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BERICHT/232: Deutschland nach der Krise (spektrum/Uni Bayreuth)


spektrum 1/2010 - Universität Bayreuth

WEGE AUS DER KRISE
Deutschland nach der Krise
Ein Blick auf Verschuldung und Wachstum

Von Martin Leschke


Die deutsche Volkswirtschaft hat sich den düsteren Prognosen der wirtschaftswissenschaftlichen Experten bisher bravurös widersetzt. Trotz eines Wirtschaftseinbruchs um 5 % im vergangenen Jahr stieg die Arbeitslosenquote nicht wie befürchtet auf 10 % an. Sie verharrt derzeit bei einem Wert von etwa 8,5 % (nach OECD-Messung der Arbeitslosenquote ist das ein Wert deutlich unter 8 %). Die Kurzarbeiterregelung und die Konjunkturpakete waren hierfür sicherlich ausschlaggebend.

Insbesondere die konjunkturellen "Spritzen" und auch die Maßnahmen des sogenannten Wachstumsbeschleunigungsgesetzes (Erhöhung der Steuerfreibeträge für Kinder, Senkung der Steuer für Beherbergungen, Verbesserung der Abschreibungen für Unternehmen u.a.) kosten allerdings den Staat Geld. Und dieses Geld sollte derzeit den nachfragenden Bürgern und Unternehmen nicht mittels Steuererhöhungen genommen werden. Also entschied die Regierung, die Maßnahmen durch eine Erhöhung der Neuverschuldung zu finanzieren. Auf diese Weise sollten die gesamtwirtschaftliche Konsum- und Investitionsnachfrage nicht negativ beeinträchtigt, sondern im Gegenteil "angeheizt" werden. Als Folge wird allerdings die Staatsverschuldung drastisch steigen. Betrug der Schuldenstand der öffentlichen Hand (Bund, Länder und Gemeinden) vor der Krise etwa 65 % des Bruttoinlandsprodukts, so wird diese Relation (also die öffentliche Schuldenstandsquote) in den nächsten Jahren auf etwa 85 % steigen.

Die negativen Auswirkungen der hohen Staatsverschuldung liegen auf der Hand: Immer mehr Steuermittel müssen für Zins- und Tilgungszahlungen aufgewendet werden, immer weniger Mittel verbleiben für notwendige Infrastrukturmaßnahmen. Entschärft man das Problem durch eine Erhöhung der Steuersätze (Einkommensteuer, Mehrwertsteuer), so hat dies wiederum negative Folgen für die Binnennachfrage und für den Investitionsstandort Deutschland. Aus diesem Grund möchte die Bundesregierung diesen Weg nicht gehen. Sie setzt stattdessen auf eine Lösung des Verschuldungsproblems durch Stärkung der Wachstumskräfte und möchte hierzu die Steuern sogar noch einmal senken (zurzeit ist eine Steuerentlastung von etwa 16 Mrd. Euro im Gespräch).

Die Frage, die sich nun stellt, ist: Lässt sich über eine Entlastungs- und Wachstumsstrategie eigentlich die Verschuldung reduzieren? Und: Wie hoch müsste das Wachstum sein, damit dies gelingen kann?

Wachstum, also ein Zuwachs des realen Bruttoinlandsprodukts, kann auf verschiedene Art und Weise erzeugt werden: (a) durch vermehrten Arbeitseinsatz, (b) durch vermehrten Kapitaleinsatz oder (c) durch technischen Fortschritt.

Der erste Weg ist nun aber eindeutig versperrt, denn die "demografische Falle" wird auch in Deutschland in den nächsten Dekaden erbarmungslos zuschlagen. Die Kohorte derjenigen Bürger, die altersbedingt arbeiten könnten (Arbeitspotenzial), also die 15 bis 65jährigen, wird in Relation zur übrigen Bevölkerung (dem Nicht-Arbeitspotenzial, also denen unter 15 und über 65) spürbar abnehmen. Der Kehrwert, auch Abhängigkeitsquote genannt (Nicht-Arbeitspotenzial zu Arbeitspotenzial), wird mithin zunehmen, und zwar von derzeit etwa 0,5 auf über 0,75 im Jahr 2050. Folglich wird nicht nur das Arbeitspotenzial kleiner, sondern zudem werden die Versorgungsnotwendigkeiten und -ansprüche auch noch steigen.

Also bleibt nur der Weg, über höhere reale Investitionen und Humankapitalinvestitionen (mehr Bildung) sowie über eine bessere Organisation von unternehmerischen Prozessen und verstärkte Innovationen (also über technischen und organisatorischen Fortschritt) das Wachstum zu erhöhen. Doch wie hoch ist derzeit das durchschnittliche Wachstum und auf welchen Wert müsste es erhöht werden?

Das Wachstum ist seit der Phase des Wiederaufbaus und der Jahre des deutschen Wirtschaftswunders (1960er Jahre) sukzessive gefallen.

