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DISKURS/104: Von den Grenzen des Wachstums zur Postwachstumsgesellschaft (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2011

Von den Grenzen des Wachstums zur Postwachstumsgesellschaft

Von Irmi Seidl/Angelika Zahrnt


Anfang des Jahres hat die SPD den Programmentwurf "Neuer Fortschritt und mehr Demokratie" vorgelegt, der bis zum Programmparteitag im Dezember weiterentwickelt wird. In unserer Rubrik "Neuer Fortschritt" schreiben Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Medien und Politik jeweils zu Teilaspekten, um die Debatte voran zu bringen. Gegenüber Erhard Epplers Diktum vom "selektiven Wachstum" plädieren unsere Autorinnen aus der ökologischen Wirtschaftsforschung gar für einen grundsätzlichen Abschied vom Wachstumsparadigma.


Wirtschaftswachstum erfüllt immer weniger die damit verknüpften Erwartungen von sozialem Ausgleich, Vollbeschäftigung und Wohlfahrt: Die Ungleichverteilung der Einkommen ist gemäß OECD in fast allen Mitgliedsländern in den letzten zwei Jahrzehnten gestiegen, die Arbeitslosigkeit bleibt auf hohem Niveau, das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP) bringt in den reichen Industrieländern keine Wohlfahrtsgewinne mehr, der Umweltverbrauch sinkt trotz Effizienzgewinnen nicht.

Diese ernüchternden Beobachtungen und die seit Jahrzehnten formulierte Kritik an ständigem Wirtschaftswachstum stellen jedoch die Wachstumsfixierung der Politik nicht in Frage. Dabei sprechen wir von einem jungen Phänomen: Das Ziel des permanenten und möglichst hohen Wachstums wird erst seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Politik und Wirtschaftswissenschaften auf breiter Basis verfolgt. J.R. Hicks (Träger des Wirtschaftsnobelpreises) schrieb 1966: "It is not by any means necessary that economics should be growth-minded. I can indeed myself remember a time it was not growth-minded at all." Und früh schon sprachen gewichtige Stimmen ein mögliches Ende der Wachstumsära an. Ludwig Erhard z.B. schrieb 1957 in Wohlstand für alle: "Wir werden sogar mit Sicherheit dahin gelangen, dass zu Recht die Frage gestellt wird, ob es noch immer nützlich und richtig ist, mehr Güter, mehr materiellen Wohlstand zu erzeugen, oder ob es nicht sinnvoller ist, unter Verzichtsleistung auf diesen 'Fortschritt' mehr Freizeit, mehr Besinnung, mehr Muße und mehr Erholung zu gewinnen". Dann, so Erhard, werde eine Korrektur der Wirtschaftspolitik nötig. J.M. Keynes formulierte 1943 seine Einschätzung, dass nach einer Zeit hoher Investitionen und ökonomischer Aktivität Sättigung und schwindendes Wachstum folgen würden, was wirtschaftspolitisch gesteuert werden müsse, z.B. über kürzere Arbeitszeiten, Verhinderung von Sparen und Befriedigung öffentlicher Bedarfe.

In jüngerer Zeit zweifeln Politik und Gesellschaft vernehmbar an der Wachstumsorientierung, was politisch Niederschlag zum Beispiel in der Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" des Deutschen Bundestages findet oder in der von der französischen Regierung initiierten Kommission zur Messung der ökonomischen Leistung und des sozialen Fortschritts. An der Forderung nach Wachstum wird meist festgehalten, aber es soll nun grün werden, selektiv, smart, nachhaltig, ausgeglichen, dauerhaft, inklusiv, gerecht etc. Dies erinnert an die Diskussion in den 80er Jahren, als qualitatives Wachstum hoch im Kurs stand, sich doch an der De-facto-Orientierung am quantitativen Wachstum nichts änderte.

