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FINANZEN/117: Finanzmarktreformen nach der Krise und Versprechungen der G20 (spw)


spw - Ausgabe 3/2012 - Heft 190
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Finanzmarktreformen nach der Krise und Versprechungen der G20: Was wurde umgesetzt?

Von Sebastian Dullien



Einleitung

Auf dem Höhepunkt der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise 2009 sah es einen kurzen Moment lang so aus, als könnte unser globales Wirtschafts- und Finanzsystem vor einem grundlegenden Umbau stehen. Als sich die Staats- und Regierungschefs der G20 im April in London und im September in Pittsburgh trafen, wollten sie vor allem eins: Sicherstellen, dass die Politik nie wieder in Geiselhaft des Finanzsektors genommen würde, dass nie wieder gegen den ausdrücklichen Willen der Politiker sich die Regierungen gezwungen sehen würden, Hunderte von Milliarden in die Rettung angeschlagener Finanzinstitute zu pumpen, weil die Alternativen noch viel schlimmer erschienen. Dementsprechend deutlich sind die Gipfelerklärungen ausgefallen. Wortgewaltig wurden große Grundlinien einer neuen globalen Finanzmarktarchitektur aufgemalt, in einer Vielzahl von Unterpunkten wurden sogar konkrete Reformen vorgezeichnet (G20 2009; 2009b).

Heute, fast vier Jahre nach dem Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman Brothers, wird man das Gefühl nicht los, dass es mit den Versprechungen der G20 nicht so weit her gewesen sein kann. Die US-Subprime-Krise hat sich zwar in eine europäische Staatsschuldenkrise verwandelt, trotzdem erscheint die Politik weiter als getrieben von den Finanzmärkten. In Europa wird im Wochenrhythmus über neue Bankenrettungsprogramme diskutiert. Und bei Fragen wie jener nach einem möglichen Euro-Austritt Griechenlands ist die zentrale Frage erneut, ob die Banken so etwas überstehen können oder doch wieder neue öffentliche Kapitalspritzen benötigen. Haben also die Politiker diesseits und jenseits des Atlantiks die vergangenen Jahre untätig verstreichen lassen?

Auch wenn die die Berichterstattung über Reformvorhaben auf die hinteren Seiten der Wirtschafts- und Finanzteile der Presse gewandert ist, ist die Realität komplexer als dieses oberflächliche Urteil. Tatsächlich ist in den vergangenen Jahren bei der Finanzmarktregulierung weit mehr passiert als oft wahrgenommen. Von den konkreten Versprechungen, die die G20 im Krisenjahr 2009 gemacht haben, ist ein großer Teil umgesetzt worden. Warum aber kämpfen wir dann immer noch mit den Folgen der Finanzkrise? Das Problem ist, dass die Versprechungen von Anfang an nicht in der Lage gewesen sind, das globale Finanzsystem grundsätzlich umzukrempeln. Die Versprechungen zielten zu kleinteilig auf Detailprobleme des Finanzmarktes ab, und grundlegende, umfassende Reformen wurden nie versprochen, selten diskutiert und nicht umgesetzt.(1)


Übergeordnete Ziele der G20

Die großen Leitlinien der G20 aus dem Jahr 2009 lesen sich auch heute noch beeindruckend. In den Erklärungen der Gipfel von Pittsburgh und London 2009 hat die G20 als Reaktion auf die globale Finanz- und Wirtschaftskrise drei übergeordnete Politikziele definiert (G20 2009b):

  • Abbau der globalen Ungleichgewichte: "Einen Rahmen für kräftiges, stabiles, nachhaltiges und balanciertes Wirtschaftswachstum zu legen." (1) Dieser Beitrag basiert auf einer ausführlichen Studie (Dullien 2012), wo sich Details zu den einzelnen Regulierungsfeldern finden lassen.
     
  • Verhindern von Übertreibungen am Finanzmarkt: "Sicherstellen, dass die Aufsichtssysteme für Banken und andere Finanzinstitute Übertreibungen, wie jene, die zur Krise geführt haben, künftig unterbinden."
     
  • Reform der internationalen Finanzarchitektur: "Die internationale Finanzarchitektur so zu reformieren, dass sie den Anforderungen des 21ten Jahrhunderts gerecht werden."

