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BERICHT/304: Die Weltwirtschaft zum Jahreswechsel 2012/2013 (lunapark21)


lunapark 21, Heft 20 - Winter 2012
zeitschrift zur kritik der globalen ökonomie

Das Thelma & Louise-Moment
Die Weltwirtschaft zum Jahreswechsel 2012/2013

von Winfried Wolf



Im ersten Quartal 2008 kam es in den klassischen kapitalistischen Zentren Nordamerika, Westeuropa und Japan zu einem wirtschaftlichen Absturz. Trotz höchst unterschiedlicher Ausgangspositionen erlebten diese Ökonomien einen weitgehend synchronen Einbruch von mindestens vier und bis zu acht Prozent. Der Welthandel brach um mehr als 15 Prozent ein. Die Entwicklung - auch die Paarung Finanzkrise als Auftakt 2007 und Krise der "Realwirtschaft" in der Folge - war mit derjenigen von 1929-1930 vergleichbar.

Grafik 1 veranschaulicht die letzten Aufschwungsmonate im Jahr 2007, die Jahre des Absturzes und den neuen Aufschwung. Anders als in der historischen Weltwirtschaftskrise von 1929-33 und mit als Resultat der Aufarbeitung der Erfahrungen in derselben, kam es in der neuen Krise, vor allem nach dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers im September 2008, zu umfangreichen Stabilisierungsmaßnahmen in Form von Subventionen und Garantien für den Bankensektor und von Konjunkturprogrammen. Nach Angaben der UN-Organisation UNCTAD wurden dabei im Zeitraum 2008 bis 2010 bis zu 5 Billionen US-Dollar, überwiegend öffentliche Mittel, aufgewandt. Das entsprach rund 8 Prozent des weltweiten BIP. Es waren ganz offensichtlich diese historisch einmaligen Injektionen in die Weltwirtschaft, die den Absturz stoppten und eine Wende brachten. Bereits Ende 2009 setzte ein neues, bis 2011 sich fortsetzendes Wachstum ein. Die USA benötigten bis Mitte 2010, um wieder das BIP-Niveau des ersten Quartals 2007 zu erreichen. Die Eurozone tippte erst Mitte 2011 - nach zweieinhalb Jahren - wieder an dieser Grundlinie an. Großbritannien und Japan erholten sich nie von dem "Konjunkturschlag"[1] und erreichten bisher nicht mehr das BIP-Niveau von vor der neuen Krise.


Neue Krise

In zwei der drei großen kapitalistischen Regionen ist die Aufholjagd zum Erreichen des Vorkrisenniveaus nicht nur beendet. Es kam erneut zu einer Kehrtwende: Großbritannien befindet sich seit Mitte 2011 in einer neuen Rezession. Die Eurozone bewegt sich seit Ende 2011 in dieselbe Richtung: abwärts. Die japanische Ökonomie, die 2008/2009 am tiefsten gefallen war und die im ersten Halbjahr 2011 als Folge eines Tsunamis und der atomaren Katastrophe von Fukushima einen erneuten Einbruch erlebte, befindet sich - nach einem drei Quartale währenden Zwischenhoch - seit Mitte 2012 erneut in einer Rezession.

Im übrigen wird in der Grafik das um die Inflation bereinigte Bruttoinlandsprodukt abgebildet. Teil desselben ist jedoch bereits der - aufgeblähte - Finanzsektor. Beschränkt man sich auf die materielle Produktion, die industrielle Fertigung, dann liegen alle Ergebnisse weiterhin im roten Bereich. Im Euroraum liegt die industrielle Produktion Ende 2012 noch um 10 Prozent unter dem Niveau von 2007. In Deutschland bewegt sie sich Ende 2012 um 5 Prozent unter dem Höchstand, der 2007/2008 erreicht wurde.


