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FINANZEN/108: Finanzmärkte und Realwirtschaft immer in der Krise? (attempto! - Uni Tübingen)


attempto! 29/2010
Forum der Universität Tübingen
November 2010

Finanzmärkte und Realwirtschaft immer in der Krise?

Von Wilhelm Kohler


Die aktuelle Finanzkrise ist kein neues Phänomen: Seit 1800 durchlaufen die entwickelten Länder in etwa sieben Prozent aller Jahre Finanzkrisen - stets mit erheblichen realwirtschaftlichen Einbrüchen. Eine »ganz normale schwere« Krise also?


Die Finanzkrise in aller Kürze: Zwischen 2006 und 2009 verloren die privaten Häuser in den USA und anderen Ländern im Durchschnitt 30 Prozent ihres Verkehrswertes. Zwischen November 2007 und Oktober 2008 ging der Wert der Aktien weltweit um etwa 26.400 Milliarden US-Dollar (etwa 45 Prozent) zurück. Die krisenbedingten Abschreibungen des Bankensektors werden bis dato auf 2 300 Milliarden Dollar geschätzt. Zum Vergleich das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands 1999: 3.353 Milliarden Dollar.

Die realwirtschaftlichen Konsequenzen: Der Internationale Währungsfonds (IWF) schätzt für die Welt, dass zwischen 2008 und 2015 kumulativ betrachtet die Produktion krisenbedingt 4.700 Milliarden Dollar verlieren wird. Die Arbeitslosenraten stiegen im OECD-Mittel von 7,4 Prozent im Jahr 2008 auf 9,4 Prozent im Jahr 2009. Für 2010 und 2011 erwartet die OECD 10,1 Prozent. Deutschland verharrte aufgrund beschäftigungspolitischer Maßnahmen bei einer Unterbeschäftigung von etwa 7,5 Prozent. Die Rezession hat aber auch Deutschland erfasst: Die Outputlücke (Produktionspotenzial minus tatsächliches Inlandsprodukt) stieg von minus 0,9 Prozent 2008 auf 5,2 Prozent 2009. In 2010 geht man von 4,4 Prozent aus. Die Ursache? Entzauberte Vermögensillusionen. Der IWF schätzte in seinem Finanzstabilitätsbericht 2008 für US-Hypothekendarlehen oder davon abgeleitete Finanzprodukte einen zu erwartenden Gesamtverlust von 500 Milliarden Dollar. Viel, gewiss, aber kann dies das gesamte Ausmaß der nachfolgenden Finanzkrise und der Rezession erklären? Der genannte Einbruch an den Aktienmärkten betrug mehr als das 50-fache, der Outputverlust das 10-fache dieses Wertverlusts! Woher diese enormen Verstärkungsfaktoren? Ist die Realwirtschaft hier zum Spielball der Finanzmärkte geworden? Ist das Finanzmarktgeschehen überhaupt noch im realwirtschaftlichen Geschehen verankert oder wird alles getrieben von Erwartungsspiralen, die - durch die Realität entzaubert - irgendwann in eine realwirtschaftliche Katastrophe münden?

Ein grundsätzlicher Punkt: Die Trennung zwischen Finanzmärkten und Realwirtschaft ergibt eigentlich wenig Sinn. Der Finanzsektor produziert etwas nicht minder Reales als etwa die Autoindustrie. Er überbrückt die Diskrepanz zwischen dem Wunsch der Sparer nach gut kalkulierbarer Verlagerung von Konsumansprüchen in die Zukunft und dem Wunsch der Investoren, gute Ideen zu realisieren, auch wenn dies ihre eigene Bereitschaft und Fähigkeit zu Konsumverzicht übersteigt. Die Diskrepanz betrifft zwei Elemente: Risiko und Zeithorizont. Die Tragfähigkeit einer Idee (Hauskauf, Firmengründung) ist ex ante stets mit Risiko behaftet, und sie übersteigt häufig den Zeithorizont des einzelnen Sparers. Finanzmärkte überbrücken diese Lücken und ermöglichen Investitionsprojekte, deren Risiko zu übernehmen kein einzelner Sparer je bereit gewesen wäre. Finanzmärkte sind also nicht aufgrund dubioser Praktiken mit Risiko behaftet, sondern sie sind definitionsgemäß essentiell mit Risiko befasst.


Exzessives Risiko und Ansteckungseffekte

Banken wollen und müssen natürlich auch Geld verdienen. Dies tun sie vor allem durch Finanzinnovationen, das heißt neue Anlageformen, mit denen - idealiter - die erwähnte Risiko- und Fristentransformation verbessert wird. Leider weicht die Realität von den Idealbedingungen ab: Asymmetrisch verteilte Information und verkehrte Anreizbedingungen führen dazu, dass insgesamt zu viel Risiko eingegangen wird. Der einzelne Sparer trägt dann de facto mehr Risiko, als er eigentlich will, ja als ihm überhaupt bewusst wird. Irgendwann wird exzessives Risiko durch faktische Entwicklungen offenbar - es kommt zur Finanzkrise.

