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FRAGEN/046: Regulierung auf neuen Wegen - die Zukunft liegt in der wirtschaftlichen Mitbestimmung (spw)


spw - Ausgabe 6/2019 - Heft 235
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Digitaler Kapitalismus
Regulierung auf neuen Wegen - die Zukunft liegt in der wirtschaftlichen Mitbestimmung

Betriebliche Mitbestimmung in der digitalen Transformation

Interview mit Constanze Kurz* von Arno Brandt


spw: Was ist bei euch angesichts der digitalen Transformation gerade das Hauptthema in der Betriebsratsarbeit?

Constanze Kurz: Hauptthema der gegenwärtigen Stufe der Digitalisierung in der Produktion - und damit sind wir auch in der Interessensvertretungsarbeit beschäftigt - ist alles das, was mit Fertigungssteuerung zu tun hat und unter dem Begriff des Manufacturing Execution Systems (MES) läuft. MES ist eigentlich nicht wirklich neu, aber das, was es heute kann, ist innovativ. Es geht um Optimierung der Arbeitszeiten, Rückverfolgbarkeit der einzelnen Prozessschritte (die zur Herstellung eines Produkts notwendig sind), hohe Qualität etc. Neu ist vor allem der modulare Aufbau dieser Steuerung. Damit kann man alle Prozesse in der Produktion mit allen anderen Prozessen im Unternehmen verbinden. Zum Beispiel ist es damit grundsätzlich möglich, MES-Daten mit Personalprozessen zu verbinden, um Fragen, wie z.B. die qualifiziertesten Mitarbeiter optimal eingesetzt werden können, zu beantworten. Vor diesem Hintergrund lässt sich grundsätzlich die Tendenz beobachten, alle Daten im Unternehmen möglichst vollständig zu erfassen. Die Daten werden auch nicht mehr getrennt gesammelt, sondern landen in einem großen Datensee. Dieser Datensee wird mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz für Optimierungszwecke ausgewertet. Dabei handelt es sich um eine riesige Produktivitätsmaschinerie, die auf der Ebene von intelligenter Auswertung in Gang gesetzt wird. Man ist jetzt weit darüber hinaus, dass man bloß Daten zur Verfügung hat. Wir sind in eine Phase getreten, wo es Werkzeuge und Methoden gibt, die Daten auszuwerten und sie in die Steuerung der Produktion bzw. für Arbeitsanweisungen für selbststeuernde bzw. selbstoptimierende Prozesse einfließen zu lassen. Ziel dieses Manövers ist Optimierung, die Herstellung hoher Transparenz und die Steuerung aller Prozesse im Unternehmen. Vom Management ist damit die Hoffnung auf einen gewaltigen Produktivitätsfortschritt verbunden.


spw: Wie geht ihr mit diesen Veränderungen im Rahmen der betrieblichen Mitbestimmung um?

Constanze Kurz: Der Klassiker im Rahmen der Mitbestimmung ist in diesem Kontext die Frage nach der Rolle, die Personaldaten spielen, also ob das System zur Leistungs- und Verhaltenskontrolle dient.

Diese Kontrolle geschieht nicht immer direkt, sondern vielmehr indirekt. Von Seiten der betrieblichen Mitbestimmung ist es vielfach gar nicht möglich, diese Prozesse in ihrer ganzen Bandbreite zu kontrollieren. Wir wissen nicht genau, was in den Datensee geht und was mit den Daten gemacht wird. Im Grunde läuft der Plan des Unternehmens auf die datentechnische Durchdringung sämtlicher Produkte und Prozesse hinaus.


spw: Aber grundsätzlich gibt es doch im Rahmen des Betriebsverfassungsgesetzes die Möglichkeit zu intervenieren, soweit es um die persönlichen Daten der Beschäftigten geht?

Constanze Kurz: Ja, wir haben formelle Rechte auf der Grundlage des BetrVG und wir haben ja auch Betriebsvereinbarungen, die in unserem Unternehmen sogar vorbildlich sind. Sämtliche technische Neuerungen werden auf Formblättern erfasst und auf diesen Formularen müssen auch die Folgewirkungen benannt werden. Das Problem ist aber, dass die Vereinbarungen in einer Zeit ausgehandelt wurden, als es noch einzelne Tools gab, bei denen man wusste, was sie konnten und bei denen man eine Verständigung darüber erzielen konnte, was die Arbeitsfolgen waren. Das ist heute immer weniger der Fall. Das Ursache-Wirkungs-Prinzip funktioniert nicht mehr in gewohnter Form. Insofern beobachten wir zunehmend Versuche, die Betriebsvereinbarungen auszuhebeln. Das System der Betriebsvereinbarungen ist eigentlich gut, aber es hat mittlerweile zu einer riesigen Genehmigungsbürokratie geführt.