USA: Das Thelma & Louise-Moment

Die USA sind auch nach der Krise und trotz des gewaltigen fortgesetzten Wachstums der chinesischen Ökonomie die größte Wirtschaftsmacht. Nur 4,5 Prozent der Weltbevölkerung, aber 19 Prozent des weltweiten BIP konzentrieren sich auf die Vereinigten Staaten. Zum Vergleich: Der Euroraum und China bringen es jeweils auf (zufällig das gleiche Niveau von) 14,3 Prozent.[2]

Der Wiederaufschwung in den USA erscheint beim Blick auf die Grafik zunächst beeindruckend. Ende 2012 liegt dort das BIP wieder um 5 Prozent über dem Niveau des ersten Quartals 2007. Gemessen am Höchststand zuvor - 2008 - sind es allerdings nur noch rund 2,5 Prozent mehr.

Die industrielle Produktion erreichte 2012 wieder das Vorkrisenniveau. Ende 2012 ist allerdings erneut "von einem Zustand der Stagnation" die Rede.[3] Eine enorme Unsicherheit geht von der Frage aus, ob es zu einem neuen Kompromiss zwischen Demokraten und Republikanern kommt, um die "fiskalische Klippe" zu umschiffen: Anfang 2013 laufen Steuererleichterungen aus und setzen automatische Ausgabenkürzungen ein - sofern die Politik nicht einschreitet. Diese automatischen Kürzungen waren beschlossen worden, weil sich der Kongress im Sommer 2011 nicht auf einen nachhaltigen Plan zur Anhebung der Schuldengrenze einigen konnte. Selbst wenn es noch zu einem neuen Kompromiss zwischen Demokraten und Republikanern kommt, so werden die Staatsschulden bald erneut die gesetzliche Obergrenze erreichen. Mittelfristig wird die immense öffentliche Verschuldung auch in den USA - trotz des Wahlsiegs von Obama - dazu führen, dass die öffentlichen Ausgaben in größerem Umfang gekürzt und die Konjunktur abgewürgt wird. Das ist keine ökonomisch-logische Folge, sondern vor allem der Logik der Hegemonie des Finanzsektors geschuldet.

In der Financial Times beschrieb Edward Luce die Situation mit dem Bild aus der Schlussszene des Road-Movies "Thelma & Louise": Der Wagen - die US-Wirtschaft - steht am Abgrund. Die beiden auf den vorderen Sitzplätzen - anstelle des Pärchens Thelma und Louise ein Demokrat und ein Republikaner - klatschen sich nochmals ab, geben Gas ­... und rasen über die Klippe...[4]

Thomas Fricke bilanzierte die Situation in den USA in einem Vergleich mit 1929 wie folgt: "Dass die Weltkonjunktur in den Monaten nach dem Lehman-Schock ähnlich einbrach wie 1930, lässt erahnen, was zu befürchten war und nicht eingetreten ist. Amerikas Industrie hat einen großen Teil der Verluste von 2009 wettgemacht. Die Leistung der US-Wirtschaft erreichte 2011 wieder Vorkrisenniveau. Dafür brauchte es nach 1929 eineinhalb Jahrzehnte. Die Arbeitslosenquote stieg zwar, blieb aber weit unter den 25 Prozent von 1933 - und ist seitdem auf gut acht Prozent gefallen. Immerhin."[5]


China und die Gruppe der Schwellenländer

Gelegentlich wird argumentiert, China und die gesamte Gruppe der Schwellenländer seien von der wirtschaftlichen Krise nicht oder nur am Rande berührt. Das trifft bei einem bloßen Blick auf das Bruttoinlandsprodukt zu. Um den fragilen Charakter des Wachstums in den verschiedenen Schwellenländern zu untersuchen, wären mehrere Einzelanalysen - etwa zu Brasilien, Indien und Russland - erforderlich. Wir beschränken uns in diesem Spezial auf China. Die innere Labilität der Situation dort wird im Beitrag von Tomasc Konicz beschrieben. Es gibt in China selbst prominente Stimmen, die von einer enormen Labilität des chinesischen Finanzsektors ausgehen. Die Financial Times schreibt über die schwindelerregende Ausweitung des Kreditvolumens der - kaum regulierten - Schattenbanken, die just im Verlauf der weltweiten Krise, seit 2008, stattfand. Das Blatt zitiert dabei Xiao Gang, den Vorsitzenden der großen Bank of China im Blatt China Daily schrieb: "Grundsätzlich handelt es sich hier (bei den Schattenbanken-Krediten) um eine Ponzi-System. Die Kapelle könnte ihr Spiel beenden, wenn die Investoren das Vertrauen verlieren."[6]

