Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → WIRTSCHAFT

INTERNATIONAL/204: Kolumbien - Landesweiter Agrarstreik erzielt erste Ergebnisse (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 12. Mai 2014

Kolumbien: Landesweiter Agrarstreik erzielt erste Ergebnisse - Regierung verhandlungsbereit

von Constanza Vieira


Bild: © Helda Martínez/IPS

Bauern der Bewegung 'Dignidad Agropecuaria' bei Protesten auf dem Bolívar-Platz in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá
Bild: © Helda Martínez/IPS

Bogotá, 12. Mai (IPS) - In Kolumbien hat der am 28. April begonnene nationale Agrarstreik erste Erfolge erzielt. So erließ die Regierung ein Dekret, in dem sie sich zu Verhandlungen mit den Sprechern der zwölf beteiligten Verbände als legitime Vertreter der Mehrheit der Demonstranten bereiterklärte und deren Forderungskatalog als Grundlage der Gespräche akzeptierte.

Darüber hinaus rief sie die Regionalbehörden und Sicherheitskräfte dazu auf, "das Streikrecht und das Recht auf freie Meinungsäußerung zu wahren". Einschränkend hieß es jedoch, dass Straßenblockaden ausbleiben müssten. Die Streikbewegung 'Cumbre Agraria' ('Agrargipfel') gab die Zahl der Demonstranten am 6. Mai in 20 der 33 Departements des 46 Millionen Einwohner zählenden Landes mit 120.000 an.

Wie aus einer Mitteilung von Vertretern der Streikbewegung aus dem zentralkolumbianischen Magdalena Medio hervorgeht, wurden die Bauern derweil dazu angehalten, auf ihre Parzellen zurückzukehren. Das bedeute jedoch nicht, dass der Streik zu Ende sei, heißt es in dem Papier. Man werde an den Mobilisierungsplänen festhalten, bis die Forderungen der Farmerverbände einschließlich der nach einer politischen Lösung des 1946 ausgebrochenen "sozialen und bewaffneten kolumbianischen Konflikts" erfüllt seien.

Derweil gehen die Verhandlungen am Sitz des Innenministeriums in der Hauptstadt Bogotá in Anwesenheit einer Delegation des UN-Entwicklungsprogramms und von UN-Menschenrechtshochkommissar Todd Howland weiter. "Ich bin zuversichtlich, dass sich die nationale Regierung und die Polizei umsichtig und respektvoll gegenüber den friedlichen Protesten verhalten werden", betonte Howland.


Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen

Die Vereinten Nationen werden zudem eine Kommission begleiten, die über die Menschenrechtssituation in den Departements Norte de Santander und Cesar im Nordosten, Arauca im Osten, Cauca im Südwesten und Meta im zentralen Süden Kolumbiens berichten soll. Dort kam es Berichten zufolge zu gewaltsamen Übergriffen.

Die Verhandlungen, an denen Vertreter unterschiedlicher Ministerien und nationaler Einrichtungen wie die Staatsanwaltschaft und das Büro des Bürgerbeauftragten kurz vor den Präsidentschaftswahlen am 25. Mai teilnehmen, kommen nur langsam voran. Nach fünf Sitzungen befanden sich am 8. Mai nur noch 50 Personen im Verhandlungssaal. Am gleichen Tag kündigte Landwirtschaftsminister Rubén Darío Lizarralde an, seinerseits die Gespräche mit der 'Dignidad Agropecuaria' ('Bäuerliche Würde') wiederaufzunehmen. Der Bewegung gehören kleine und mittelständische Farmer an, die unter anderem Reis, Kartoffeln, Milch, Kaffee, Mais, Kakao und Baumwolle produzieren.

Auch sie haben sich dem Nationalstreik angeschlossen, um gegen die niedrigen Preise, die ihre Erzeugnisse erzielen, zu protestieren. Die Produktionskosten für jeweils 130 Kilo Kartoffeln belaufen sich auf umgerechnet 30 US-Dollar, doch verdienen sie an der gleichen Menge gerade einmal die Hälfte. Viele Landwirte machen dafür die Bedingungen verantwortlich, die in den Freihandelsabkommen mit mehreren Ländern festgeschrieben sind.

