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INTERNATIONAL/050: Die industriellen Beziehungen in Russlands Autoindustrie wandeln sich (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 133/September 2011
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Neuordnung der Macht
Die industriellen Beziehungen in Russlands Autoindustrie wandeln sich

Von Martin Krzywdzinski


Kurzgefasst: Der Zuzug ausländischer Automobilunternehmen nach Russland verändert das bisherige, autoritär geprägte Modell der industriellen Beziehungen. Es konnten sich neue Gewerkschaften etablieren, die nicht mehr dem mit der Präsidentenpartei koalierenden post-kommunistischen Gewerkschaftsverband angehören. Nicht zuletzt auf Druck der Europäischen Betriebsräte sowie der Betriebsräte und Gewerkschaften in den Mutterländern erkennen die Unternehmen die neuen Gewerkschaften an und bemühen sich um den Transfer ihrer europäischen Standards der industriellen Beziehungen nach Russland.


Wenn nach Jahrzehnten staatlicher Lenkung die Dynamik der kapitalistischen Ökonomie entfesselt wird, stehen postkommunistische Staaten vor enormen Herausforderungen. Das staatliche und gesellschaftliche Machtgefüge wandelt sich auf allen Ebenen. Das gilt auch für die Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Schwer mit dem Wandel tun sich besonders Staaten, die wie Russland oder China den Pfad einer mehr oder weniger ausgeprägten autoritären Herrschaft fortgesetzt haben; sie bemühen sich weiter um eine Kontrolle der industriellen Beziehungen. Wenn im Zuge der wirtschaftlichen Liberalisierung dann ausländische Unternehmen Standorte aufbauen oder Firmen übernehmen, kommen ganz neue Akteure ins Spiel. Während sich viele Unternehmen an den lokalen Kontext anpassen, wollen manche Unternehmen ihre Standards der Koalitionsfreiheit und der kooperativen Beziehungen zu Gewerkschaften auch in diesen autoritären Staaten nicht aufgeben. Welche Konflikte daraus erwachsen können, lässt sich am Beispiel ausländischer Automobilhersteller aufzeigen, die in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre nach Russland kamen und neue Entwicklungsmöglichkeiten für Gewerkschaften schufen.


Das russische Modell der "sozialen Partnerschaft"

Nachdem Vladimir Putin im Jahr 2000 zum Präsidenten der Russischen Föderation gewählt worden war, begann eine Reorganisation des russischen Staates. Putin förderte die Entwicklung der Partei "Einiges Russland" (Jedinaja Rossija) zur sogenannten "Partei der Macht". Als administrative Schöpfung mit Putin als Vorsitzendem repräsentiert sie die Politik des Präsidenten und organisiert ein breites Spektrum kooperierender Organisationen (Jugendorganisationen, Wohlfahrtsverbände, Berufsvereinigungen etc.). Auch die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern veränderten sich. Konsultationen mit ausgewählten Verbänden wurden stärker institutionalisiert; dabei blieb die Bindung des Staates an bilaterale Vereinbarungen gering. Ein Konsultationsforum wurde die bis dahin passive Russische Tripartistische Kommission für die Regulierung der Sozial- und Arbeitsverhältnisse (RTK).

In den industriellen Beziehungen wurde die Föderation der Unabhängigen Gewerkschaften Russlands (FNPR), der Nachfolger des kommunistischen Gewerkschaftsverbands, zum bevorzugten Partner des Staates in einem Modell, das offiziell als "soziale Partnerschaft" (socialnoe partnerstvo) bezeichnet wird. Die FNPR hat etwa 25 Millionen Mitglieder und organisiert damit immer noch über 90 Prozent aller Gewerkschaftsmitglieder Russlands. Sie gehörte ursprünglich nicht zu Putins Lager, entschied sich aber schließlich für eine Zusammenarbeit mit dem Präsidenten. Die Duma-Abgeordneten der FNPR traten der Fraktion von "Einiges Russland" bei, und die FNPR unterschrieb 2004 ein formales Kooperationsabkommen mit "Einiges Russland", das 2008 erneuert wurde. Im Gegenzug für ihre Loyalität zu Putins Politik erreichte die FNPR einige Neuerungen im Arbeitsrecht. Es wurden hohe Hürden für die Mitgliedschaft in der RTK und für das Recht zur Aushandlung von Kollektivverträgen geschaffen; so schützen sich die etablierten FNPR-Gewerkschaften vor Wettbewerbern. Durch die Verbindungen zu "Einiges Russland" genießt die FNPR zudem die Unterstützung staatlicher Organe.