Die Weltwirtschaft hängt inzwischen nicht nur hinsichtlich des Finanzsektors von China ab. Auch die materielle Weltproduktion wurde binnen weniger Jahre von China abhängig. Laut IWF ist China inzwischen für 78 Länder der primäre oder der zweitwichtigste Handelspartner. Diese Länder stehen für 55 Prozent des Welt-BIP. Vor einem Jahrzehnt waren es erst 13 Länder mit insgesamt 15 Prozent des Welt-BIP. In einzelnen Sektoren ist die Abhängigkeit um ein Vielfaches größer. Chinas Anteil an den globalen Importen von Eisenerz stieg von unter zehn Prozent in den frühen 1990er Jahren auf jetzt mehr als 65 Prozent.

Das Argument, nicht "die Weltwirtschaft" sei von der Krise betroffen, sondern "nur" die klassischen - "alten" - kapitalistischen Länder, mag nur bedingt überzeugen. In den von der Krise direkt betroffenen Ländern Nordamerikas, Europas und in Japan leben zwar nur rund 20 Prozent der Weltbevölkerung. Doch diese Länder vereinigen immer noch mehr als die Hälfte des globalen BIP und gar zwei Drittel der Weltexporte auf sich. Das heißt: Wenn diese "alte kapitalistische Welt" sich in der Krise befindet, ist die gesamte Weltwirtschaft davon betroffen.


Top-Krisenfaktor Eurozone

Die Eurozone befindet sich seit dem vierten Quartal 2011 erneut in einer Rezession - und zwar als gesamter Wirtschaftsraum und damit trotz eines 2011 und 2012 noch vorhandenden Wirtschaftswachstums in den Eurozonen-Ländern Deutschland, Frankreich, Österreich, Finnland, in der Slowakei, Luxemburg und Malta. Die sogenannten Peripherieländer (Griechenland, Spanien, Portugal und Zypern) und die Niederlande befinden sich 2012 bereits in der Rezession; das Peripherieland Irland in einer Stagnation. Die fünf Peripherieländer bringen es immerhin auf 17,1 Prozent Anteil am Eurozonen-BIP.

Ende 2011 rutschte auch Italien in die Rezession. 2012 liegt hier der BIP-Rückgang bei 2 Prozent. 2013 wird für Italien ebenfalls zum Krisenjahr. Damit aber betrat ein Schwergewicht den Eurozonen-Krisenkreis. Mit Italien erhöht sich der Anteil, den diese Rezessionsländer am Euroland-BIP einnehmen, von 17,1 auf 33,7 Prozent (jeweils noch ohne die Niederlande, die zusätzliche 6,5% auf die Waage bringen). Einiges spricht dafür, dass auch Frankreich, das 2012 beim BIP-Wachstum gerade mal eine schwarze oder rote Null schrieb, 2013 in eine Rezession gerät. Das französische BIP entspricht bereits 21 Prozent des Euroraum-BIPs.

Ganz offensichtlich steht die deutsche Ökonomie, in engem Verbund mit der österreichischen, mit dem 2012 noch gegebenen bescheidenen Wirtschaftswachstum (von rund 0,7%) ziemlich einsam da. Die Bundesbank senkte dann im Dezember die Prognose für das Jahr 2013 auf 0,4 Prozent, was als Stagnation bezeichnet werden kann. Damit wird die Wirtschaftskrise in der Eurozone zu einem zusätzlichen Sprengsatz für den Erhalt der Eurozone selbst (siehe den Beitrag von Lucas Zeise).

