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DISKURS/115: Neue "Linke Forderungen" für Ostdeutschland - Eine Kurzanalyse (Karl Mai)


Neue "Linke Forderungen" für Ostdeutschland - Eine Kurzanalyse

von Karl Mai, Februar 2014 (*)



Problemlage

Um Ostdeutschlands Rückstand in der volkswirtschaftlichen Produktivität im Vergleich zu Westdeutschland war es auffällig ruhig geworden, seit die Bundesregierung ihren letzten Jahresbericht hierzu im Spätherbst 2013 veröffentlicht hat. Die Aussichten und Absichten auf eine baldige Konvergenz Ost-West im Produktivitätsniveau sind offiziell verblasst. Die Krise in der Konsolidierung der EWU, die manchem in Deutschland näher zu liegen scheint, beherrscht weithin die öffentliche wirtschaftspolitische Diskussion.

Im Januar 2014 hat die Zeitschrift "Sozialismus" eine ausführliche linksorientierte Einschätzung des "Jahresberichts 2013 zum Stand der deutschen Einheit" seitens der Bundesregierung veröffentlicht. Diese Analyse von Klaus Steinitz und Martin Schirdewan(**) enthält eine gründliche Bewertung des Regierungsberichts hinsichtlich des erreichten Standes im bisherigen Angleichungsniveau Ost an West, die jetzt nicht mehr wiederholt oder nachgezeichnet werden soll. Hier nur einige der wichtigsten Niveau-Kennzahlen (alte Bundesländer = 100) für Ostdeutschland:

  1. BIP je Arbeitsstunde der Erwerbstätigen 2012: 73,8
  2. Bruttoanlageinvestitionen je Einwohner: 76
  3. Kapitalstock je Einwohner: 76
  4. Arbeitnehmerentgelt je Arbeitnehmerstunde: 75,4
    (Nach "Sozialismus", 1/2014, S. 38)

Danach hat Ostdeutschland ca. ¾ des Westniveaus bei diesen Kriterien erreicht und bildet nun in Deutschland eine Großregion der relativen Unterentwicklung, mit der sich offenbar die Bundesregierung abgefunden hat bzw. die sie nicht mehr besorgniserregend empfindet. So heißt es im "Jahresbericht der Bundesregierung" ernüchternd zum unzureichenden Konvergenzfortschritt Ost - West:

"Die Konvergenzlücke ist zu einem großen Teil durch wirtschafts- und siedlungsstrukturelle Faktoren bedingt. Dazu zählt die dünnere Siedlungsstruktur mit nur wenigen ausstrahlenden Wachstumszentren. Hinzu kommt eine Wirtschaft, die durch eine kleinteilige Betriebsgrößenstruktur, das weitgehende Fehlen von Firmenzentralen größerer Unternehmen und Unternehmen mit eigenen FuE-Einheiten gekennzeichnet ist." (S. 109) 

Es wird hier nicht erkennbar, dass sich diese Ursachen der Konvergenzlücke absehbar oder künftig rasch beseitigen lassen würden. Im Gegenteil: die regionalen Disparitäten, die infolge wirtschaftlich-struktureller Inhomogenität und demografischer Verluste verursacht werden, tendieren längerfristig zu einer anwachsenden Divergenz der ostdeutschen Region im Leistungsniveau, solange die BIP-Wachstumsraten Ost nicht längerfristig die jährlichen westdeutschen Wachstumsraten erheblich überflügeln können. Hierzu weiter unten ausführlicher.


Linke Politikempfehlungen

Von den beiden Autoren ist am Schluss des Artikels auch eine linke Vision für "ein tragfähiges Zukunftskonzept für Ostdeutschland" skizziert worden. (S. 40). Hierzu betonen sie u. a. folgendes:

1. Bis zum Auslaufen nach 2019 darf am "Solidarpakt II" für Ostdeutschland nichts geändert werden. Diese Empfehlung ist m. E. ein sehr defensives und schwächliches Argument, weil der Solidarpakt ohnehin jährlich stark abfallende Finanzmittel bis 2019 vorsieht und bis dahin ein deutlicher Konvergenzrückstand erhalten bleiben würde.

