Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → WIRTSCHAFT

BERICHT/239: Häfen - Schnittstellen von Globalisierung und Armut (IntKom)


Verein für Internationalismus und Kommunikation e.V. (IntKom) - November 2009

Häfen - Schnittstellen von Globalisierung und Armut

Von Christoph Spehr


Knapp 1 Milliarde Menschen leben weltweit in Slums - in nicht befestigten, selbst errichteten, provisorischen Behausungen, in Elendsvierteln ohne geplante öffentliche Versorgung mit Strom, Wasser, Kanalisation, Straßen und öffentlichen Einrichtungen. Bis 2030 könnten es, so schätzt die UNO, knapp zwei Milliarden Menschen sein. Die übergroße Mehrheit von Slum-Bewohnern lebt in Hafenstädten: Mumbai in Indien; Karatschi in Pakistan; Durban in Südafrika; Lagos in Nigeria; Caracas in Venezuela; Lima in Peru; usw. Die UN schätzen, dass allein in Asien etwa 550 Millionen Menschen in Slums leben, während im sub-saharischen Afrika bereits die Mehrheit der Stadtbewohner betroffen ist. Die Lage in den riesigen Hafenstädten Chinas ist anders, aber dennoch angespannt: Hier existieren kaum selbst errichtete Wohnviertel, aber große Armutsviertel mit sehr schlechten Wohnverhältnissen und verfallender Infrastruktur. Das gilt inzwischen auch für Industriestaaten: Nach Schätzung der UN leben über 50 Millionen der weltweiten Slum-Bewohner in Industriestaaten. Die Übergänge zwischen sozial benachteiligten Stadtteilen, Armutsvierteln und Elendsquartieren sind fließend.


DAS ELEND DER HAFENSTÄDTE

Warum sind vor allem Hafenstädte heute die Orte, an denen Armut, Ausgrenzung und Slums am schärfsten ausgeprägt sind? Zunächst ist das enorme Wachstum der Hafenstädte zu nennen. Gerade in Ländern der Dritten Welt findet eine hohe Arbeitsmigration vom Land in die Städte statt. Wenn diese nicht durch eine entsprechende Stadtplanung aufgefangen wird, die Infrastruktur und Wohnungsbau zur Verfügung stellt, sind ungesicherte und provisorische Siedlungen und schlechte Wohnverhältnisse schnell an der Tagesordnung. Zum anderen werden gerade Hafenstädte in großem Stil umgebaut, aber eben nicht mit dem Ziel, der Mehrzahl der BewohnerInnen gute Lebensbedingungen zu bieten. Die funktionalen Anforderungen stetig erweiterter Hafenanlagen und Transportverbindungen ins Hinterland vernichten gewachsenen Wohnraum.

Der Kern des Problems liegt jedoch in der sozialen Spaltung. Die Globalisierung, deren prominenter Teil die wachsenden Hafenstädte sind, schafft Räume und Arbeitsformen, die einer gegensätzlichen Logik folgen. In den Innenstädten der Hafenstädte steigen die Bodenpreise. Raum wird knapp und teuer. Viele Stadtverwaltungen der Dritten Welt haben sich im Zuge dieser Entwicklung zur offenen Vertreibungspolitik hergegeben. Siedlungen werden geräumt und niedergerissen, um Platz für neue, teure Infrastrukturen und Bürogebiete zu schaffen. Die bisherigen BewohnerInnen werden vertrieben an den Rand der Städte, wo sie in schlechten Stadtvierteln wohnen müssen oder, wohnungslos geworden, sich selbst provisorische Siedlungen errichten. Widerstand gegen Vertreibung ist eines der zentralen Anliegen der Slumbewohner-Organisationen, die sich gebildet haben, etwa das Shackdweller-Movement in Durban, das seit Jahren gegen die Umsiedlung und Vertreibung kämpft.

