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INTERNATIONAL/298: Wirtschaftskrieg gegen Russland (lunapark21)


lunapark 21, Heft 33 - Frühjahr 2015
zeitschrift zur kritik der globalen ökonomie

Wirtschaftskrieg gegen Russland
Wie lange hält das (geo)politische Primat?

Von Hannes Hofbauer


Als Österreichs Wirtschaftsminister und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner (ÖVP) am 2. Februar 2016 mit einem guten Dutzend Firmenchefs nach Moskau aufbrach, gingen die von den USA und der EU aufgestellten Sanktionen gegen Russland bereits ins dritte Jahr. Die Reise der österreichischen Delegation erregte international großes Aufsehen, umso mehr, als erst wenige Wochen davor die westlichen Embargomaßnahmen um ein halbes Jahr verlängert worden waren.

Auch ohne journalistische Nachfragen wies ÖVP-Chef Mitterlehner vorauseilend diensteifrig via Presseaussendung darauf hin, dass er und seine ihn begleitenden CEOs der wichtigsten österreichischen Industrieunternehmen fest zum EU-Sanktionsregime stünden und dieses mit dem Russland-Besuch keineswegs brechen würden. In Moskau war von derlei Standhaftigkeit dann nicht mehr die Rede. Nach einem Tête-à-tête mit Ministerpräsident Dmitrij Medwedjew und dessen Vize Dmitrij Kosak, der im Übrigen ganz oben auf der Sanktionsliste der EU steht und einen Gegenbesuch nicht absolvieren könnte, hagelte es Kritik an den EU-Maßnahmen, der sich auch der österreichische Vizekanzler anschloss.

Wer die internationale Rolle Wiens in den vergangenen Jahrzehnten beobachtet hat, dem kann auch nicht entgegen sein, dass das kleine Österreich immer wieder als Versuchskaninchen für größere Mächte ins Feld geschickt wird; zuletzt von Berlin, als es Anfang der 1990er Jahre darum ging, Belgrad international zu isolieren und die sogenannte nationale Selbstbestimmung der Slowenen, Kroaten und Bosnier hoffähig zu machen. Die Wiener Diplomatie hat ein gewisses Geschick darin ausgebildet, aus dem Dienst an - nicht nur, aber vor allem - deutschen Interessen Kapital zu schlagen.

Trotz gegenteiliger Beteuerung schlug die Reise der österreichischen Industrie- und Bankenbosse vom 2. Februar eine erste Bresche in die gegen Moskau gerichtete Sanktionspolitik der Europäischen Union. Dafür erwartet man sich in Wien fette Aufträge für Unternehmungen wie Andritz (Maschinen- und Anlagenbau), Raiffeisen (Finanz) und OMV (Energie). Die OMV-Spitze um Rainer Seele - vormals Wintershall - sprach bei Gasprom-Chef Aleksej Miller persönlich vor, um drei Großprojekte voranzubringen: den gemeinsamen Bau der zweiten Nord-Stream-Leitung durch die Ostsee, die Beteiligung der Österreicher an einem Gasfeld im westsibirischen Urengoi und den Austausch von Unternehmensanteilen, der dazu führen könnte, dass Gasprom bei Raffinerien im bayrischen Burghausen und im niederösterreichischen Schwechat einsteigt. Dass dies alles mitten in der Sanktionszeit passiert, könnte ein Hinweis auf deren baldiges Ende sein. Wenn, ja wenn es nicht noch andere gewichtige Player im großen Ringen mit dem russischen Bären als Deutschland und Österreich geben würde.

Von deutscher Seite sprang der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer den Österreichern zur Seite. Auch er besuchte Anfang Februar 2016 Moskau, wurde sogar zu Präsident Wladimir Putin vorgelassen, hatte allerdings keinen Tross von Unternehmensvertretern im Schlepptau. Die zwei Jahre zurückliegende harsche mediale Zurechtweisung von Siemens-Vorstandsvorsitzendem Joe Kaeser, der unmittelbar nach der Verhängung der Sanktionen gegen Russland Putin im März 2014 seine Aufwartung gemacht hatte, sitzt den deutschen Industriemagnaten offensichtlich noch in den Knochen. Kaeser war damals im ZDF-Interview direkt unpatriotisches Verhalten und indirekt Vaterlandsverrat vorgeworfen worden.