Weshalb tun sich Politik und Gesellschaft so schwer, sich auf schwindendes oder gar ausbleibendes gesamtwirtschaftliches Wachstum einzustellen und entsprechend umzusteuern? Ein Blick auf die Argumentation zugunsten von Wachstum und die Schwierigkeiten bei rückläufigem Wachstum zeigt: Die sozialen Sicherungssysteme basieren auf Wirtschaftswachstum, Verteilungsgerechtigkeit soll dank Wirtschaftswachstum erreicht werden, die moderne Konsumgesellschaft ist bestimmt vom "Weiter - Schneller - Mehr", und Unternehmen sehen ihr Hauptziel in wachsenden Umsätzen, Märkten und Gewinnen, worin sie die Wettbewerbspolitik, Wirtschaftsförderung und Steuerpolitik bestärken.

Das Finanz- und Bankensystem ist existenziell auf Wachstum angewiesen und sieht seine Existenzbegründung in der Ermöglichung von Wirtschaftswachstum. Die Politik der öffentlichen Finanzen basiert auf der Annahme ständig steigender Einnahmen. Kurz: Unser Gesellschafts- und Entwicklungsmodell ist strukturell auf fortdauerndes Wirtschaftswachstum angewiesen.

Daraus folgt, dass eine Abkehr vom Wachstumspfad eine Neugestaltung zentraler gesellschaftlicher Bereiche und Institutionen voraussetzte. Denn ohne Neugestaltung dürfte ausbleibendes Wachstum zu Krisen der gesellschaftlichen Systeme führen und in der Folge zu politischer und gesellschaftlicher Unzufriedenheit und Unruhe. Für eine Neugestaltung aber fehlen der politische Wille sowie Konzepte, Modelle und Ideen.

Gemäß dem Politologen J. W. Kingdon, der ein Erklärungsmodell dafür entwickelt hat, unter welchen Bedingungen politisches Handeln erfolgt, müssen dafür drei sogenannte Ströme ("streams") zusammen kommen. Erstens muss ein Problem die Aufmerksamkeit der Politik haben und es muss definiert und kategorisiert sein. Zweitens muss das Thema auf der Agenda der Regierung stehen, unterstützt von politischen Akteuren, Medien und Lobbygruppen. Drittens schließlich müssen politische Entscheidungsmöglichkeiten, Ideen, Konzepte und Handlungsmöglichkeiten vorhanden sein, getragen von Personen, die politisch zu handeln bereit sind. Kommen diese drei "Ströme" zusammen, wird die Entscheidungsagenda strukturiert und es erfolgen politische Entscheidungen und Implementierung.

Im Hinblick auf Wirtschaftswachstum sind alle drei Dimensionen noch schwach ausgebildet. Es gilt das Wachstumsproblem anzuerkennen und die systemischen Wachstumszwänge zu identifizieren (Problemdefinition und -kategorisierung), es müssen breite öffentliche und politische Debatten über Wirtschaftswachstum geführt und politische Entscheidungen eingefordert werden (agenda setting) und schließlich sind wachstumsunabhängige Konzepte zu identifizieren und zu entwickeln (Entscheidungsgrundlagen schaffen).

Zwei wachstumsabhängige Bereiche, die jede Mitbürgerin und jeden Mitbürger betreffen, sind das Gesundheitswesen und die Alterssicherung. Der Gesundheitssektor ist einer der wenigen verbliebenen, verlässlichen Wachstumssektoren mit einer Wachstumsrate, die über jener des BIPs liegt (jährliche Wachstumsrate der realen Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben 1997-2007: D: 1,7%, OECD: 4,1%). Die Gesundheitsausgaben werden aufgrund von Zivilisationskrankheiten, medizinisch-technischem Fortschritt und demografischem Wandel auch weiterhin deutlich steigen. An Wachstum interessiert sind die am Gesundheitswesen beteiligten Sektoren (Pharmaindustrie, Medizinaltechnik, Ärzteschaft, Krankenhausträger, teilweise die Krankenkassen etc.) sowie jene Kräfte, die einen Ausbau der Arbeitsplätze im Gesundheitswesen verfolgen. Ausbleibendes Wirtschaftswachstum macht es politisch schwieriger, die Beiträge der Prämienzahler und der öffentlichen Hand (in Deutschland 17%, 2006) zu erhöhen und so die durch Ausgabenwachstum entstehende Finanzierungslücke zu schließen. Die Folgen sind Einschnitte im Leistungskatalog oder doch eine Erhöhung der individuellen Beiträge und/oder eine stärkere Unterstützung des Gesundheitssystems aus allgemeinen Steuermitteln. Natürlich kann auch die Effizienz des Systems verbessert werden, aber die stößt schnell auf (Wachstums)Interessen beteiligter Akteure.