Auch gut qualifizierte Betriebsräte können inzwischen immer weniger die Folgewirkungen der neuen Technologien beurteilen. Wir bekommen einzelne Tools durchaus zu fassen, aber wir begreifen oft nicht, dass diese Tools Bestandteil eines größeren Vorhabens sind. Das Problem ist vielfach, dass wir über die strategische Reichweite der Tools nicht aufgeklärt werden. Dadurch sind wir immer öfter nicht in der Lage, die Folgen dieser Technologien abzuschätzen.


spw: Beurteilst du vor diesem Hintergrund die Schutz- und Gestaltungsfunktionen der betrieblichen Mitbestimmung eigentlich skeptisch oder sollten die von dir beschriebenen Erfahrungen Anlass für neue bzw. erweiterte Mitbestimmungsrechte sein?

Constanze Kurz: Wenn die bestehenden Rechte konsequent genutzt werden, kann man auf ihrer Grundlage eine ganze Menge erreichen. Die eigentlichen Probleme liegen in den neuen Produkten und neuen Geschäftsmodellen. Wie uns hier die betriebliche Mitbestimmung weiterhelfen kann, ist mir noch unklar. Wirkliche Lösungen liegen meines Erachtens mehr in einer wirtschaftlichen Mitbestimmung.


spw: Wieso kann denn eine wirtschaftliche Mitbestimmung zu besseren Ergebnissen führen?

Constanze Kurz: Wenn wir uns nicht nur reaktiv auf technische Veränderungen beziehen, sondern perspektivisch gestalten wollen, müssen wir mehr über die unterschiedlichen Innovationsfelder ins Gespräch kommen. Dabei müsste der gesamte betriebliche Apparat mehr in den Blick genommen werden. Gegenwärtig liegen die Dinge so, dass der Fokus auf einzelnen Aspekten des Apparates liegt; Restrukturierungen oder Prozessinnovationen werden selten in einem Gesamtzusammenhang gesehen. In der Kooperation zwischen Betriebsrat und Management kommt die Frage, wie neue Produkte oder Restrukturierungen gestaltet werden könnten, sehr selten auf die Agenda. Wenn solche übergreifenden Diskussionen durch eine erweiterte Mitbestimmung gestärkt werden könnten, würden andere Möglichkeiten sowohl in Bezug auf die Gestaltung als auch in Bezug auf die Politisierung entstehen.


spw: Die Arbeiten von Werner Abelshauser und anderen zeigen, dass kooperative Modelle der industriellen Beziehungen in der Vergangenheit integraler Bestandteil des deutschen Produktionsmodells mit seiner Orientierung auf diverse Qualitätsprodukte waren. Wird dies unter den neuen technologischen Bedingungen, die sich im Rahmen der digitalen Transformation durchsetzen, auch noch so sein?

Constanze Kurz: In der Vergangenheit war das in jedem Fall so. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Pfadabhängigkeit. Die institutionellen Strukturen verschwinden ja nicht so ohne weiteres nur weil es jetzt neue Geschäftsmodelle gibt. Ein Großteil der Umsätze wird überdies immer noch in den bisherigen Märkten realisiert. Es ist aber auch klar, dass in den traditionellen Märkten der Automobilindustrie in Zukunft nicht mehr mit einem Wachstum zu rechnen ist. Im Gral des alten Modells tut man sich schwer, in die neue soziale Ordnung zu schlüpfen. Ob das die Mitbestimmungsstrukturen, die sozialen Strukturen oder die Organisationsstrukturen sind, der Hort der Agilität ist das alles nicht. In den Unternehmen, die sich anschicken, ihre Fundamente zu bewegen, gibt es beachtliche Dynamiken. Das alte Modell hat schon tiefe Spuren hinterlassen, wie Verhandlungen geführt wurden oder man politisch unterwegs war. Allein schon wenn man sich vergegenwärtigt, wieviel in den alten Kernbereichen verdient wurde. Die Lohndifferenziale zwischen den neu einsteigenden Softwareentwicklern und den alten Stammbelegschaften sind beträchtlich und müssen jetzt durch einen Prozess der "Anflugkurven" schrittweise abgebaut werden.


spw: Die alten Kulturen spielen also auch aktuell in den Organen der Mitbestimmung eine Rolle?