2. Für danach sollte eine Anschlussförderung für strukturschwache Regionen in ganz Deutschland in Form eines "Solidarpakts III" diskutiert werden. Sie sollte m. E. nicht nur diskutiert, sondern auch rechtzeitig konzipiert und beschlossen werden. Dieser Vorschlag lässt leider noch nicht erkennen, wie er die Finanzmittel für ein Endziel erreichbarer Konvergenz mobilisieren könnte.

3. Das angestrebte zentrale Zukunftsprojekt "sozial-ökologischer Umbau" darf nicht den üblichen Kapitalverwertungsinteressen unterworfen werden. Wie dies in einer Finanzmarkt-getriebenen Wirtschaft gesteuert werden soll, bleibt hier zunächst offen.

Die "Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" ist langfristig politisch abzusichern und sollte bevorzugt Zukunftsbranchen und Zukunftstechnologien dienen.

4. "Das Nahziel lautet, die Innovationsleistungen in Ostdeutschland weiter zu erhöhen, um den gescheiterten Aufbau Ost als Nachbau West aufzugeben und auf einen selbsttragenden sozial-ökologischen Entwicklungspfad einzuschwenken:" (S. 40)

Auf weitere Forderungen zur Arbeitsmarkt-, Tarif- und Rentenpolitik für Ostdeutschland sei hier nur kurz verwiesen; sie ergänzen die vorstehenden ökonomischen Hauptforderungen und zielen auf eine baldige nachhaltige Angleichung der Lebensbedingungen Ost an West.

Mancher Leser wird sich nun fragen, ob diese Vision von "Links" objektive Chancen hat, da ihre Verwirklichung zweifellos völlig geänderte Rahmenbedingungen in Gesamtdeutschland voraussetzt. Dem wollen oder können sich auch die beiden Autoren Steinitz und Schirdewan nicht verschließen. Es gibt hierzu jedoch von der Bundesregierung und von der professionellen Wirtschaftsforschung anderslautende, skeptische Auffassungen zur Perspektive, die geeignet sind, der linken Vision den realpolitischen "Spiegel" vorzuhalten.


Relationen des Ost-West-Wachstums

In der Literatur findet sich längst eine inhaltlich-quantitative Analyse des Konvergenzfortschritts, wonach die Differenzen der beiden jährlichen BIP-Wachstumsraten (ebenso wie die Höhe der westdeutschen Wachstumsrate) das entscheidende Größenkriterium für den Zeitraum der Angleichung bilden. So z. B. ging Karl Lichtblau vom IW-Köln noch 1995 davon aus, dass bei einer dauerhaften Überflügelung der westdeutschen Wachstumsrate um 4 Prozentpunkte in 10 Jahren das westdeutsche Leistungsniveau in Höhe von 80 % erreichbar wäre. Bekanntlich wurde diese Erwartung historisch absolut verfehlt. Die statistischen Hoffnungen mussten erheblich reduziert werden, und eine 80%-Angleichung ist auch mit weiterer fast 7-jähriger Verzögerung (nach 2006) bis jetzt noch nicht erreicht.

In dem quantitativen Ansatz von Ulrich Busch/Karl Mai wurde für die politisch erwartete Konvergenzperiode eine explizite Zeitberechnung parametriert und vorgestellt. (1) Selbst für eine hier deutlich geringer unterstellte "Konvergenz-Wachstumsrate" von jährlich mindestens "Ost 2% > West" gibt es in den ostdeutschen Bundesländern mit ihren verschwindend wenigen Innovationszentren objektiv keine Chancen. Gegenwärtig verfügt die Ost-Wachstumsrate auch aus rein konjunkturellen Gründen über keine erkennbaren Voraussetzungen zum längerfristigen "Überholen" innerhalb einer größeren Zeitspanne.

Diese Skepsis wird vom ifo-Institut Dresden geteilt. "Ob es gelingt, die 'Angleichung der Lebensverhältnisse' künftig stärker voranzutreiben, muss eher kritisch gesehen werden. Zum einen dürfte es mit fortschreitender Schrumpfung der (erwerbsfähigen) Bevölkerung schwerer fallen, den Arbeitseinsatz zu erhöhen; zum anderen wird es mit zunehmender Alterung der Erwerbspersonen aber auch schwieriger, höhere Produktivitätssteigerungen als in Westdeutschland zu erreichen. Gerade Letzteres scheint aber der Schlüssel für weitere Konvergenzfortschritte zu sein." (2) (Hervorhebung durch mich - K.M.)