Wie ist nun das Selbstverständnis der FNPR? Eine Umfrage des russischen Forschungsinstituts ISITO unter Betriebsgewerkschaften gibt hierüber Auskunft. Eine der Fragen bezog sich auf die Verwendung der Mitgliedsbeiträge. Bemerkenswert war, dass 49 Prozent der Beitragssumme für materielle Unterstützung bedürftiger Gewerkschaftsmitglieder und weitere 38 Prozent für die Organisation von Ferien sowie Kultur- und Sportveranstaltungen verwendet wurden. Nur 2,5 Prozent des Budgets wurden für Information und arbeitsrechtliche Beratung aufgewendet. Gar keine Mittel flossen in Streikfonds. Die FNPR-Gewerkschaften verhalten sich faktisch wie eine Abteilung für soziale Unterstützung und Freizeitgestaltung.

Neben der FNPR konnten sich in Russland nur zwei Gewerkschaftsverbände etablieren, die sich 2010 unter dem Namen "Konföderation der Arbeit Russlands" (KTR) zusammengeschlossen haben. Die "Konföderation" hat etwa eine halbe Million Mitglieder und unterscheidet sich im Selbstverständnis deutlich von der FNPR. Sie zeichnet sich durch eine konfliktorientierte Haltung aus, die die Opposition zwischen Beschäftigten und Unternehmen betont. Viele ihrer Betriebsorganisationen entstehen spontan in konkreten Konflikten um Arbeitsbedingungen und Löhne. Grund der Hinwendung zur KTR ist dabei oft die Enttäuschung über mangelnde Unterstützung seitens der FNPR.


Chancen für neue Gewerkschaften

Auch in der russischen Automobilindustrie ist eine Mitgliedsgewerkschaft der FNPR die stärkste Kraft: die Gewerkschaft der Automobil- und Landwirtschaftsmaschinenarbeiter (ASM) mit rund einer halben Million Mitglieder. Die prägende Erfahrung der russischen Automobilunternehmen war der Zusammenbruch der Produktion in den 1990er Jahren. Durch die Inflation kam es zu einer massiven Entwertung der Löhne, und die Unternehmen hörten sogar teilweise ganz auf, Löhne auszuzahlen. Trotz ihrer formal starken Position in den Betrieben hat die ASM die Nichtauszahlung von Löhnen akzeptiert und weitgehende Konzessionen gemacht. Die Gewerkschaft setzte ihre Hoffnungen auf die Entwicklung eines korporatistischen Arrangements mit einem zentralisierten Arbeitgeberverband. Das Problem war allerdings, dass es einen Arbeitgeberverband der Automobilindustrie nicht gab.

Trotz der Defizite bei der Interessenvertretung der Beschäftigten erwies sich das postsowjetische System der Interessenvertretung als erstaunlich stabil. Insbesondere die staatliche Unterstützung stabilisierte die ASM. Die Ankunft der ausländischen Automobilunternehmen sollte jedoch die industriellen Beziehungen in der russischen Automobilindustrie verändern. Die ersten ausländischen Automobilhersteller in Russland waren General Motors (2001) und Ford (2002). 2005 folgte Renault, 2008 folgten Volkswagen und Toyota, 2009 Nissan und 2010 Hyundai. Die ausländischen Hersteller veränderten die Handlungsbedingungen für Gewerkschaften:

- Die ASM versäumte es lange Zeit, in den neu eröffneten Werken die Beschäftigten zu organisieren; ihr fehlten Erfahrungen und Ressourcen für die Organisierung neuer Mitglieder in Betrieben, in denen die gewohnte Unterstützung durch Management und Staat fehlen.