"There will be not a Staatsbankrott", so jüngst der deutsche Finanzminister Schäuble in Fach-Denglisch.[7] Damit spielte er zu diesem Zeitpunkt auf die veränderte deutsche Haltung in Sachen drohende Griechenland-Pleite an. Das Problem dürfte jedoch nicht Griechenland sein - ein solches Land (und darüber hinaus auch Portugal) in der Eurozone zu halten, ist finanzierbar. Bereits die absehbare Zuspitzung der Strukturkrise in Spanien wird jedoch die Rettungsschirme - die gemessen an den zu überspannenden Risiken eher Knirpse sind - überfordern. Von einem Krisenfall Italien ganz zu schweigen.


Risiko Finanzsektor

Jüngst präsentierte das Forschungsunternehmen Prognos eine Studie zu der Frage, welche Folgen ein "Euroaustritt südeuropäischer Länder" haben würde. Ergebnis: Dies könne "eine Weltrezession und ein bis 2020 kumulierender Verlust an Wachstum von 17 Billionen Euro in den 42 größten Ländern der Erde auslösen - also fast ein Drittel der Weltwirtschaftsleistung."[8] Man mag skeptisch hinsichtlich der Methoden sein, wie das Institut zu einer derart "präzisen" Berechnung der Krisenfolgen gelangte. Die Grundaussage, dass ein Aufbrechen der Eurozone enorme Gefahren für die labile Weltkonjunktur mit sich bringt, ist zweifellos richtig. Spannend ist in diesem Fall der Auftraggeber der Studie: Es ist die Bertelsmann-Stiftung, einer der wichtigsten Think Tanks des deutschen Kapitals.

Die maßgeblichen Kreise in Deutschland sind sich - zumindest inzwischen - durchaus darüber im Klaren, wie gefährlich ein Auseinanderbrechen der Eurozone ist - welche Krisendynamik damit ausgelöst und beschleunigt werden würde. Dennoch setzt die Bundesregierung, unterstützt von den Unternehmerverbänden, gegenüber den Krisenländern in der Eurozone auf eine unnachgiebige Sparpolitik, mit der sich die Krise und damit die Gefahr des Auseinanderbrechens der Eurozone verstärken muss. 2008 waren sich noch viele Ökonomen und einige Top-Leute in der bürgerlichen Politik darin einig, dass "die Fehler aus der Weimarer Republik" nicht wiederholt werden dürften, dass man vor allem "sich nicht in die Krise hinein sparen" dürfe. Der IWF hat auch eine Reihe Studien veröffentlicht, die dokumentieren, dass eine Austeritätspolitik in der Krise die Krise vertiefen und auch die Staatsschuld erhöhen muss - das Gegenteil dessen, was als Ziel genannt wird.[9]

Warum also diese kontraproduktive und perspektivisch selbstmörderische Politik? Eine Erklärung mag Ignoranz und deutsche politische Tradition sein - u.a. die Tradition der Bundesbank (siehe den Beitrag von Karl Heinz Roth). Allerdings wird die bittere neoliberale Austeritätsmedizin inmitten der Krise inzwischen fast überall auf der Welt verschrieben - auch vom IWF (so im Rahmen der Troika-Rezepturen). Es dürfte aber eine Erklärung geben, die etwas mit strukturellen Veränderungen zu tun hat.