"Wir bleiben solange hier, wie dies erforderlich ist", meinte Carlos Arturo Lopez, ein Vertreter von Dignidad Agropecuaria, der sich am 6. Mai zusammen mit anderen Bauern auf dem zentralen Bolívar-Platz in Bogotá festgekettet hatte. Agrarminister Lizarralde warf er vor, die Sprecher der Bewegung nicht als legitime Unterhändler anzuerkennen. "Stattdessen verhandelt er lieber mit der gleichen Bourgeoisie, die uns dorthin gebracht hat, wo wir uns jetzt befinden."

Die Regierung begehe mit dem Versuch, Dignidad Agropecuaria in Misskredit zu bringen, einen großen Fehler, erklärte er und wies darauf hin, dass die Bewegung die letzten drei Streiks im Lande über ein Problem angeführt habe, dass seit 50 Jahren einer Lösung bedürfe, bevor sich Lizarralde zur Wiederaufnahme der Verhandlungen entschloss.


Demonstrationsjahr 2013

Vielleicht kann die Regierung von Staatspräsident Santos auf diese Weise doch noch verhindern, dass sich der neuerliche Agrarstreik kurz vor den Wahlen verschärft. Dieser ist eine Wiederauflage der zwischen Februar und September 2013 immer wieder aufgeflammten Proteste, die im August 2013 den nationalen Stillstand herbeiführten. Im letzten Jahr verbuchte das südamerikanische Land nach Angaben des Jesuiten-Zentrums für Volksforschung und -bildung die meisten sozialen Kämpfe seit 1975.

Die Proteste wurden im Oktober nach Zugeständnissen der Regierung beendet. So wurden einige Agrarsektoren über Monate lang subventioniert oder kamen in den Genuss anderer Erleichterungen. Diesmal jedoch ist angesichts des nahenden Wahltermins mehr Besonnenheit als im letzten Jahr vonnöten, als Santos in der ersten Streikwoche erklärte, es gebe keinen nationalen Agrarstreik im Lande.

Etwa zeitgleich ließ das Verteidigungsministerium verlauten, dass die Mobilisierung der Bauern die Handschrift der Rebellen der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) trage, die sich 1964 erhoben hatten und derzeit mit der Regierung in Kuba Friedensgespräche führen.

Am 25. August wurde der Wortführer des Streiks, Ballesteros Huber, verhaftet. Die Staatsanwaltschaft warf dem Vizevorsitzenden des Bauernverbandes FENSUAGRO vor, die FARC finanziell zu unterstützen, Die gewaltsame Auflösung der Proteste kostete 19 Menschen das Leben, 900 wurden verletzt und 700 festgenommen.

Im September schlug Santos die Bildung eines nationalen Agrarpakts vor. Doch bei den Teilnehmern handelte es sich in der Mehrheit lediglich um Vertreter des Agrobusiness und um Großgrundbesitzer.

Daraufhin beriefen die Vertreter der indigenen und kleinbäuerlichen Landwirtschaft ein eigenes Treffen ein. Im Dezember mündeten die Aktivitäten in die Gründung des Agrargipfels. Santos Satz über die Nicht-Existenz eines nationalen Agrarstreiks und die Bilder von Polizisten, die auf Demonstranten einprügelten, führten laut Meinungsumfragen zu einem erheblichen Popularitätsverlust des Präsidenten: von 48 im Juni 2013 auf 21 Prozent im September 2013.

Bild: © Kolumbiens Innenministerium

Kolumbiens Innenminister Aurelio Iragorri (am Kopfende) mit Vertretern der landwirtschaftlichen Protestbewegung 'Cumbre Agraria'
Bild: © Kolumbiens Innenministerium

Der Cumbre Agraria identifiziert sich mit keiner politischen Partei. Allerdings konnte einer der Ihren, Alberto Castilla, als Kandidat des linken Demokratisch-Alternativen Pols in den Senat einziehen. Castilla gehört zu den Gründern des 'Kongresses der Völker', der zusammen mit dem 'Patriotischen Marsch' die beiden wichtigsten Träger der Bewegung sind.


Unterstützung der Indigenen und Schwarzen

Beide Basisbewegungen sind 2010 entstanden. Ihnen gehörten die Indigenen des Landes zunächst als Beobachter an. Unter der Uribe-Regierung hatten die ethnischen Völker ganz allein Massenmobilisierungen oder 'mingas' (in der Qechua-Sprache: Kollektivarbeit zum Wohl) auf die Beine gestellt. Doch Mitte März, als in Bogotá der Nationale Agrar-, Ethnien- und Volksgipfel ('Cumbre Agraria, Étnica y Popular') tagte, der der aktuellen Streikbewegung ihren Namen gab, schloss sich die 1,4 Millionen Mitglieder zählende 'Nationale Indigenen-Organisation' der Bauernbewegung an. Auch Kolumbiens Schwarze sind über ihre Vereinigung 'Proceso de Comunidades Negras' ('Prozess der Gemeinschaften der Schwarzen') mit dabei.

Insgesamt haben sich zwölf landesweit oder regional aktive Verbände zusammengefunden, um erstmals seit vielen Jahrzehnten wieder Einheit zu demonstrieren. Auf ihrem gemeinsamen Treffen im März kamen sie überein, sich nicht wie 2013 geschehen bei den Verhandlungen mit der Regierung spalten zu lassen.

Am 30. März legte der Cumbre Agraria ein Verhandlungsangebot mit acht übergeordneten Punkten und 127 konkreten Forderungen vor und beschloss, mit dem Nationalstreik innerhalb von eineinhalb Monaten zu beginnen. Außerdem kam man überein, die spezifischen Forderungen der einzelnen Bündnispartner geschlossen zu unterstützen. Bei den Gesprächen mit dem Agrarminister geht es um dieses konkrete Verhandlungsangebot.

Auf die geäußerte Sorge, dass sich der Zeitpunkt des Streiks negativ auf die Wahlen auswirken könnte, erklärten die Bauern, dass es dabei weniger um den Präsidenten als um ihre Rechte gehe. Am 11. April trafen sie sich mit Santos.


Nachhaltige Forderungen

Grundlage der Verhandlungen sind Forderungen nach Verfassungsreformen und Gesetzen, Korrekturen der Wirtschafts- und Sozialpolitik und Streikrechtgarantien. Ein Punkt beinhaltet den Wunsch nach einer Harmonisierung des Umweltschutzes als Voraussetzung für das Überleben der bäuerlichen Gemeinschaften, die als die Akteure genannt werden, denen der Entwurf eines Landnutzungsplanes übertragen werden sollte.

Darüber hinaus soll jede Form der Veräußerung von Land an Ausländer verboten, alle Freihandelsabkommen außer Kraft gesetzt und die Bergbau- und Energiepolitik im Sinne der bürgerlichen Partizipation reformiert werden. Ferner verlangt der Cumbre Agraria das Ende der Vernichtung von Pflanzen, aus denen illegal Kokain, Opium und Marihuana hergestellt werden. Stattdessen soll den Bauern beim Umstieg auf Alternativpflanzen geholfen und die kleinen Produzenten freigelassen werden, die mit der Drogenmafia in eine Schublade gesteckt und verhaftet wurden.

Olga Lucia Quintero, eine junge Bauernführerin aus Catatumbo, warf der Regierung vor, sich nicht an ihr Versprechen, das Streikrecht zu schützen, gehalten zu haben. So kursierten im Internet Bilder von Verletzten. Der Aufstandsbekämpfungspolizei wird vorgeworfen, Zelte der Protestbewegung in Brand gesetzt zu haben. Darüber hinaus soll sie Mobiltelefone konfisziert haben, offenbar, um die Veröffentlichung kompromittierender Aufnahmen zu verhindern. (Ende/IPS/kb/2014)


Link:

http://www.ipsnoticias.net/2014/05/paro-agrario-en-colombia-consigue-sus-primeras-conquistas/

© IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH

*

Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 12. Mai 2014
IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 / 54 81 45 31, Fax: 030 / 54 82 26 25
E-Mail: contact@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Mai 2014