Einzelversprechen und Umsetzung in EU und USA

Wie diese Ziele zu erreichen seien, wurde in den Erklärungen der G20 mit Einzelversprechungen weiter konkretisiert. Für den ungeübten Leser erscheinen auch diese Versprechungen auf den ersten Blick umfassend, wird doch von der Finanzmarktaufsicht über die Eigenkapitalanforderungen bis zur Vergütung von Bankmanagern praktisch jedes Thema angesprochen, das im Zusammenhang mit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 diskutiert wurde.

Viele dieser Einzelversprechungen haben ihren Weg in den Gesetzgebungsprozess der EU und der USA gefunden. Umgesetzt wurden viele der Maßnahmen in den USA in dem umfassenden "Dodd-Frank Wall Street Reform and Consumer Protection Act", der mit fast 1000 Seiten wohl der historisch umfassendste Versuch einer Finanzmarktregulierung ist. In Europa wurden die Einzelmaßnahmen in eine Vielzahl von Richtlinien und Verordnungen gepackt, von denen viele, aber noch nicht alle endgültig verabschiedet sind. Allerdings ist hier schon absehbar, dass ebenfalls viele der Detailvorschläge ihren Weg in geltendes Recht finden werden.

Für die einzelnen Politikfelder wurden bzw. werden dabei die Versprechungen wie folgt umgesetzt:

  • Struktur der Finanzmarktaufsicht: Die G20 versprachen einen Abbau von Regulierungslücken und ein Einbeziehen von systemischen Risiken in die Finanzmarktaufsicht. Tatsächlich wurde die US-Finanzaufsicht komplett umgebaut und mehrere neue Behörden gegründet, unter anderem werden nun Systemrisiken explizit betrachtet. Ähnliches gilt für Europa, wo eine Reihe europäischer Aufsichtsbehörden gegründet wurden und ein Rat für systemische Risiken (ESRB) geschaffen wurde. Auch wenn nicht klar ist, wie gut im Detail diese komplexen Systeme funktionieren werden, muss man konstatieren, dass hier viel passiert ist.
     
  • Eigenkapitalanforderungen: Die Staats- und Regierungschefs der G20 hatten 2009 versprochen, die Banken zu verpflichten, mehr Eigenkapital vorzuhalten, um zu verhindern, dass der Staat bei großen Verlusten die Banken stützen müsste. Mit den Basel-III-Regeln und ihrer derzeit im Gesetzgebungsprozess befindlichen Umsetzung auf nationale bzw. EU-Ebene sind die Eigenkapitalanforderungen deutlich erhöht worden. Zudem wird von den Banken nun verlangt, in guten Zeiten ein höheres Eigenkapitalpolster anzulegen, was in Krisenzeiten als Puffer dienen kann.
     
  • Systemrelevante Finanzinstitute (SIFIS): Wie die G20 versprochen hat, sind jene Institute identifiziert worden, die systemrelevant sind, diese müssen nun bis Ende 2012 Pläne für ihre eigene Abwicklung vorlegen. Es gibt nun international anerkannte Prinzipien, welche Institute systemrelevant sind, und eine Liste dieser Institute ist identifiziert worden, die nun an den "Banktestamenten" arbeiten.
     
  • Hedge Fonds: Wie von der G20 versprochen, müssen sich Hedge Fonds nun registrieren und werden wesentlich strenger überwacht als zuvor.
     
  • Verbriefungen: Wie versprochen, sind sowohl in den USA als auch in der EU die Regeln für Verbriefungen verschärft worden. Banken müssen nun einen größeren Teil der Risiken in den eigenen Büchern behalten.
     
  • Derivate: Wie von der G20 versprochen, müssen sowohl in den USA als auch in der EU ein Großteil der Derivattransaktionen - soweit möglich - künftig über zentrale Handelsplattformen abgewickelt werden. Damit soll zum einen sichergestellt werden, dass die Pleite einer großen Finanzinstitution nicht zu einer Dominoreaktion führt, weil die Gegenparteien ebenfalls Probleme bekommen. Zum anderen sollen so Informationen gesammelt werden, anhand derer die Aufsichtsbehörden die Risiken des Zusammenbruchs eines Instituts abschätzen können.
     
