschaftspolitik zu hinterfragen. Böse Zungen sagen, da diese Wirtschaftspolitik nicht nachhaltig sei, erledige sich das früher oder später von selbst: Das Mantra vom immerwährenden Wirtschaftswachstum war immer schon ein Wolkenkuckucksheim, und längst nähern sich die Wachstumsraten aller einigermaßen "entwickelten" Ländern immer mehr der Null an, obwohl Politik und Zentralbanken alles tun, um "das Wachstum" anzukurbeln.

Nicht ganz so einfach ist es mit den deutschen Rekordüberschüssen. Sicher ist jedenfalls, die Exportüberschüsse des einen Landes sind immer und zwangsläufig die Handelsbilanzdefizite woanders, denn die Erde insgesamt handelt nicht mit dem Mond. Die Summe der Netto-Handelsbilanzen aller Länder kann immer nur Null sein. Sicher ist auch, man kann nicht dauerhaft mehr ausgeben als man einnimmt. Also geht chronischen Defizitländern irgendwann das Geld aus und dann können sie den Überschussländern auch nichts mehr abkaufen, so dass deren Überschüsse deshalb auch irgendwann zusammenschrumpfen müssen.

Eigentlich ist es offensichtlich, dass es nicht nachhaltig sein kann, wenn ein Land Jahr für Jahr seine Exportüberschüsse in immer neue Höhen steigert - auf Kosten des Rests der Welt. Dieses Ungleichgewicht verursacht längst enorme weltwirtschaftliche Probleme. Außerhalb Deutschlands wird dies offen diskutiert. Das US-Finanzministerium prangerte schon unter Obama die deutschen Überschüsse sogar als Risiko für die weltweite Finanzstabilität an. Das Hauptargument lautet: Länder mit hohen Überschüssen tragen dazu bei, dass andere Staaten sich hoch verschulden, um ihre Importe zu finanzieren. In Deutschland findet diese Diskussion kaum statt. Die Steigerung der Exportüberschüsse ist und bleibt unbestrittene Staatsdoktrin.

Irrweg Agrarexporte

Wenn deutsche Unternehmen hochentwickelte Technologien anbieten, beste Qualität produzieren und ihre Produkte deswegen weltweit nachgefragt werden, ist das sicher ein Zeichen wirtschaftlicher Exzellenz. Dafür brauchen sie im Prinzip keine staatliche Unterstützung, das schaffen sie selbst. Anders sieht es in Branchen aus, in denen ohne staatliche Unterstützung niemals Wettbewerbsvorteile für deutsche Unternehmen entstehen würden. Das eklatanteste Beispiel ist die Agrarindustrie. Diese Branche meint mit massiver staatlicher Unterstützung, Milch, Schweinehälften und Hühnchenteile in Schwellen- und Entwicklungsländer wie China exportieren zu müssen. Dafür betreibt die EU-Handelspolitik aggressive Marktöffnung weltweit - gleichzeitig müssen wir immer mehr Bio-Produkte importieren, weil die inländische Nachfrage weit schneller steigt als das Angebot. Das ist eigentlich das Gegenteil des deutschen Wirtschaftsmodells. Andere Branchen überlassen den Preiskampf für billige Massenware den Chinesen, während wir hochpreisige Premiumsegmente abdecken. Dieser unerbittliche Preiskampf ruiniert Bauern hierzulande genauso wie in anderen Ländern. Wo sollen eigentlich Entwicklungsländer Devisen auf Exportmärkten verdienen, wenn nicht im Agrarsektor? Stattdessen ist es erklärtes Ziel der deutschen und EU-Handelspolitik, immer mehr Entwicklungsländer zu zwingen, knappe Devisen für Agrarimporte auszugeben. 110 Länder sind heute Netto-Nahrungsmittelimporteure, vor 30 Jahren waren es noch 30. Strukturelle Importabhängigkeit bedeutet Abhängigkeit von Faktoren, die man kaum kontrollieren kann. Das ist etwas anderes als vorübergehende Überschüsse oder Defizite.

Wieviel Export ist genug?