Waren bis in die 1970er Jahre noch Wachstumsraten des realen Bruttoinlandsprodukts von 4 % selbstverständlich, liegt das Trendwachstum der letzten Jahre etwa bei 1 %. Bei einer Inflationsrate von im Durchschnitt 2 % ist das nominale Durchschnittswachstum etwa 3 %, ein Wert, der geringer ist als der Zinssatz für (recht) risikolose Anleihen am Kapitalmarkt. Damit müsste Deutschland auch ohne dauernde Neuverschuldung die Steuern erhöhen, um den Schuldenstand der öffentlichen Hand zurückzuführen. Dies wäre nicht so, wenn das Wachstum höher wäre. Doch wie hoch müsste es sein, um den Schuldenstandsquote der öffentlichen Hand spürbar zu drücken? Ohne Primärüberschuss im öffentlichen Haushalt (das ist die Differenz zwischen Einnahmen aus Steuern, Beiträgen und Gebühren abzüglich der staatlichen Ausgaben) müsste das realen Wachstum im Schnitt etwa 3,3 % betragen, was einem Anstieg der Arbeitsproduktivität (dem Quotienten BIP zu Arbeitseinsatz) um durchschnittlich 4 % pro Jahr entspricht. Bei diesem - leider illusorischen - Wert würde Deutschland in gut 30 Jahren wieder beim Vorkrisenschuldenstand von 65 % landen. Doch so hoch lässt sich der Wachstumspfad nicht erhöhen. Die Wachstumsstrategie gepaart mit Steuersenkungen kann also (und dies mahnt auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung an) nicht aufgehen. Was ist mithin flankierend noch zu tun?

Natürlich ist eine Stärkung des Standorts Deutschland durch Maßnahmen wie Bürokratieabbau, Verbesserung des Gesundheitssystems oder des Arbeitslosen- und Rentensystems wichtig. Die deutsche Regierung wird jedoch nicht umhin können, die Ausgaben im Bereich der Bürokratie, der Wirtschaftsförderung (Subventionen) und auch der Sozialstaatlichkeit zu kürzen, Infrastruktur- und andere Projekte stärker anhand von Kosten-Nutzen-Analysen auszurichten und die Eigenverantwortung der Bürger zu stärken. Zudem erscheint es ratsam, dass in den nächsten 5 Jahren die Steuern nicht gesenkt, sondern angehoben werden. Aber auch wenn diese Maßnahmen entschlossen angegangen werden, wird die Staatsverschuldung nur dann (relativ zum BIP) zurückgeführt werden können, wenn die neuen strengen Verschuldungsgrenzen, die verfassungsmäßig festgeschrieben wurden, auch eingehalten werden. Danach soll der Bund seine Neuschulden bis 2016 auf höchstens 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts begrenzen. Die Bundesländer dürfen ab 2020 überhaupt keine neuen Kredite mehr aufnehmen. Für die neue verfassungsmäßige Schuldenbremse gilt aber leider auch: Wo kein Kläger, da kein Richter. Es ist mithin fraglich, ob Politiker in Parlamenten oder in der Opposition eine Klage bei Übertretung der Schuldengrenze anstreben, wenn sie davon ausgehen, über kurz oder lang in einem Bundesland in eine ähnliche Situation zu geraten. Auch eine verfassungsmäßige Festschreibung von Schuldengrenzen ist somit kein Garant für eine Schuldenbegrenzung.

Was ist vor diesem Hintergrund zu hoffen, was zu erwarten? Zu hoffen ist, dass die Regierungen von Bund und Ländern sich der schwierigen makroökonomischen Konstellation "hohe Schulden" und "ungünstige demografische Entwicklung" bewusst werden, nicht blindlings auf positive Wirkungen von Steuersenkungen oder des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes setzten, sondern stattdessen die Konsolidierung offensiv angehen. Zu erwarten ist allerdings, dass dies den gewählten Politikern nicht zufriedenstellend gelingen wird. Vielmehr ist wahrscheinlich, dass in Bereichen wie der Bildung, in denen positive Wirkungen verstärkter Investitionen erst nach Jahren sichtbar werden, Ausgaben zurückgeschraubt werden. Ebenso wird es nicht gelingen, Sparmaßnahmen nach ökonomischer Ratio einzuleiten. Aufgrund dessen werden Renten- und Pensionszahlungen in Zukunft drastisch gekürzt werden. Deutschland kann dann sogar seine Rolle als wirtschaftskräftige und innovative Nation verlieren und international nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Bleibt zu hoffen, dass dieser Fall nicht eintritt, völlig unwahrscheinlich ist er aber (leider) nicht.

Prof. Dr. Martin Leschke ist Inhaber des Lehrstuhls Volkswirtschaftslehre V/Institutionenökonomie.


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Quelle:
spektrum 1/2010, S. 9-10
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"spektrum" erscheint dreimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juli 2010