Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → WIRTSCHAFT

DISKURS/082: Wachstumsverweigerung - Alternative zum "Green New Deal" (DER RABE RALF)


DER RABE RALF
Nr. 153 - Dezember 2009 / Januar 2010
Die Berliner Umweltzeitung

WIRTSCHAFT
Wachstumsverweigerung
Immer mehr Menschen sagen nein zum Wachstumszwang - auch zum "Green New Deal"

Von Ernst Schmitter


Was ist zu tun angesichts der umfassenden Krise, die der Marktfundamentalismus zu verantworten hat? Der neoliberale Brandstifter spielt den Feuerwehrmann und hat die Antwort parat: Weiterwursteln! Das darf er aber nicht sagen. Deshalb tut er, was Ideologen in schwierigen Zeiten immer tun: Sie benennen um, was ihnen peinlich ist, und blockieren unser Denken mit einer Formel.

Beispiele aus der jüngsten Geschichte: Unter dem Konkurrenzdruck des Sowjetimperiums hieß kapitalistisches Weiterwursteln "soziale Marktwirtschaft". Später musste man angesichts der Grenzen des Wachstums von "qualitativem Wachstum" sprechen, was immer das bedeuten konnte. Bedrängt durch die immer offensichtlicher werdende menschengemachte Klimakatastrophe, taufte der Neoliberalismus sein Weiterwursteln in "nachhaltige Entwicklung" um.

Das neueste Beispiel in der Reihe der Worthülsen, mit denen man uns eine bessere Zukunft vorgaukelt, ist nun der "Green New Deal". Was damit gemeint ist? Weiterwursteln, aber grün und gerecht. Ein unauflösbarer Widerspruch! Die Farce wird dadurch zur Tragödie, dass politisch Rot und Grün einmal mehr als gelehrige Schüler das Spiel des liberalen Mentors mitspielen. Mäuse fängt man mit Speck und Rot-Grüne mit dem Green New Deal.

Ist also keine Alternative zum grün eingefärbten Wachstumsdogma in Sicht? Doch! Es gibt in Europa - mit Schwerpunkt in Frankreich -immer mehr Menschen, die sich dem Wachstum ganz verweigern. In Frankreich verstehen sie sich als gesellschaftliche Bewegung und sind politisch sehr aktiv. Ihre öffentliche Wirkung verdanken sie dem schlagkräftigen Begriff "Décroissance" (Abnahme, Schrumpfung), dem Markenzeichen für Wachstumsverweigerung in den frankofonen Ländern. Décroissance ist das gemeinsame Motto einer heterogenen, teilweise auch miteinander im Streit liegenden Gruppe von Intellektuellen, Medienleuten und politischen Aktivisten. Ihnen allen ist eine Überzeugung gemeinsam: Wir werden den Ausweg aus unserer Zivilisationskrise nicht finden, wenn wir die Gestaltung unseres Lebens weiterhin von der Wirtschaft und ihren Zwängen, insbesondere dem Wachstumszwang, bestimmen lassen.

Das breite Spektrum der Bewegung lässt sich nicht in einem kurzen Text darstellen. Stattdessen soll hier einer ihrer Vertreter kurz vorgestellt werden: Paul Ariès, Jahrgang 1959, Politologe und Autor mehrerer Bücher zum Thema. Seinem politischen Programm liegt der Begriff der "gratuité" (Kostenlosigkeit) zugrunde. Ein sinnvoller Gebrauch (bon usage) von Gütern und Dienstleistungen müsste Ariès zufolge kostenlos sein. Ein umwelt- und klimaschädigender Verbrauch (mésusage) sollte hingegen verboten oder drastisch verteuert werden. Für Trink- und Duschwasser oder für Straßenbahnfahren soll man nicht bezahlen müssen. Das private Schwimmbad und die Autobahnfahrt im Porsche müssen dagegen abgeschafft werden oder unzumutbar teuer zu stehen kommen.

Die Décroissance-Bewegung verfügt über eine Monatszeitschrift gleichen Namens (Auflage 45.000). Sie wirbt für Wachstumsverweigerung auf drei Ebenen: individuelle Lebensgestaltung, kollektive Experimente (Wohngemeinschaften, Landkooperativen usw.) und Politik. Die Grundüberzeugung der Wachstumsverweigernden lässt sich in einem Bild zusammenfassen: Wir müssen nicht einen immer noch größeren Kuchen backen, damit alle genug abbekommen. Wir müssen das Rezept ändern und den Kuchen besser verteilen als bisher. Oft nennen sie ihre ökonomisch-politische Leitvorstellung "nachhaltige Wachstumsrücknahme".


Der Autor, geboren 1943, lebt in Interlaken (Schweiz) und befasst sich seit Jahren mit Wachstumskritik, speziell mit der französischen Décroissance-Bewegung.

www.decroissance.org
www.wikipedia.de - Wachstumsrücknahme


*


Quelle:
DER RABE RALF - 20. Jahrgang, Nr. 153, Dezember 2009/Januar 2010, S. 8
Herausgeber:
GRÜNE LIGA Berlin e.V. - Netzwerk ökologischer Bewegungen
Prenzlauer Allee 230, 10405 Berlin-Prenzlauer Berg
Redaktion DER RABE RALF:
Tel.: 030/44 33 91-47, Fax: 030/44 33 91-33
E-mail: raberalf@grueneliga.de
Internet: www.raberalf.grueneliga-berlin.de

Erscheinen: zu Beginn gerader Monate
Abonnement: 10 Euro/halbes Jahr


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Februar 2010