Prognose des Ifo-Dresdens

An der überflügelnden Wachstums- bzw. Produktivitätsrate Ost gegenüber West scheint für ifo-Dresden kein Weg vorbei zu führen. "Zwar ist das BIP je Einwohner von 2005 bis 2011 in Ostdeutschland (ohne Berlin) mit 19,2 % stärker gestiegen als in Westdeutschland (15,2 %); wegen der bestehenden Niveauunterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland ist damit der Abstand des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf - in absoluten Werten gerechnet - sogar noch größer geworden (Differenz zwischen Ost- und Westdeutschland 2005: 10.303 EUR; 2011: 11.131 EUR)." (siehe dort: Fußnote 5, S. 1)

Die hier vom ifo-Dresden angeführte (19,2% -15,2%) / 7 = (4% /7) = 0,57%-ige Wachstumsdifferenz über eine Zeitspanne von 7 Jahren liegt beträchtlich unter der zuvor hier zitierten und akzeptierten jährlichen mindestens "+2% > Ost als West - Wachstumsrate" der absoluten Konvergenz für den vorgestellten mehrjährigen Angleichungszeitraum. (Siehe: auch Endnote 1)


Visionärer Ausblick von "Links"

Trotz der pessimistischen Perspektiv-Prognosen der angeführten offiziellen Berichte gehen die beiden Autoren im "Sozialismus"-Artikel von einer optimistischen Zukunfts-Vision weiterhin aus. (Siehe oben!) Dies wirkt vorgefasst und zumindest diskutabel, solange die objektive Realität sich hierzulande nicht völlig wandelt und ein günstigeres politisches Kräfteverhältnis mit geänderten Handlungsmotiven für die entscheidenden gesellschaftlichen Akteure in Deutschland sichtbar wird. Zutreffend dagegen erscheint ihre Erklärung, dass "der Rückgang der realen Investitionen ... langfristig der Hauptfaktor für die faktische Stagnation des Konvergenzprozesses und das größte Hemmnis für den notwendigen weiteren ostdeutschen Aufholprozess" (S. 39) darstellt.

Offen bleibt bei den beiden Autoren, wieso es gelingen sollte oder könnte, "auf einen selbsttragenden sozial-ökologischen Entwicklungspfad einzuschwenken:" (S. 40) Zu den Quellen der hierfür erforderlichen privaten ostdeutschen sowie staatlichen bzw. Förder-Investitionen und deren subregionale und branchengerechte Verteilung im Marktmechanismus wünscht sich der Leser des "Sozialismus"-Artikels weitere Erhellungen.


Anmerkungen:

(1) Busch/Mai, "Konvergenzbremse Produktivität", in: "Berliner Debatte Initial", Heft 4-5/2007, S. 121-136. Dieser Artikel enthält auch eine quantitative Ableitung der erforderlichen Differenzen der Wachstumsraten Ost zu West, um in einer vorgegebenen bzw. gewünschten Frist die Angleichung zu erreichen. (S. 133). (Siehe auch den Abdruck dieses Artikels im Internetportal der Memo-Gruppe im Jahre 2007.)

(2) ifo-Dresden,
http://www.cesifo-Group.de/de/ifoHome/presse/Pressemitteilungen/Pressemitteilungen-Archiv/2012/Q3/press_20120731_Wirtschaftliche-Angleichung-zwischen-Ost-und-West/featuredDownloadBinary/PM-ND-Wirtschaftliche_Angleichung_Ost_West.pdf


(*) Der Artikel von Karl Mai wurde am 16.02.2014 auf der Internetseite der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik erstveröffentlicht:
http://www2.alternative-wirtschaftspolitik.de/uploads/m0414.pdf

(**) Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Artikel von Klaus Steinitz und Martin Schirdewan ist im Schattenblick zu finden unter:
www.schattenblick.de → Infopool → Politik → Wirtschaft →
DISKURS/114: Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit - Kritische Bilanz oder Selbstlob? (Sozialismus)

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Quelle:
© 2014 by Karl Mai
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Mai 2014