Längst untergräbt der deutsche Exporterfolg seine eigenen Grundlagen. Innerhalb der EU kann selbst Frankreich immer weniger mit der deutschen Exportmaschine mithalten. Die Gemeinschaftswährung Euro führt zu einer systematisch unterbewerteten Währung in Deutschland - Grundlage der extremen Exporterfolge - und einer systematisch überbewerteten Währung in Frankreich und Südeuropa. Damit driftet die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Eurozonen-Länder immer weiter auseinander. Frankreichs wirtschaftliche Schwäche und sinkende Kaufkraft führte 2015 erstmals dazu, dass das Land auf Platz 2 der Rangliste der deutschen Handelspartner abrutschte.

Auf Platz 1 der Liste der deutschen Handelspartner stehen jetzt die USA. Die USA sind aber das Land mit dem größten Handelsbilanzdefizit der Welt, sage und schreibe 500 Milliarden Dollar (2016). Zu welchen Verwerfungen dies führt, konnte man im US-Wahlkampf plastisch sehen. Mit keinem Land erzielt Deutschland einen so großen Exportüberschuss wie mit den USA: mehr als 40 Milliarden US-Dollar. Der scharfe Konjunktureinbruch in China zeigt deutlich, dass eine derart extreme Orientierung auf Exporte, wie sie Deutschland betreibt, durchaus nicht ungefährlich ist. Wenn allen anderen die Puste ausgeht, kaufen sie weniger. Wie nachhaltig ist es, diese Exportüberschüsse noch weiter steigern zu wollen? Wenn in prosperierenden deutschen Wirtschaftsregionen über 50 Prozent Exportanteil erreicht ist, reicht das dann nicht? Müssen es 60, 70 werden? Vielleicht ist es schon zu viel?

Das Mantra der Wettbewerbsfähigkeit

Auch die binnenwirtschaftlichen Grundlagen der extremen Exporterfolge geraten unter Druck. Maßgebliche Ursache für die hohe Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ist eine systematische Kostensenkungspolitik: Vor allem das gemessen am Rest Europas ausgeprägte Lohndumping führt zu einer Spaltung der Gesellschaft, die immer mehr Spannungen verursacht. Seit Einführung des Euro ist das Reallohnniveau in der Eurozone in Deutschland mit am langsamsten gestiegen. Ein Drittel der Menschen in Europa sind mittlerweile wirtschaftlich abgehängt in einem politisch gewollten "Niedriglohnsektor" und bilden den Nährboden für Protestbewegungen aller Art. Jahrzehntelang waren die Eliten der Bundesrepublik Deutschland davon überzeugt, dass die Exporterfolge des Wirtschaftswunderstaats die Grundlage für den Wohlstand seien. Diese Gleichung funktioniert so nicht mehr. Der Preis, der für die Exporterfolge zu bezahlen ist, übersteigt zunehmend den Nutzen. Die Zurichtung ganzer Gesellschaften auf "globale Wettbewerbsfähigkeit" zerstört den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Auch innerhalb der EU wachsen zunehmend die Zweifel angesichts der massiven deutschen Dominanz, wie lange die Gemeinschaftswährung Euro eine derart auseinanderstrebende Wirtschaft in der Eurozone noch aushält. Das Rezept des deutschen Finanzministers, Frankreich und die südeuropäischen Euroländer müssten eben mit mehr "Reformen" à l'allemande, sprich Austerität und Lohnzurückhaltung wettbewerbsfähiger werden, ist nichts anderes als der Vorschlag eines Wettlaufs nach unten. Dass Lohn- und Sozialdumping die Wettbewerbsfähigkeit erhöht, ist nicht zu leugnen - es gehört zu den Troika-Auflagen für die Euro-Krisenländer. Dieser Wettlauf nach unten ist das Gegenteil von Nachhaltigkeit.

Für den Rest der Welt wäre es vermutlich nicht schlecht, wenn die Deutschen mal ein bisschen weniger wettbewerbsfähig wären und beispielsweise mal einen kräftigen Reallohnzuwachs vorweisen könnten. Wenn die Risiken einer extremen Weltmarktabhängigkeit immer größer werden, kann es nicht schaden, wieder mehr auf regionale statt globale Wertschöpfungskreisläufe zu setzen. Nachhaltiger wäre es allemal.


Autor Jürgen Maier ist Geschäftsführer des Forum Umwelt und Entwicklung.

*

Quelle:
Rundbrief 1/2017, Seite 2 - 3
Herausgeber:
Forum Umwelt & Entwicklung
Marienstr. 19-20, 10117 Berlin
Telefon: 030/678 1775 93, Fax: 030/678 1775 80
E-Mail: info@forumue.de
Internet: www.forumue.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Mai 2017

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang