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FRAGEN/033: Wenn Verhaltensökonomie politisch wird (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 158/Dezember 2017
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Beeinflussen, aber nicht einschränken
Wenn Verhaltensökonomie politisch wird

Interview mit Steffen Huck und Dorothea Kübler von Gabriele Kammerer


Ausgerechnet ein etwas unappetitliches und überdies exklusives Beispiel muss immer wieder herhalten, wenn es um Nudging geht: die kleine aufgeklebte Fliege in Urinalen öffentlicher Männertoiletten. Durch die Zielfigur soll die Treffgenauigkeit um achtzig Prozent gestiegen sein, und das ohne Sanktionen, ohne Belehrungen, schlicht durch einen spielerischen Anreiz. Mit Informationen aus der Verhaltensökonomie menschliches Verhalten steuern: Das hat Konjunktur, nicht nur im Marketing, sondern auch in der Politik. Sogar der diesjährige Wirtschaftsnobelpreis trägt dem Rechnung. Er ging an Richard Thaler, der den Begriff "Nudging" geprägt und bekannt gemacht hat. Gabriele Kammerer hat mit den WZB-Ökonomen Steffen Huck und Dorothea Kübler gesprochen - nicht über Stubenfliegen.


Gabriele Kammerer: Herzlichen Glückwunsch zum Nobelpreis für Ihre Fachrichtung! Bestätigt der Preis Ihre Forschung?

Dorothea Kübler: Ja, auf jeden Fall. Die Verhaltensökonomik ist im Bereich der Wirtschaftswissenschaften und der Wirtschaftspolitik immer noch unterbelichtet. Wenn man sich die deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute anschaut - das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin, das ifo Institut in München, das Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung und auch die Hauptvertreter dort, dann sind die überwiegend nicht verhaltensökonomisch orientiert.

Steffen Huck: Man sollte sich allerdings von der Berichterstattung über den Preis nicht dazu verleiten lassen, die Verhaltensökonomie als den neuen Heilsbringer für die Ökonomie zu sehen. Sicher haben wir grade durch die experimentelle Forschung mit ihren vielen sehr robusten Erkenntnissen über Fairness, über Ungeduld, über Angst vor Verlusten bessere Modelle gewinnen können. Aber wir stehen noch ziemlich am Anfang, weil wir noch nicht genau wissen, wo die Demarkationslinien verlaufen: Wo brauchen wir die neuen Ansätze der Verhaltensökonomie, wo aber tun es die traditionellen Ansätze auch?


G.K.: Lassen Sie uns über den neuen Ansatz des "Nudging" reden.

Huck: Die Verhaltensökonomie geht davon aus, dass Menschen nicht einfach rational agieren, wenn sie wirtschaftliche Entscheidungen treffen, sondern "reichere Präferenzstrukturen" haben, wie wir sagen. Ihre nichtrationalen Motive versuchen Verhaltensökonomen aufzuspüren. Nudging ist der Versuch, diese Erkenntnisse zu nutzen, um das Verhalten von Menschen zu beeinflussen.

Kübler: Nudging sind Maßnahmen, die das Verhalten beeinflussen, aber nicht einschränken. Es geht um kleine "Stupser", also weder um Verbote noch um starke wirtschaftliche Anreize. Die Grenzen sind allerdings fließend: Richard Thaler und sein Koautor Cass Sunstein bezeichnen auch den Emissionshandel, in dem es um enorme Summen Geld geht, als eine Form des Nudging. Für sie ist auch das eine wirtschaftspolitische Maßnahme, die nur sanft reguliert, weil die Leute ja noch die Freiheit haben, CO2 zu emittieren, wenn sie diese Zertifikate kaufen.


G.K.: Auf welchen Feldern spielt Nudging eine Rolle?