- Die ausländischen Automobilunternehmen siedelten sich in industriellen Wachstumszonen an, in denen Arbeitskräfte rasch knapp wurden. Diese Arbeitsmarktsituation erleichterte die Organisierung der Arbeiter.

- Bei europäischen Herstellern drängen die Gewerkschaften und Betriebsräte in den Unternehmenszentralen auf weltweite Anerkennung von Mindeststandards der Arbeitsbeziehungen. Zudem bieten die Europäischen Betriebsräte die Möglichkeit, die Einhaltung dieser Mindeststandards zu kontrollieren.


Der Streik bei Ford als kritisches Ereignis

Der Arbeitskampf im russischen Werk von Ford erwies sich als ein entscheidender Wendepunkt. Das 2002 eröffnete Ford-Werk in Vsevolozhsk (24 km von St. Petersburg) beschäftigte 2011 insgesamt 3.000 Mitarbeiter. Kurz nach der Werksgründung entstand eine Gewerkschaft, die jedoch weitgehend passiv blieb. Zu einem Erweckungsereignis wurde die Einladung der Gewerkschaft von Ford do Brasil an die russischen Kollegen. Die russischen Besucher lernten eine vollkommen andere Gewerkschaftsarbeit kennen und engagierten sich nach ihrer Rückkehr für die Reform ihrer Organisation.

Innerhalb kurzer Zeit gelang es, 1.100 Arbeiter in der Gewerkschaft zu organisieren. 2005 kam es zu einem ersten großen Konflikt, bei dem die Gewerkschaft eine fast 30-prozentige Lohnerhöhung durchsetzte und die Kontrolle über die Verteilung des Sozialfonds im Unternehmen gewann. Im Winter 2007 kam es zu einem weiteren dreiwöchigen Streik um Lohnerhöhungen, der ein sehr großes öffentliches Echo hatte. Das Unternehmen ließ Streikbrecher von der Polizei in die Fabrikhallen eskortieren. Der Streik endete mit einem Kompromiss. Das Management erkannte die Gewerkschaft an; die industriellen Beziehungen begannen einen kooperativen Charakter anzunehmen.

Bedeutung für die gesamte Automobilbranche erlangte die Gewerkschaft bei Ford, als sie 2007 die Gründung der Interregionalen Gewerkschaft der Automobilarbeiter (MPRA) initiierte. Die Motive beschreibt der Gewerkschaftsvorsitzende der MPRA folgendermaßen: "Im Jahr 2005 haben wir auf der Grundlage einiger internationaler Beispiele die Mitarbeiter bei Ford organisiert. Nach anderthalb Jahren von Kämpfen und Verhandlungen erkannten wir, dass wir uns in einer Sackgasse befanden. Bei den Verhandlungen haben wir vom Arbeitgeber nur das eine gehört: 'Schaut euch mal um. Die Gehälter und die Arbeitsbedingungen sind bei anderen Unternehmen noch schlimmer.' Uns war damit klar, dass wir uns nur dann nach vorne entwickeln können, wenn wir die Mitarbeiter aller Betriebe in eine Organisation vereinigen."