Gespalten wird auch die Arbeit. Die Mehrheit der SlumbewohnerInnen ist nicht arbeitslos, ganz im Gegenteil. Ihr Einkommen reicht nur nicht aus, um sich angemessenen Wohnraum zu leisten. Die sich globalisierenden Städte erleben einen vehementen Strukturwandel, in dem traditionelle Arbeitsplätze vernichtet werden. Die neuen Festarbeitsplätze, die in Zusammenhang mit den Häfen, der Logistik und der Niederlassung zentraler Organisations- und Kommandofunktionen großer Konzerne und Banken entstehend, werden nicht mit EinwohnerInnen der Heimatstädte besetzt, sondern auf überregionalen, ja internationalen Arbeitsmärkten für Qualifizierte angeworben. Gleichzeitig entsteht ein erheblicher Arbeitsbedarf an körperlich schweren, aber wenig qualifizierten Tätigkeiten, die miserabel bezahlt werden und keine Sicherheit bieten.

Die Spaltung der Arbeit zieht sich quer durch Firmen und Sektoren. In den Häfen vertieft sich die Trennung zwischen Kernbelegschaften, die für die Sicherung der logistischen Abläufe unverzichtbar sind, und befristeten oder tageweise angeworbenen ArbeiterInnen, mit denen die Produktionsspitzen bewältigt werden und die anschließend wieder "ausgeatmet" werden, wie es in der neuen Betriebsphilosophie heißt. Prekäre Beschäftigungen entstehen im Reinigungs- und Bewachungssektor. Der internationale Konkurrenzdruck treibt die Löhne in einigen wenigen Bereichen nach oben, wo spezielle Anforderungen gestellt sind und die Nachfrage größer ist als das Angebot entsprechend qualifizierter Kräfte, die auf internationalen Arbeitsmärkten geworben werden. In den meisten Bereichen treibt der Konkurrenzdruck die Löhne nach unten, weil Arbeitslosigkeit und Arbeitsmigration in die Städte eine hinreichende Reservearmee zur Verfügung stellen, die um jeden Preis auf Arbeit angewiesen ist.

Die Globalisierung löst die nationalen Grenzen auf und schafft neue Grenzen: Zwischen transnationalen Räumen, in denen die Kernfunktionen der Organisation, Kommunikation und Entwicklung für die globalen Produktionsprozesse angelagert sind, und nationalen Räumen, die zunehmend als Reservoir prekärer Arbeit und ausgelagerter Produktionsketten fungieren. Die Grenze läuft mitten durch die Hafenstädte und trennt Arm und Reich, teure Stadtteile und Elendsviertel, eine neue globale Bourgeoisie und ein neues globales Proletariat.

Die ökonomische Konzentration auf die transnationalen Räume und den globalen Handel, der zum gespaltenen Boom der Hafenstädte führt, führt gleichzeitig zur ökonomischen Entleerung des Hinterlands. Die Senkung der Transportkosten vernichtet vormals profitable einheimische Produktionszweige - nicht nur in Industrieländern, sondern auch in Entwicklungsländern. So hat der massenhafte Export von Geflügelabfällen aus den Geflügelfarmen der EU nach Westafrika die dortige bäuerliche Produktion schwer geschädigt, da lokale Produkte preislich nicht mit den "Abfall"-Importen konkurrieren können. Dem "Pull" der Hafenstädte, die zwar prekäre und unstetige, aber immerhin Arbeit bieten, entspricht der "Push" des Hinterlands, dessen lokale und nationale Produktion im Hyperraum des Welthandels unter Druck gerät und Arbeitskräfte frei setzt. Die Migration in die Städte und die Strukturveränderung der Wirtschaft müsste von massiven Investitionen in soziale Infrastruktur, Qualifizierung und soziale Sicherheit begleitet werden. Dies findet jedoch nicht statt. So bleiben die Profite auf der einen Seite, die Armut auf der anderen.