Im Verlauf des letzten Zyklus (2001-2007) erhöhte sich das Gewicht des Finanzsektors in der Weltökonomie massiv. Gleichzeitig wurde der Banken- und Börsensektor dereguliert, das heißt, bestehende Kontrollmechanismen wurden beseitigt. Es entwickelte sich ein weltweites System von Schattenbanken. Auf dem Höhepunkt der Krise, nach dem Crash von Lehman Brothers, schien es einige Wochen die Chance auf eine Wende - auf eine Reregulierung des Finanzsektors und auf eine größere öffentliche Einflussnahme und Kontrolle desselben - zu geben. Doch das Gegenteil fand statt. Angesichts der Art und Weise, wie die einzelnen Bankenrettungsprogramme in den USA, in Großbritannien und in Deutschland im Sommer 2008 beschlossen wurden, wer die entsprechenden Gesetzestexte formulierte und wie sie durch die Parlamente geschleust und gepeitscht wurden, kann davon gesprochen werden, dass damals in diesen der Ländern (und anderswo) eine Art Banken-Putsch stattfand. Der US-amerikanische Ökonom Michael Hudson - zugleich ein ehemaliger Broker der Chase Manhattan Bank - schrieb 2008: "Über Nacht haben das US-Finanzministerium und die Fed den Charakter des US-amerikanischen Kapitalismus verändert. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um einen Putsch derjenigen Klasse, die FDR (US-Präsident Franklin D. Roosevelt) als 'Bankster' bezeichnet hatte."[10]

Über das Zustandekommen des deutschen Bankenrettungsprogramms schrieb die Süddeutsche Zeitung, hier sei "eine Art Komitee zur Rettung der deutschen Banken" tätig geworden, dem u.a. der Deutsche Bank-Chef Josef Ackermann und Staatssekretär Jörg Asmussen angehörten. Asmussen wirkte bereits 2003 als hoher Beamter im Finanzministerium als treibende Kraft bei der Legalisierung von Kreditverbriefungen (ABS), die inzwischen einen großen Bestandteil an den toxischen Papieren ausmachen. Aufgrund seiner unschätzbaren Verdienste für das Finanzkapital wurde Asmussen Anfang 2012 in das Direktorium der Europäischen Zentralbank entsandt.

Seit vier Jahren heißt es, man werde die Kontrollen über den Bankensektor verstärken. Das Gegenteil findet statt. Der weltweite Finanzsektor ist so dereguliert und unkontrolliert wie 2007/2008 - und noch übermächtiger als damals. Nüchtern bilanziert die Börsenzeitung: "Die G20-Staaten bezifferten jüngst das Volumen der Nichtbanken, die am weltweiten Geldkreislauf mit Kredit und Liquidität teilnehmen, auf 67 Billionen Dollar. Zum Start der Krise, für die die Schattenbanken mit verantwortlich gemacht wurden, waren es 62 Billionen Dollar. Vor zehn Jahren 26 Billionen."[11] Der fast völlig unkontrollierte Schattenbankensektor kommandiert danach ein Viertel der Vermögenswerte im weltweiten Finanzsystem. Wobei die "normalen" Banken, die die Hälfte dieser Werte auf sich vereinen, und die großen Versicherungen und Pensionsfonds, die für weitere 20 Prozent verantwortlich zeichnen, inzwischen ähnlich unkontrolliert agieren.


Schuldenkrise - wessen Schulden?

Die Macht des Finanzsektors wuchs seit Beginn der Krise 2008 vor allem auch durch den Anstieg der öffentlichen Schulden. In der neuen IWF-Studie World Economic Outlook findet sich ein umfangreiches Kapitel über die Entwicklung der weltweiten öffentlichen Verschuldung in den vergangenen 100 Jahren. Die Untersuchungen werden in einer Grafik gebündelt (siehe Seite 34 der Druckausgabe), die die Entwicklung der öffentlichen Schulden in den Industrieländen als Anteil am BIP wiedergibt.

Die wesentlichen Aussagen in der IWF-Studie lauten: Die öffentlichen Schulden als Anteil am Bruttoinlandsprodukt erreichen wieder ein historisches Rekordniveau, wie es dies nur direkt im Zweiten Weltkrieg und in den ersten Jahren danach gab. Ein Abbau dieses Schuldenniveaus sei nunmehr dringend erforderlich. Die Mittel, die für eine solche "Konsolidierung der Staatsfinanzen" genannt werden, sind überwiegend die bekannten, wie sie auch von der Troika gegenüber Griechenland, Portugal, Irland und Spanien vorgeschlagen bzw. durchgesetzt werden. Verbal wird allerdings auch argumentiert, dass es parallel zur Konsolidierung "Maßnahmen zur Unterstützung des Wachstums" geben solle.