Kübler: Da gibt es inzwischen schon klassisch gewordene Bereiche: Menschen sind ehrlicher bei der Steuererklärung, wenn sie zu Beginn unterschreiben, dass sie alles nach bestem Wissen und Gewissen ausfüllen. Viele Untersuchungen gibt es zu gesunder Ernährung: Wie muss ich in Kantinen das Essen anordnen, damit Kunden zum Nachtisch einen Apfel essen statt des Schokopuddings? Ein weiterer Bereich ist die Altersvorsorge. Leute sparen fürs Alter, wenn sie beim Eintritt in ein Unternehmen automatisch in der Altersvorsorge drin sind. Der Status quo wird umdefiniert. An diesem Beispiel kann man übrigens auch zeigen, warum der Nudge-Hype, den wir grade beobachten, von Amerika ausgeht. In den USA gibt es viel weniger wohlfahrtsstaatliche Regelungen - zum Beispiel zur Rente - und viel mehr Raum für sanft motivierende Maßnahmen. Wir haben weniger Hemmungen, wirtschaftspolitische Maßnahmen zu ergreifen oder zu dulden, die die individuelle Freiheit einschränken.


G.K.: Welche Rolle kommt dem Staat beim Nudging zu?

Kübler: Ursprünglich stammen die Methoden aus dem Marketing. Aber wie sagte der Chefökonom der Weltbank mal so schön? Wenn Unternehmen das können, dann ist es nicht fair, dass wir das im öffentlichen Bereich nicht auch nutzen. Der Weltentwicklungsbericht 2015 zum Beispiel war diesem Thema gewidmet: Wie kann man Verhaltensökonomik nutzbar machen für Entwicklungspolitik? Dahinter stand die Idee: Überall wird genudgt, von Unternehmen werden irgendwelche Tricks angewandt. Warum nicht auch für den guten Zweck?


G.K.: Wer sagt denn, dass Vater Staat es besser weiß und Bürger bevormunden darf?

Kübler: Das ist ein wichtiger Einwand. Nicht umsonst spricht Richard Thaler vom "libertären Paternalismus". Darauf gibt es verschiedene Antworten. Zunächst mal sind viele Gesetze in Deutschland paternalistisch. Die Helmpflicht beim Motorradfahren etwa ist einfach eine Vorschrift. Für Nudging-Maßnahmen gilt wie für alle anderen Vorgaben: Sie müssen politisch gut begründet sein. Die zweite Antwort ist, dass wir versuchen, systematisch zu verstehen, was Leute wollen und welche systematischen Fehler sie machen. Und dann sagen wir, wissenschaftlich fundiert: Okay, wir sind ziemlich sicher, dass dieses Verhalten den langfristigen Interessen dieser Personen widerspricht. Wir wissen es dann tatsächlich ein bisschen besser.


G.K.: Es soll im Kanzleramt eine Abteilung namens "Wirksames Regieren" geben ...

Kübler: Das ist eine kleine Gruppe von Leuten, soweit ich weiß drei, von denen sieht und hört man nicht viel. Sie haben wohl weniger den Auftrag, öffentlichkeitswirksam bestimmte Themen zu vertreten, wie das bei Nudging-Teams in anderen Ländern durchaus der Fall ist. Vielmehr bekommen sie aus den Ministerien Anfragen für bestimmte Projekte. Aber wie gesagt: Hier in Deutschland stehen wir nicht unter so einem großen Rechtfertigungsdruck, wenn wir Freiheiten einschränken. Nudging ist in den USA auch ein bisschen eine Notlösung. Wir haben nun mal nicht solche Skrupel, Waffen zu verbieten, zum Beispiel.


G.K.: Für manche ist Nudging bedrohlich, gerade in der digitalisierten Welt befürchten sie Manipulation.

Huck: Und in Teilen durchaus zu Recht. Die wirklichen Großmeister des Nudging sind und bleiben Firmen. Gerade im Onlinebereich, wo es so leicht ist, enorme Mengen Daten zu sammeln, ist der Verbraucher gut beraten, ein wenig Skepsis an den Tag zu legen. Wir haben zur Darstellung von Preisen geforscht. Wir haben untersucht, wie sich Kaufverhalten ändert, wenn Preise zum Beispiel als "3 für 2" dargestellt oder in ihre verschiedenen Komponenten zerlegt werden, ein Grundpreis plus Kreditkartengebühr plus Versandkostenpauschale, und da zeigt sich auf erschreckende Weise, wie selbst hochintelligente und hochkonzentrierte Verbraucher in die Irre geführt werden können.