DIE VERÄNDERUNG DER ARBEIT

Die Arbeitslosigkeit, die alle Hafenstädte kennzeichnet, ist eine Folge des unorganischen und nicht nachhaltigen Wachstums und der Spaltung der Arbeit. Die historisch notwendige Verkürzung der Arbeitszeiten mit zunehmender Automation und Intensivierung der Arbeit wird abgeblockt bzw. wurde nicht vorangetrieben. Die unzähligen Bedarfe, die durch den Strukturwandel entstehen - vom Wohnungsbau und der Anlage von Infrastruktur, über öffentliche Einrichtungen und Dienstleistungen, bis hin zu Bildung, Integration und Partizipation - werden schlicht nicht erfüllt. Theoretisch wäre genug zu tun für alle, es wird jedoch nicht bezahlt. Hier schlägt sich die weltweite Überforderung der Staaten nieder, unter den Bedingungen einer internationalisierten Produktion und globaler Standortkonkurrenz sicherzustellen, dass die notwendigen gesellschaftlichen Aufgaben durch angemessene Steuern auf Gewinne und Vermögen bezahlt werden können. Weltweit sind Steuern und Abgaben immer weiter gesenkt worden. Die Hafengebühren sind in keiner Weise ausreichend, auch nur die Kosten der Hafenerhaltung und stetigen Erweiterung zu tragen, geschweige denn soziale Ausgleichsmaßnahmen und eine Bewältigung des Strukturwandels zu finanzieren. Während der maritime Handel und die Logistikindustrie boomen, verarmen die Hafenstädte.

Positive Ansätze konnten sich meistens nicht halten in den zurückliegenden Jahren. Die Hafengesellschaft "Japdvena" in Puerto Limon, dem wichtigsten Containerhafen Costa Ricas, finanzierte eine Vielzahl von Investitionen in Bildung, Gesundheitswesen und öffentliche Infrastruktur, als Beitrag zu einer sozialen Bewältigung des Strukturwandels. Inzwischen ist die Hafengesellschaft privatisiert, die entsprechenden Programme sind zum Erliegen gekommen.

Einige Hafenstädte, vorrangig diejenigen in den Industrieländer, aber auch einige in den Schwellenländern, haben die Förderung der sogenannten "kreativen Industrien" betrieben, um den Strukturwandel zu bewältigen. Diese Produktionsbereiche, in denen vorwiegend "immaterielle" Güter hergestellt werden - Software, Designs, Kultur, Wissenschaft, Kommunikation, Werbung, Internet-Plattformen usw. - sind vorwiegend in den gleichen transnationalen Räumen angesiedelt, bzw. an ihrer Grenze. Die Strategie der Förderung der "creative industries" nahm von London und Amsterdam ihren Ausgang und erfasste nach und nach alle Hafenstädte. Auch in Entwicklungs- und Schwellenländern sind die Hafenstädte das Zentrum kultureller Veränderung und einer neuen Gruppe von ArbeiterInnen, die in den "kreativen" Bereichen tätig sind und für die ansässigen multinationalen Konzerne eine wichtiges Reservoir an intellektueller Arbeitskraft darstellen.

Bislang ist die kreative Arbeit jedoch eine Branche, in der Prekarisierung und Spaltung der Arbeit besonders weit auf die Spitze getrieben sind. Entregelte Arbeitszeiten, unregelmäßige Bezahlung, Unvereinbarkeit von Arbeit und Familie prägen die Situation der KreativarbeiterInnen ebenso wie die Notwendigkeit, erhebliche Investitionen in eigene Produktionsmittel zu tätigen - von der individuellen Ausstattung mit Computern und Kommunikationsmitteln bis zum Erhalt der eigenen Qualifikation durch Bildung, Vernetzung, Teilnahme an Veranstaltungen und Workshops usw. Wenigen Festangestellten in Institutionen und Firmen steht ein Heer von prekär Beschäftigten gegenüber. Während in den Kernbelegschaften mühsam Fortschritte in Sachen Gleichberechtigung, interkultureller Öffnung und Vereinbarkeit von Beruf und Familie gemacht wurden - die in den letzten Jahren alle unter Druck gerieten und teilweise abgebaut wurden - ist der prekäre Bereich von "urwüchsigen", "spontanen" Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen, Einheimischen und MigrantInnen, Nordländern und Südländern, Ausgebildeten und (qualifikationsmäßig) "Papierlosen" geprägt. Das Ausmaß dieser Ungleichheit ist krass, und sie wird durch keinerlei gesetzliche Regulierungen und sozialstaatliche Ausgleichsmaßnahmen gemildert, wie das für die Fabrikarbeit im Fordismus erreicht wurde.