Zwei Aspekte fehlen komplett im 25-seitigen Kapitel der IWF-Analyse: erstens die Möglichkeit eines Schuldenabbaus durch massive Besteuerung von Profiten, Vermögen und hohen Einkommen. Und zweitens der Hinweis darauf, wann genau und wodurch die öffentlichen Schulden in jüngerer Zeit derart anstiegen. In beiden Fällen ist die IWF-Analyse schlicht "Klassenkampf von oben durch Einsatz von Pseudowissenschaft".

Zum ersten Aspekt. Wissenschaftlich korrekt wäre die Feststellung, dass Lohnsenkungen und Sozialabbau in eine Krise hineinführen oder eine bestehende Krise verschärfen - dass in einem solchen Fall die Verschuldung weiter wächst und dass sich eine Spirale nach unten entwickelt - siehe Griechenland. Dass aber eine Besteuerung großer Vermögen, hoher Einkommen und großer Profiten nicht nur die staatlichen Einnahmen anhebt und die Defizite senkt, sondern auch die spekulativen Tendenzen dämpft und die Massennachfrage stärkt.

Zum zweiten Aspekt. Wissenschaftlich korrekt wäre der Verweis darauf, dass der Anstieg der Verschuldung zwischen 1998 und 2005 erheblich reduziert wurde und dass der sprunghafte Anstieg des Verschuldungsgrads im Gefolge der Krise ab 2007 eintrat. Insbesondere wäre dann darzulegen, dass in dieser neuen Krise die verstärkten öffentlichen Ausgaben (bei gleichzeitig teilweise schrumpfendem BIP) in erster Linie durch Bankenrettungsprogramme zustande kamen - im übrigen ein zusätzliches Argument dafür, die Besteuerung insbesondere des Finanzsektors drastisch zu erhöhen und zumindest teilweise öffentliche Gelder zurückzuholen, die in diesen (überwiegend privaten) Sektor flossen.

Unter den gegebenen Bedingungen schwächt die hohe und teilweise weiter steigende öffentliche Schuld die Staaten und "die Politik" - zumal wenn in der veröffentlichen Meinung die aktuelle Krise als eine "Staatsschuldenkrise" dargestellt wird. Die vor und in der Krise massiv gestärkten Finanzinstitute wiederum können in diesem Kontext ihre Macht weiter ausbauen - und ihre auf Spekulation und kurzfristige Profite ausgerichtete Geschäftspolitik durchsetzen - als eine Art Begleitkompanie der Troika. Wie hieß es im Zweiten Weltkrieg: "Gleich hinter'm ersten Tank, kommt die Dresdner Bank".

Inzwischen haben wir mehr denn je eine Situation, in der die herrschende Politik von den Interessen der Finanzinstitute bestimmt wird - die wiederum, wie Werner Rügemer dokumentierte, einen großen Teil der Konzerne, die im Bereich der materiellen Produktion engagiert sind, kontrollieren.[13] Der US-Ökonom James Galbraith geht davon aus, dass eine Gesellschaft umso ungleicher und undemokratischer ist, je mächtiger die Finanzinstitute sind: "In einem einigermaßen funktionierenden Land muss die Regierung stärker sein als die Banken. Die Banken dürfen die Regierung nicht in der Tasche haben."[14]

Doch es ist genau so, wie es nicht sein sollte. Die Regierungen befinden sich in der Tasche der Finanzinstitute, in den Aktenköfferchen der Banksters. Der direkte Zugriff des Finanzsektors auf die Politik - allgemeiner gesagt: die ausschließliche Orientierung dieser Politik auf kurzfristige Profitmaximierung - ist ruinös und selbstzerstörerisch; die "Banken wirken als Motoren des Niedergangs", wie es Galbraith formulierte.