Das System der Alterssicherung geht von Wirtschaftswachstum aus und ist darauf angewiesen - sei es das Umlage- oder das Kapitaldeckungsverfahren. Wirtschaftswachstum, das sowohl wachsende Beiträge wie ausreichende Renditen sichert, ist nötig, um die doppelte demografische Herausforderung - die älter werdende Gesellschaft und die steigende individuelle Lebenserwartung - zu bewältigen. Dabei wäre prinzipiell das Umlageverfahren nicht auf Wirtschaftswachstum angewiesen, wenn eine reine Umlage von der jeweiligen Erwerbstätigen- zur Rentnergeneration stattfände - ohne Versprechen oder Aussicht auf eine bestimmte Rentenhöhe. Dies würde variable und möglicherweise sinkende Renten bedeuten. Demgegenüber setzt das Kapitaldeckungsverfahren (Pensionskassen) auf Kapitalerträge und ist damit von Wirtschaftswachstum abhängig. Die jüngste Wirtschaftskrise zeigt, wie Börsen- und Renditeeinbrüche diese Form der Alterssicherung ins Wanken bringen können. Wächst die Wirtschaft nicht, drohen Leistungskürzungen und/oder es wird eine höhere Finanzierung über allgemeine Steuermittel nötig (gut 30% der Ausgaben der deutschen Rentenversicherung stammen seit Jahren aus Bundesmitteln).

Der Gesundheits- und Rentenbereich ist nicht zum ersten Mal mit Reformbedarf konfrontiert, um die Finanzierung zu sichern. Neu ist, dass immer weniger auf wachsende Beiträge gesetzt werden kann und deshalb die bisherige Abhängigkeit von wachsenden Beiträgen überwunden werden muss.


Lösungsansätze existieren

Viele Jahre Reformdebatten und eine Vorahnung der Gesellschaft, dass die soziale Sicherung der letzten Jahrzehnte künftig nicht durchzuhalten ist, haben zahlreiche Konzepte und Lösungsansätze hervorgebracht, auf die bei der Umgestaltung aufgebaut werden kann. Für den Gesundheitsbereich seien folgende Ansätze genannt: monetäre Anreizsysteme für eine verbesserte individuelle Gesundheitsvorsorge, Prämiensplitting-Modell (Prämie geht in ein Risikokonto und ein persönliches Konto; Kosten werden zuerst vom persönlichen Konto, dann vom Risikokonto finanziert; ein wenig beanspruchtes persönliches Konto führt zu Prämienreduktion), Managed-Care-System (Hausarzt als Primärversorger und erste Anlaufstelle), stärkere Bekämpfung von Missbrauch und Betrug, Überprüfung der Honorarsysteme, Begrenzung der Lobbypolitik. Weil die Gesundheit der Menschen stark von den Arbeitsbedingungen und -anforderungen, der Bildungssituation, von Umweltbelastungen wie Lärm, Luftverschmutzung und Chemikalien in Nahrungsmitteln und Wasser bestimmt ist, gehören Verbesserungen in diesen Bereichen zum notwendigen Maßnahmenpaket, um die Gesundheitskosten zu begrenzen. Richard Wilkinson und Kate Pickett zeigten 2009 auf, dass Verteilungsgerechtigkeit und der Gesundheitszustand einer Gesellschaft positiv korrelieren. Ein weiterer Grund also, die Verteilungsgerechtigkeit zu verbessern.