Ende 2010 hatte die MPRA bereits 15 Betriebsorganisationen und etwa 4.000 Mitglieder, obwohl sie Repressionsmaßnahmen ausgesetzt war; es gab sogar physische Angriffe auf Gewerkschafter. Neben Ford wurde das Volkswagen-Werk in Kaluga, etwa 200 km von Moskau, zu einem Testfall für die Entwicklung neuer Muster der industriellen Beziehungen. Das Werk nahm 2008 die Produktion auf und hatte 2011 etwa 3.500 Mitarbeiter. Nicht zuletzt aufgrund der hohen Wohnungspreise in Kaluga kamen im VW-Werk sehr schnell Forderungen nach Lohnsteigerungen auf, die zur Gründung einer Gewerkschaft führten. Die neu gegründete Gewerkschaft trat der MPRA bei, was wiederum die Gegengründung einer traditionellen ASM-Organisation auslöste. Diese wiederum wurde vom regionalen Gouverneur unterstützt. Während diese traditionelle Gewerkschaft schwach geblieben ist, zählte die lokale MPRA 2011 bereits etwa 400 Mitglieder. Als der Wettbewerb zwischen den Gewerkschaften und die anhaltenden Warnstreiks zu einer Konflikteskalation im russischen Werk zu führen drohten, initiierten der deutsche Betriebsrat und die IG Metall einen Vermittlungsversuch. Vertreter beider Gewerkschaften aus Kaluga, Betriebsrats- und Gewerkschaftsvertreter aus Wolfsburg sowie das Management handelten ein Abkommen aus, das ein Novum in Russland ist: Im Werk Kaluga soll ein Betriebsrat gegründet werden. Im Fall Volkswagen Kaluga wurde damit das deutsche Modell auf die russische Situation übertragen. Die Bewährungsprobe steht allerdings noch aus. Für beide Gewerkschaften sind die Betriebsratswahlen ein Wagnis. Die Lohnkonflikte gehen unterdessen weiter und stellen den erreichten Kooperationsstand immer wieder in Frage.

Der Zuzug ausländischer Automobilhersteller nach Russland hat das Spektrum der Interaktion zwischen den Sozialpartnern erweitert. Nun werden auch die Europäischen Betriebsräte und die Gewerkschaften in der EU zu Akteuren auf der Bühne der industriellen Beziehungen in Russland. Sie treten in Russland als Verteidiger europäischer Standards industrieller Beziehungen auf - das kann zum Konflikt mit den Positionen des lokalen Managements, aber auch mit den Vorstellungen der politischen Entscheidungsträger führen. Die europäischen Gewerkschaften müssen aber auch eine gemeinsame Handlungsgrundlage mit den russischen Gewerkschaften finden; die europäischen Traditionen des institutionalisierten "sozialen Dialogs" treffen in der Praxis auf das konfliktorientierte Selbstverständnis der MPRA.

Die Entwicklung in Russland verdeutlicht den neuen Charakter der industriellen Beziehungen in der globalisierten Welt. Die Globalisierung führt nicht zu einer Vereinheitlichung oder Konvergenz der industriellen Beziehungen im Sinne eines one best way. Es entsteht aber ein Mehrebenensystem, in dem die Entwicklung nicht mehr von nationalen Akteuren allein beeinflusst wird, sondern in dem das Management, die Gewerkschaften und Betriebsräte multinationaler Unternehmen als Akteure des globalen Transfers von Praktiken und Standards auftreten und manchmal unerwartete Veränderungen der nationalen Systeme in Gang setzen können.


Martin Krzywdzinski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der WZB-Projektgruppe Globalisierung, Arbeit und Produktion. Der promovierte Politikwissenschaftler forscht vor allem über Arbeit und Arbeitspolitik in transnationalen Zusammenhängen, Transformation in postkommunistischen Ländern sowie Politische Ökonomie und Regulationstheorie.
krzywdzinski@wzb.eu


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Investitionen und Einfluss. Seit 1999 werden BMW-Fahrzeuge im Avtotor-Werk im russischen Kaliningrad (Königsberg) produziert. Die Präsenz westlicher Automobilfirmen in Russland bleibt nicht ohne Einfluss auf die industriellen Beziehungen in Russland.


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 133, September 2011, Seite 29 - 33
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Oktober 2011