Oder auch: Mit der absoluten Dominanz der Finanzmacht über Gesellschaft und Politik wird das beschriebene "Thelma & Louise-Moment" in der gesamten Weltwirtschaft vorherrschend.


Bilanz

Vor knapp fünf Jahren, in der ersten Ausgabe von Lunapark21, schrieben wir, dass es einen "Schwelbrand" in der Weltwirtschaft gibt. Dieses Bild griffen wir immer wieder auf und argumentierten, wie dieser Schwelbrand im Gebäude der Weltökonomie von einem Raum auf den anderen übergreifen und am Ende das gesamte Gebäude in Flammen zu setzten droht. Am Ende würde sich erweisen, dass wir eine neue Weltwirtschaftskrise erleben. Aus deutscher (oder österreichischer und Schweizer) Sicht kam einiges weniger schlimm als erwartet. Gleichzeitig aber kam auch manches weit dicker als gedacht: Kaum jemand hatte beispielsweise eine Entwicklung auf dem Schirm, wie wir sie in Griechenland und Spanien erleben. Und niemand sprach 2008/2009 von der Möglichkeit, dass die Eurozone als Folge der Krise in eine Zerreißprobe geraten könnte.

Das Bild vom Schwelbrand erweist sich ebenso als zutreffend wie die Feststellung, dass wir seit dem Beginn der Finanzkrise in den USA 2007 unterschiedliche Phasen ein und derselben Krise - einer neuen Weltwirtschaftskrise - erleben.


Anmerkungen:

[1] Heft 1 von Lunapark21 (Februar 2008) hatte den Titel "Vorsicht Konjunkturschlag! Von einstürzenden US-Neubauten zur weltweiten Rezession".

[2] Angaben in der Regel nach: World Economic Outlook, Oktober 2012, S. 179 bzw. Aktualisierungen dieser Grunddaten.

[3] "Der ISM-Index, der wichtigste Frühindikator der US-Industrie, fiel im November auf den tiefsten Stand seit drei Jahren. Er brachte auch Warnsignale für die Binnennachfrage." Martin Kaelble in: Financial Times Deutschland 4.12.2012.

[4] "'Let's keep going', said the Democrat. 'What do you mean?' replied the Republican. 'Go', the Democrat replied pointing at the precipice. 'Are you shure?' asks the second, an insane smiling dawning. They clasp hands. And they zoom over the cliff. This is Washingtons real-life take on the closing scene of the movie Thelma and Louise". Financial Times 3.12.2012.

[5] Financial Times Deutschland 28.9.2012.

[6] Financial Times vom 3.12.2012 Ponzi-System = Schneeball- bzw. Pyramidensystem.

[7] Zitiert in: Financial Times Deutschland 15.10.2012.

[8] Hier zitiert nach: Frankfurter Allgenmeine Zeitung vom 18.10.2012.

[9] In einem neuen Report des Instituts für Makroökonomie (IMK), verfasst von Gustav Horn, Fabian Lindner, Silke Tober und Andrew Wall, sind diese Studien, auf die sich der Währungsfonds positiv bezieht, zusammenfassend dargestellt. Siehe Qua vadis Krise? - Zwischenbilanz und Konzept für einen stabilen Euroraum, IMK-Report 75, Oktober 2012.

[10] Michael Hudson, Americas own Kleptocracy, in: Counterpunch 20.9.2008. Im Buch Sieben Krisen - ein Crash ging ich im Detail auf diese "Bankenputschs" in den drei genannten Ländern ein. (Wien 2009, S. 113ff).

[11] Börsenzeitung 20.11.2012.

[12] World Economic Outlook, a.a.O., S. 101.

[13] Werner Rügemer, Rating-Agenturen. Einblicke in die Kapitalmacht der Gegenwart, Bielefeld 2012.