Lösungsansätze im Bereich der Alterssicherung sind: Förderung des "produktiven Alters" mit Flexibilisierung zwischen Erwerbs- und Rentenalter; neue Zeitmodelle, bei denen in jeder Lebensphase verschiedene Tätigkeitsformen möglich sind wie bezahlte Arbeit und unbezahlte Arbeit; Ausweitung der "Sozialzeit", um die allein monetär nicht mehr zu leistenden Gesellschaftsdienste für die Pflege von alten Menschen und die Betreuung von Kindern möglich zu machen; Aufbau eines Systems von Zeitgutschriften, mit denen Arbeitsstunden im sozialen Bereich angespart und im Alter bezogen werden können; Mehrgenerationenhäuser; verstärkte Gesundheitsvorsorge und Eigenverantwortung, stärkere Bindung der Renten an aktuelle Beitragszahlungen.

In diesen und anderen Lösungsansätzen liegt viel politischer Sprengstoff. Doch die Diskussion nicht zu führen bedeutet, sich den Zwängen abnehmender finanzieller Spielräume auszuliefern und auf Gestaltungsmöglichkeiten zu verzichten.


Postwachstumsgesellschaft

Unbemerkt - zumindest nicht thematisiert - bewegen sich hoch industrialisierte Gesellschaften auf eine Postwachstumszeit zu. Die Wachstumsraten sinken seit den 60er Jahren kontinuierlich. Gemäß Prognosen der EU setzt sich dieser Trend fort (1,25% Wachstum bis 2020 im Euro-Raum bei ausbleibenden politischen Maßnahmen). Die hohe Staatsverschuldung erschwert es, weiterhin mit öffentlichen Mitteln das Wachstum anzukurbeln, die Inlandsmärkte sind weitgehend gesättigt und das längerfristige Setzen auf Exporte als Wachstumsmotor ist riskant; weiter dürften Ressourcenknappheit und steigende Ressourcenpreise Wachstum dämpfen, ebenso wie die Erfüllung der klimapolitischen Verpflichtungen.

Angesichts dieser Perspektiven steht es an, die Wachstumsabhängigkeit zentraler gesellschaftlicher Bereiche zu durchbrechen - neben Gesundheit und Alterssicherung betrifft dies vor allem den Konsumsektor, Arbeitsmarkt, die Bildung, Unternehmen, das Banken- und Finanzsystem - und politische Ziele wie Verteilungsgerechtigkeit unabhängig vom Wirtschaftswachstum zu realisieren. Auch für diese Bereiche liegen zahlreiche Ansatzpunkte und Ideen vor.

Die in diesem Beitrag geführte Argumentation deutet an, welches die wesentlichen Elemente einer Postwachstumsgesellschaft sind. Erstens findet keine Politik zur Erhöhung des Wirtschaftswachstums statt. Zweitens werden wachstumsabhängige und wachstumstreibende Bereiche, Institutionen und Strukturen so umgebaut, dass sie von Wirtschaftswachstum unabhängig sind. Drittens wird, um die natürlichen Grundlagen zu erhalten, der Verbrauch an Energie- und Ressourcen inkl. Fläche und Biodiversität gestoppt und der Verbrauch entsprechend der Nachhaltigkeitsziele zurückgefahren.

In einer Postwachstumsgesellschaft, insbesondere während der Transformation, werden einzelne Bereiche wachsen, andere werden schrumpfen, so wie dies bei jeder Entwicklung und bei jedem Strukturwandel der Fall ist. Insgesamt aber ist eine Postwachstumsgesellschaft unabhängig von gesamtwirtschaftlichem Wachstum und sie verfügt über einen volkswirtschaftlichen Ordnungsrahmen, der diese Unabhängigkeit sichert und eine flexible Gestaltung von Wachstums- wie Schrumpfungsprozessen ermöglicht.


Irmi SeidI (* 1962) ist Ökonomin und Leiterin der Forschungseinheit Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (Schweiz).
Irmi.Seidl@wsl.ch

Angelika Zahrnt (* 1944) ist Volkswirtin und war bis 2007 Vorsitzende des BUND. Seither ist sie dessen Ehrenvorsitzende und u.a. Mitglied des Nachhaltigkeitsrates der Bundesregierung.
Angelika.Zahrnt@bund.net


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2011, S. 49-53
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. August 2011