Constanze Kurz:: Auch in der neuen Welt zählen die Werte der alten Welt etwas. Bei uns gibt es seit geraumer Zeit eine neue Unit mit Hunderten von Leuten, viele junge Kollegen und Kolleginnen, aber auch ältere, alles durcheinander, deren Arbeitsplätze sich in einem Gebäude befinden, das mehr an die Start-up-Welt erinnert. Wir haben dort einen Übergangsbetriebsrat mit Hilfe von Kollegen aus anderen Entwicklungszentren gegründet, die die Mentalität und die Kultur im Unternehmen gut kennen. Auf diese Weise kommen wir mit den Leuten ins Gespräch und zwar über Themen, die unmittelbar ihre Interessen berühren. Die Akzeptanz der Interessensvertretung ist in der neuen Unit dadurch sehr stark ausgeprägt.


spw: Kann man sagen, dass sich die Kooperationskultur des alten Produktionsmodells auch unter den neuen Bedingungen fortsetzt?

Constanze Kurz: Soweit ich erkennen kann, bleibt diese Kooperationskultur auf der betrieblichen Seite erhalten, aber sie findet sich in neuen Formen wieder, die etwas mit Neuorganisation der Arbeit, der Interaktion, der Durchlässigkeit und der Agilität von Arbeit zu tun haben. Auf der gewerkschaftlichen Ebene gibt es aber erhebliche Probleme der Akzeptanz seitens des Managements. Es findet mittlerweile zudem ein schleichender Prozess der Verschiebung zwischen direkter und indirekter Arbeit statt. Dem alten Modell war die Vorherrschaft der Produktionsarbeit inhärent. Bei den jetzt stattfindenden Strukturveränderungen zugunsten der indirekten bzw. Büroarbeit finden sich die Angestellten vielfach aber noch nicht angemessen in den betrieblichen Mitbestimmungsorganen repräsentiert. Auf der Ebene der sozialen Veränderungen tut sich die Mitbestimmung schwer, diesen Wandel nachzuvollziehen.


spw: Hast du eine Idee, wie es gelingen könnte, mehr Beschäftigte aus den indirekten Bereichen für ein gewerkschaftliches Engagement und eine Mitwirkung in den Organen der Mitbestimmung zu gewinnen?

Constanze Kurz:: Das ist für mich eine der großen Herausforderungen. Gerade wenn es in Zukunft auch um eine wirtschaftliche Mitbestimmung gehen soll, brauchen wir die Angestellten, um organisationsmächtig zu bleiben. Uns fehlen zurzeit einfach die Ressourcen, aber manchmal auch der Mut in die Entwicklung, in die Forschung, in die Büros hineinzugehen. Man muss in diese Bereiche mit den besten Kolleginnen und Kollegen gehen. Man muss vor allem vermeiden, dort mit aufgesetzten Themen landen zu wollen. Es ist in erster Linie eine Frage der kompetenten Ansprache auf gleicher Augenhöhe und wir brauchen eine enge Verzahnung von gewerkschaftlichen und betrieblichen Aktivitäten.

Dies vorausgesetzt, funktioniert es auch in den indirekten Bereichen den gewerkschaftlichen Organisationsgrad zu erhöhen und Angestellte zu motivieren. Es gibt in unserem Unternehmen Entwicklungsstandorte, an denen nicht unerheblich Neumitglieder gewonnen werden konnten, aber es braucht seine Zeit.


Anmerkung:
* Dr. Constanze Kurz arbeitet bei der Robert Bosch Gruppe als Leiterin des Büros des Konzern- und Gesamtbetriebsrates. Themenschwerpunkte: Digitalisierung und digitale Transformation, Innovation, Arbeitsgestaltung und Kompetenzentwicklung.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 6/2019, Heft 235, Seite 70-72
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Februar 2020

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