In ihrer Gesamtheit betrachtet halten die Akteure auf modernen Finanzmärkten ganze Kaskaden von Zahlungsversprechen für die Zukunft, etwa der Bedienung und Rückzahlung eines Hypothekendarlehens oder auch von Zahlungen aus Firmenanleihen. Die aus den Zahlungsversprechen realistischerweise zu erwartenden Zahlungen stellen die Aktivseite eines Finanzintermediärs dar. Finanziert wird all dies entweder über Einlagen oder Eigenkapital, die Passivseite. Je höher der Anteil der Einlagen (»leverage«), umso höher die Rendite auf das Eigenkapital, umso höher aber auch das Risiko für den Sparer! Ein ebenso offensichtlicher wie alter Konflikt - ein Grund für die Finanzmarktregulierung.

Nun kann man aber einen bestimmten Finanztitel auch halten wollen, weil man eine Kurssteigerung für diesen Titel erwartet. Entsteht im Markt diese Erwartungshaltung, steigt die Nachfrage, und die Erwartung schafft - sozusagen aus eigener Kraft - die Grundlage für die erwartete Preissteigerung. Geschieht all dies völlig losgelöst von den erwarteten Zahlungen aus dem zugrundeliegenden Zahlungsversprechen (»Fundamentalwert«), dann entsteht eine »Vermögenspreisblase«. Das kann bei allen handelbaren langlebigen Dingen eintreten - bei Häusern, aber auch bei handelbaren Finanztiteln, wie beispielsweise Aktien, und es wird durch Ansteckungseffekte potenziell verstärkt und fortgepflanzt. Aber es kann nicht von Dauer sein, wie uns die Jahre 2007 und 2008 erneut gezeigt haben. Eine geringfügige Änderung der Erwartungshaltung kann zu einem massiven Einbruch der Vermögenswerte führen - der Prozess dreht sich um, meist mit deutlicher Beschleunigung. Was ist der Effekt eines solchen Einbruchs? Betroffene Individuen fühlen sich plötzlich ärmer als zuvor, sie werden ihre Konsumausgaben einschränken - ein erster Auslöser der realwirtschaftlichen Rezession. Besonders tückisch wird es, wenn Banken betroffen sind. Wertminderungen bei ihren Aktiva bedingen zunächst Eigenkapitalverluste, es kommt zu unerwünschter Zunahme des »leverage«. Die Anpassung kann erfolgen durch Aufnahme neuen Eigenkapitals, Verkauf von Vermögenswerten, was den Prozess noch erweitern und beschleunigen kann, oder Reduktion der Darlehensgewährung, was die Finanzierungsbedingungen für Realinvestitionen erschwert - ein zweiter Auslöser der realwirtschaftlichen Rezession. Sehen Anleger die Gefahr der Insolvenz, droht ein Einlagenentzug - im Extremfall ein Ansturm auf die Bank. Im Zuge der 1999 beginnenden Umkehr der »dotcom«-Aktienkursblase entstanden Kursverluste, die kaum geringer waren als jene der Jahre 2007 und 2008. Aber der realwirtschaftliche Einbruch war viel geringer: Outputlücken von gerade einmal einem Prozent - verglichen mit über fünf Prozent im Jahre 2009. Der Grund: Die »dotcom«-Blase hatte kaum zusätzliche Verschuldung bewirkt. Die Hauspreisblase in den USA (plus 70 Prozent von 1999 bis 2006) wurde zum Anlass für verschuldungsfinanzierte Konsumausgaben genommen. Aus Sicht der Banken waren diese Kreditgewährungen nur unter der Annahme weiterer Preissteigerungen überhaupt sinnvoll. Mit dem Zusammenbruch der Preisentwicklung wurde daraus ein Weg in die Krise.


Treibsalz der Krise

US-Banken vergaben Kredite, nur um sie dann - mehrfach gebündelt und in Tranchen gestückelt - sofort weiterzuverkaufen, auch an deutsche Banken. Der Anreiz für die Kreditvergabe bestand in dem erzielten Aufschlag (»fixed fee«), und nicht in der Erwartung von Zins- und Rückzahlungen, wie »früher«, als Banken vergebene Kredite noch bis zur Fälligkeit in den Büchern hielten. Das Anreizproblem liegt auf der Hand: Die Darlehen wurden recht »offensiv« mit relativ geringem Risikoaufschlag an zweifelhafte (»sub-prime«) Kreditnehmer vermarktet. Der Fundamentalwert von solcherart durch Hypotheken gesicherten Kreditverbriefungen ergibt sich aus einer Vielzahl von verschiedenen Zahlungsversprechen, die dem Käufer meist gar nicht bekannt sind. Wie viel ist so etwas wert? Es sollte sich herausstellen, dass die etablierten Bewertungsmodelle diese Frage nicht befriedigend beantworten konnten. Die abgestufte Verbriefung von Krediten ist eine naheliegende Finanzinnovation und mitnichten absurd. Zum Treibsatz einer Krise wird sie indes in einer Umgebung mit adversen Anreizstrukturen und mit Bewertungsmodellen und -praktiken, die auf eine systematische Unterbewertung von Risiken hinauslaufen. Bleibt zu hoffen, dass diese Erfahrung zu einer verbesserten Finanzmarktregulierung führen wird. Bislang wurden nur Teilerfolge erzielt. Die Zeit wirkt nicht zu unseren Gunsten.


Wilhelm Kohler ist seit 2004 Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Volkswirtschaftslehre an der Universität Tübingen. Zuvor hatte er Professuren in Konstanz, Essen und Linz inne.


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Quelle:
attempto!, November 2010, S. 12-13
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attempto! erscheint zweimal jährlich zu Semesterbeginn


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Januar 2011