  • Ratingagenturen: Wie 2009 versprochen, müssen sich Ratingagenturen nun registrieren lassen und es wird überprüft, ob sie Mindestanforderungen erfüllen; Interessenskonflikte (etwa durch gleichzeitige Ratings eines Kunden und Beratungsgeschäft Mit dem Kunden) sollen durch das Verbot bestimmter Geschäftskombinationen weitgehend verhindert werden. Die US-Reformen gehen sogar noch weiter: Im Dodd-Frank-Act werden alle Regulierungsbehörden angewiesen, soweit möglich Verweise auf die Urteile von Ratingagenturen aus den Vorschriften zu streichen. Allerdings schweigt sich das Gesetz darüber aus, was an die Stelle der Rating-Urteile treten soll.
     
  • IWF und internationale Zusammenarbeit: Wie von der G20 versprochen, sind die Mittel des Internationalen Währungsfonds aufgestockt worden. Zur Koordinierung der Aufsichtsbehörden weltweit ist das "Financial Stability Board" gegründet worden.
     
  • Managervergütung: Die G20 hatte versprochen, dass die Vergütungssysteme bei Banken so umgestellt werden sollten, dass sie künftig nicht mehr übermäßige Risikolust fördern sollten. Tatsächlich ist sowohl in den USA als auch in der EU nun verpflichtend, bestimmte Grundprinzipien für Vergütungssysteme einzuhalten, unter anderem die Boni an die mittelfristige Kursentwicklung zu koppeln und die variablen Teile der Vergütung zu begrenzen.

Nicht bzw. kaum umgesetzt wurden dagegen Versprechungen im Bereich globaler Ungleichgewichte. Die G20 hatte versprochen, dass Leistungsbilanzungleichgewichte durch Politikmaßnahmen sowohl in den Defizit- als auch in den Überschussländern zu korrigieren seien. Bislang sind aber vor allem in den Überschussländern wie Deutschland keine Maßnahmen zum Abbau getroffen worden. Die Austeritätspolitik in vielen Defizitländern wie Spanien dagegen hat zwar zum Abbau der Ungleichgewichte beigetragen, hatte aber ganz andere Ziele. In den USA dürfte der Fehlbetrag in den kommenden Jahren nach aktuellen Prognosen von IWF oder OECD sogar wieder aufreißen.


Bewertung

Zusammenfassend kann man so sagen, dass sowohl in den USA wie auch in der EU ein Großteil der 2009 im Rahmen der G20 gemachten Versprechungen tatsächlich umgesetzt wurden.

Warum aber scheint das Problem der Dominanz eines riskanten Finanzsektors über Politik und den Rest der Wirtschaft immer noch nicht gebannt? Das Problem ist, dass die Versprechungen der G20 die tatsächlichen Probleme der globalen Wirtschaft und die Ursachen der Finanzkrise 2008/2009 gar nicht angegangen sind. Die von der G20 genannten übergeordneten Ziele hören sich zwar beeindruckend an, die Versprechungen selber gehen aber auf Detailfragen der Regulierung einzelner Teile des Finanzsektors ein. Dabei schlägt nun durch, dass vor Beginn der Reformen an den Finanzsystemen in den USA und Europa keine einheitliche Krisendiagnose gestellt wurde. Einige Autoren wie etwa Sinn (2009) sehen die Krisenursache vor allem in falschen Anreizen im Finanz- und Bankensystem. Wären die Anreize richtig gesetzt worden, hätte es die Krise nach dieser Lesart nicht gegeben. Nach solch einer Interpretation könnten die G20-Vorschläge tatsächlich dazu führen, die Welt weniger krisenanfällig zu machen.

Glaubt man aber einer etwas komplexeren Analyse, die die Ursachen der Krise 2008/2009 in wachsender Einkommensungleichverteilung, wachsenden Ungleichgewichten zwischen den Ländern und übermäßiger Komplexität der Finanzmärkte sieht (etwa Dullien et al. 2009 oder Rajan 2010), dann haben die G20-Reformen zwei gravierende Schwachpunkte: Erstens ist die G20 nicht das Problem wachsender Ungleichgewichte innerhalb und zwischen Volkswirtschaften angegangen. Viel spricht dafür, dass die Leistungsbilanzdefizite in Ländern wie den USA oder Spanien ebenso wie die Immobilienpreisblasen in diesen Ländern wichtige Ursache der Krise waren, ebenso wie die wachsende Einkommensungleichheit innerhalb der einzelnen Länder. Zwar stand die Begrenzung dieser Ungleichgewichte auf der Liste der G20-Versprechungen von 2009, allerdings ist gerade bei diesem Punkt kaum Fortschritt zu erkennen. Tatsächlich hat sich mit der Krise das Wachstum der Lohneinkommen der breiten Masse in den Industrieländern noch einmal verlangsamt. Von einer stabilen Nachfrage, die sich aus gleichmäßig wachsenden Lohneinkommen speist, kann derzeit keine Rede sein.