Kübler: Ein anderes drastisches Beispiel ist der New Yorker Taximarkt. Da wird einem bei der Kartenzahlung vorgegeben, wie viel Trinkgeld man geben kann. Man kann auch frei irgendwas eintippen, aber wenn man faul ist, drückt man auf einen der Knöpfe. Inzwischen steht da 20, 25 oder 30 Prozent. Diese Maßnahme hat das Trinkgeld verdoppelt! Das ist ein kleines Beispiel dafür, wie stark das Verhalten beeinflusst werden kann, wie Konsumenten ausgenommen werden können. Sensibilität für dieses Nudging durch Firmen kann auch eine Devise sein. Also: Anti-Nudging!


G.K.: Was tun, um Schaden abzuwenden?

Huck: In manchen Fällen ist die Antwort darauf sicher: bessere Regulierung, die die Erkenntnisse der Verhaltensökonomie einbezieht. Aber man muss aufpassen, denn Regulierung kann auch nach hinten losgehen. Mein Kollege am University College London, Ran Spiegler, hat dafür sehr eindrucksvolle Beispiele ausgearbeitet. Er zeigt, dass es nicht genügt, die Existenz eines "Bias" im Verhalten, also einer Abweichung von rationalem Entscheiden, zu kennen. Wir müssen den psychologischen Mechanismus, der der Abweichung zugrunde liegt, entschlüsseln. Und davon sind wir selbst bei vielen empirisch sehr gut belegten Abweichungen noch weit entfernt.


G.K.: Die Forschung darf also nicht bei der Beschreibung von abweichendem Verhalten aufhören.

Kübler: In den ersten Jahrzehnten hat es oft für sehr gute Publikationen gereicht, einen merkwürdigen Verhaltenseffekt zu dokumentieren. Heute verlangen die guten Journals zum Glück meist mehr, und das bringt die Ursachenforschung schon voran.
G.K.: Arbeiten Sie in Ihren Abteilungen an solcher Ursachenforschung?

Huck: Na klar. Augenblicklich beschäftigen wir uns vor allem mit den Wurzeln von nicht rationalen Erwartungen, zum Beispiel mit dem Phänomen des Überoptimismus, der oft bei Entrepreneuren zu finden ist. Wir schreiben ein Papier, das experimentell untersucht, inwiefern schlichtweg schlechte Datenanalyse solchen Überoptimismus generieren kann. Unternehmer sehen immer nur den Erfolg anderer Unternehmen, die tatsächlich gegründet worden sind. Wenn man vergisst, dass weitere vielleicht dieselbe Idee hatten, aber gar nicht erst gegründet haben, wird man schnell zu optimistisch.


G.K.: Gibt es sowas auch in der Forschung?

Huck: Ja, absolut. Wann immer man meint, eine neue tolle Idee zu haben, die in der Literatur noch nicht vorkommt, sollte man sich fragen, ob das wirklich daran liegt, dass noch keiner auf denselben Gedanken gekommen ist. Es könnte doch auch sein, dass die Idee am Ende zu nichts führt. Wenn man das beherzigt, kann man sich viele Irrwege ersparen.


G.K.: Aber es gibt sie noch, die ganz neuen Ideen in der Verhaltensökonomie?

Kübler: Ja, aber die ganz neuen und womöglich tatsächlich guten darf man nie verraten.


Dorothea Kübler ist Direktorin der Abteilung Verhalten auf Märkten und Professorin an der Technischen Universität Berlin. Sie forscht vor allem zu Verhaltensökonomik und experimenteller Wirtschaftsforschung, Matching-Märkten, Entscheidungsverhalten.
dorothea.kuebler@wzb.eu

Steffen Huck ist Direktor der Abteilung Ökonomik des Wandels am WZB und Professor für Ökonomie am University College London.
steffen.huck@wzb.eu

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 158, Dezember 2017, Seite 12-14
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 491-0, Fax: 030/25 49 16 84
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Januar 2018

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