Entsprechende Antworten auf die soziale Frage im 21. Jahrhundert - die sich vor allem als Prekarisierung und Spaltung der Arbeit, als Entsicherung von Integration und Zugang, sowie als Zerfall des Staates als Akteur von Entwicklung, Infrastruktur und sozialer Sicherung stellt - gibt es bislang kaum. Für viele Probleme gibt es noch nicht einmal Forderungen.

In gewissem Sinn lassen sich auch die Slums als eine Form "kreativer Vergesellschaftung" lesen. Wo öffentliche Aufgaben versagen, findet Selbstorganisation statt. Ohne öffentliche Unterstützung, ohne Sicherheit vor Räumung, ohne Sicherheit von Einkommen, Versorgung und Dienstleistungen, bleibt diese Selbstorganisation jedoch prekär, und damit auch der Status von Gesellschaftlichkeit und Lebensumständen. Die Verbesserung der Lebenssituation, der gesellschaftlichen Teilhabe und der Chancengleichheit von SlumbewohnerInnen erfordert daher öffentliche Programme, die ausfinanziert sind, aber in der Zusammenarbeit mit den Betroffenen und ihrer Selbstorganisation entwickelt und umgesetzt werden.

Die UNO schätzt, dass etwa 18 Milliarden Dollar jährlich notwendig wären, um die schlimmsten Missstände in den weltweiten Slum-Siedlungen zu beseitigen und ihr weiteres Anwachsen zu verzögern. Der weltweite Umsatz der Containerschifffahrt beläuft sich auf etwa 100 Milliarden Dollar. Der Gesamtumsatz der Schifffahrt beläuft sich auf ein Mehrfaches. Weltweit werden jährlich Güter im Wert von ca. 13 Billionen Euro exportiert, fast ein Drittel davon allein von Deutschland, China und den USA. Eine Umsatzsteuer von 18 Prozent auf den maritimen Containerhandel wäre also ausreichend, um die schlimmsten Folgen des ungeregelten und unabgefederten Strukturwandels in den Hafenstädten zu bekämpfen. Eine internationale Exportbesteuerung von nur 1 Prozent würde 130 Milliarden Euro jährlich zur Verfügung stellen, um öffentliche Versorgung und soziale Infrastrukturen vor allem in Entwicklungsländern zu fördern.


Literatur
Monika Alisch, Jens Dangschat: Die solidarische Stadt. Ursachen von Armut und Strategien für einen sozialen Ausgleich, Darmstadt 1993.
Robert Castel, Klaus Dörre (Hrsg.): Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts, Frankfurt 2009.
Jens Dangschat: Modernisierte Stadt, gespaltene Gesellschaft. Ursachen von Armut und sozialer Ausgrenzung, Wiesbaden 1999.
Mike Davis: Planet der Slums, Hamburg 2007.
Richard Florida: Cities and the Creative Class, New York 2005.
Thomas von Freyberg: Der gespaltene Fortschritt. Zur städtischen Modernisierung am Beispiel Frankfurt am Main, Frankfurt 1996.
Manfred Füllsack (Hrsg.): Verwerfungen moderner Arbeit. Zum Formwandel des Produktiven, Bielefeld 2008.
Saskia Sassen: The Global City, Princeton 2001.
Task Force on Improving the Lives of Slum Dwellers: A Home in the City, London 2005.
UN Habitat: The Challenge of Slums. Global Report on Human Settlements 2003, New York 2006.

Autor Christoph Spehr arbeitet mit im "Verein für Internationalismus und Kommunikation" und hat sich an der Organisation des Projekts "Wem gehört das Meer?" beteiligt.
KONTAKT: verein.intkom@gmx.de


*


Quelle:
Wem gehört das Meer?, S. 34 - 37
Eine Informations- und Bildungsbroschüre zur Meerespolitik 11/2009
Herausgeber und Redaktion:
Verein für Internationalismus und Kommunikation e.V.
Bernhardstraße 12, 28203 Bremen
Telefon: 0421/720 34, Fax: 0421/307 46 65
E-Mail: verein.intkom@gmx.de
Internet: www.intkom.info


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. September 2010