[14] Unsere Banken sind die Motoren des Niedergangs, Interview mit James Galbraith in: Wochenzeitung / WOZ, Zürich, 27.9.2012.


Abbildungen der Originalpublikation im Schattenblick nicht veröffentlicht.

- Grafik 1: Reales Bruttoinlandsprodukt von USA, Eurozone, Großbritannien und Japan 2007 bis 2012

- Grafik 2: Öffentliche Schulden in den Industriestaaten 1880-2011

- "Smokey Mountain", Mülldeponie am Rande von Manila/Philippinen

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Inhaltsverzeichnis lunapark 21, Heft 20 - Winter 2012

lunart: Jesse Purcell • war is trauma
editorial
quartalslüge:
Patrick Schreiner • Wirklich "Größte Steuereinnahmen aller Zeiten"?
kolumne winfried wolf:
TIAA - There is an alternative. Oder: Grüße aus Reykjavik

soziales & gegenwehr
Patrick Schreiner • Temporäre EU-Arbeitsmigration: Lohnraub & krasse Ausbeutung
Manfred Dietenberger • Dienstleistung allüberall Sebastian Gerhardt • Eurokrise & Solidarität nach dem 14. November
lunart: Plakat zum Generalstreik in Portugal (N14)
Volker Lösch • 150. Montagsdemo S21: Von Aristoteles lernen... Sascha Stanicic • Irland: Boykott der Haushaltssteuer
Interview mit Matt Waine, Campaign Against Household & Water Taxes
Eine peinliche Korrektur
Thomas Fruth • Katalonien auf dem Weg zur Unabhängigkeit

feminismus & ökonomie
Gisela Notz • Ist die "Gender-Pension-Gap" wirklich groß?
Elisabeth Klatzer • Herrenhaus EU: Krisenpolitik als Geschlechterpolitik

energie • umwelt • verkehr
Wolfgang Pomrehn • Kampf um die Energiewende

spezial - weltwirtschaftskrise 2.0
die wiederkehr der realwirtschaftlichen krise

Winfried Wolf • Das Thelma & Louise-Moment
Lucas Zeise • Das Euro-Endspiel
Hannes Hofbauer • Österreichs Wirtschaft im fünften Krisenjahr
Karl Heinz Roth • Das deutsche Europa - eine katastrophale Erfolgsgeschichte
lunart: Willi Hölzel • Soziale Fotografie
Hannes Hofbauer • "Club Med" gegen Osteuropa
Tomasz Konicz • Tiger-Ritt: Widersprüche der kapitalistischen Modernisierung Chinas
Jean Ziegler • Krise im Norden steigert Hunger im Süden
Urs-Bonifaz Kohler • Klima und Krise
Stephan Kimmerle • Wird ein Auto oder die Autoindustrie abgefackelt?
lexikon: Georg Fülberth • Embedded Neoliberalism

kultur & gesellschaft
Bernd Köhler & Joachim Kubowitz • Willi Hölzel † - "Dekorateur der Apokalypse"

geschichte & ökonomie
Thomas Kuczynski • Regionalismus in der EU
der subjektive faktor: Martina Moog • No TAV - Widerstand gegen das Bahn-Mega-Projekt im italienischen Susatal
lunart: Johannes Nathow • Würden Sie sich bitte wider setzen
zeit & ort: Sebastian Gerhardt • Mahagonny reloaded: Charter Cities - Suche nach dem kapitalistischen Utopia
lunaluna: Alexis Passadakis • Sehr geehrter Herr Cohn-Bendit...
seziertisch nr. 157: Georg Fülberth · Grußstreik
impressum / lunart portrait

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Quelle:
Lunapark 21, Heft 20 - Winter 2012, Seite 30 - 34
Herausgeber: Lunapark 21 GmbH, An den Bergen 112, 14552 Michendorf
Telefon: +49 - (0)33205-44694
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Februar 2013