Zweitens ist die G20 nicht das Problem angegangen, dass sich der Finanzsektor in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter weg von seinem ursprünglichen gesellschaftlichen Zweck entwickelt hat, nämlich Unternehmen und Haushalte mit Krediten zu versorgen, und immer mehr Energie und Ressourcen in spekulative Aktivitäten steckt. Auch das grundlegende Problem der Intransparenz durch immer neue Finanzinnovationen wurde nicht angegangen.

Hier hätte ein grundsätzliches Umdenken über die Rolle des Finanzsektors in unserer Wirtschaftsordnung stattfinden müssen, statt nur ein paar neue Regeln und Aufsichtsbehörden zu schaffen. Um die Banken auf ihre Kernaufgabe zurückzubesinnen, wäre ein grundsätzliches Verbot spekulativer Bankgeschäfte ebenso erforderlich wie ein Verbot der Kreditbeziehungen zwischen dem Bankensystem und Hedge Fonds und ähnlicher spekulativ tätiger Institutionen. Alternativ könnten diese Aktivitäten mit extrem hohen Eigenkapitalanforderungen belegt werden. Nur so können diese gesellschaftlich unerwünschten Aktivitäten für die Banken ausreichend unattraktiv gemacht werden.

Bei der Frage der Intransparenz der Finanzmärkte wäre eine Umkehr der Beweislast bei der Genehmigung von Finanzprodukten gefragt. Wie heute schon bei Medikamenten sollten neue Finanzinnovationen nur zugelassen werden, wenn der Emittent in der Lage ist nachzuweisen, dass das neue Produkt einen volkswirtschaftlichen Mehrwert schafft und gleichzeitig keine relevanten systemischen Risiken generiert. Ist dieser Nachweis nicht plausibel möglich, blieben die entsprechenden Finanzinnovationen verboten. So könnte sichergestellt werden, dass die Aufsichtsbehörden nicht immer hinter der Innovationsgeschwindigkeit von Finanzinstitutionen hinterher hecheln, die systematisch Finanzinnovationen nutzen, um Regulierungslücken auszunutzen.

Die G20-Reformen verdienen so zwar vielleicht nicht ganz das Prädikat "Thema verfehlt", weil die korrigierten Anreizprobleme am Finanzmarkt durchaus negative Folgen hatten und Krisen auslösen konnten. Davon, der Welt zu einem nachhaltigen und stabilen Wachstum zu verhelfen, sind sie aber weit entfernt.


Dr. Sebastian Dullien ist Professor für Allgemeine Volkswirtschaftslehre an der HTW Berlin.


LITERATUR:

- Dullien, S. (2012),
Anspruch und Wirklichkeit der Finanzmarktreform: Welche G20-Versprechen wurden umgesetzt? Bewertung der Politikmaßnahmen nach der Finanzkrise 2008/9, IMK Study 26/2012, Düsseldorf.

- Dullien, S., H. Herr und C. Kellermann (2009),
Der Gute Kapitalismus, transcript, Bielefeld.

- G20 (2009),
"Declaration on Strengthening the Financial System - London Summit, 2 April 2009", im Internet unter:
http://www.g20.org/Documents/Fin_Deps_Fin_Reg_Annex_020409_-_1615_final.pdf.

- G20 (2009b),
"Leaders' Statement: The Pittsburgh Summit. September 24-25, 2009", im Internet unter:
http://www.g20.org/Documents/pittsburgh_summit_leaders_statement_250909.pdf.

- Rajan, R. G. (2009),
Fault Lines: How Hidden Fractures Still Threaten the World Economy, Princeton University Press, Princeton.

- Sinn, H.-W. (2009),
Kasino-Kapitalismus: Wie es zur Finanzkrise kam und was jetzt zu tun ist, Econ, Berlin.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 3/2012, Heft 190, Seite 19-23
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. August 2012