Das lauteste Geschrei gegen die zaghaften Versuche einer Wiederannäherung zwischen EU und Russland gab es übrigens seitens der österreichischen und deutschen Grünen. In mittlerweile geübt bellizistischer Manier forderten sie die lückenlose Einhaltung des Sanktionsregimes. "Ich halte es für verantwortungslos, dass die OMV (...) an die Gasprom ausgeliefert wird", kommentierte der (in Geheimdienstkreisen umtriebige) Wiener Grüne Peter Pilz eine mögliche Stärkung der energiepolitischen Achse Moskau-Wien. Eine solche besteht indes bereits seit 1968 und hatte schon zwischen 1946 und 1955 zum Aufbau des Energiekonzerns OMV (Österreichische Mineralölverwaltung) - damals SMV (Sowjetische Mineralölverwaltung) - beigetragen. Und Deutschlands früherer Grünen-Chef Jürgen Trittin kritisierte den Besuch Seehofers bei Putin mit: "In Putin trifft Seehofer einen Gleichgesinnten" - und war sich offensichtlich sicher, damit beide beleidigt und der Demokratie einen Dienst erwiesen zu haben.

Worin bestehen die Sanktionen?

Die fein abgestimmte, erst politische, dann wirtschaftliche Attacke gegen Russland erfolgte im transatlantischen Gleichschritt. Am 6. März 2014 beschlossen Brüssel und Washington zeitgleich Sanktionen gegen ukrainische und kurz darauf gegen russische Staatsbürger. Den ersten 21 Personen, über die Einreiseverbote und Kontosperren verhängt wurden, warfen die USA und die EU vor, "den demokratischen Prozess und die Institutionen in der Ukraine (zu) untergraben", wie es in der entsprechenden US-Executive Order wörtlich heißt. Im Klartext: Die Torpedierung des verfassungswidrigen Machtwechsels in Kiew, der nicht nur von Moskau als Putsch bezeichnet worden war, bot dem Westen Anlass für die ersten Schritte in einen veritablen Wirtschaftskrieg gegen Russland. Wiktor Janukowitsch und sein Ministerpräsident Mykola Asarow landeten als erste auf der No-Go-Liste. Die Sezession der Krim knapp zwei Wochen später ließ die Sanktionslisten um jene Personen anschwellen, denen Washington oder Brüssel vorwarf, dazu beigetragen oder diese vorbereitet zu haben. In weiterer Folge genügte es schon, beispielsweise ein bekannter Sänger zu sein und in Donezk ein Konzert zu geben, um - wie im Fall Iosif Kobson - auf der Sanktionsliste zu landen. Vom Frühling 2014 bis zum Winter 2015/2016 verlängerte sich die Liste der zwischen Kalifornien und den Masuren unerwünschten Personen im Monatstakt, Beschlagnahme eventueller Besitztümer inklusive.

Mitte Februar 2016 befinden sich allein auf der EU-Liste 169 Personen, großteils russische Staatsbürger. Der Fall des Sergej Glasjew zeigt das Zusammenspiel ökonomischer und geopolitischer Interessen hinter der westlichen Sanktionspolitik. Letztlich geht es um eine neuerliche Politik der Eindämmung Russlands und die Verhinderung eines wirtschaftlichen Integrationsprozesses außerhalb der transatlantischen Einflusssphäre. Glasjew war Putins Emissär in Sachen Abwehr der sogenannten "Ostpartnerschaft", mit der seit 2009 sechs ehemalige sowjetische Republiken unter den NATO- und EU-Schirm getrieben werden sollen. Die Unterschriftsverweigerung von Janukowitsch unter das entsprechende Assoziierungsabkommen im November 2013 geht wesentlich auf Glasjews Bemühungen zurück. Auch das Ausscheren Armeniens aus den westlichen Plänen trägt seine Handschrift. Soviel Unbotmäßigkeit ruft nach Vergeltung, weshalb Glasjew als erster Russe auf die US-Liste kam. Die Biographie des 58-Jährigen und seine wirtschaftlichen und geopolitischen Positionen machen neben seiner politischen Arbeit deutlich, warum er zum Feindbild des Westens geworden ist. Der aus einer proletarischen Familie stammende, in der ukrainischen Industriestadt Saporischschje geborene Glasjew trat schon früh offen gegen Jelzin auf, kandidierte auf verschiedenen Listen für die Duma, der er Jahrzehnte lang angehörte, wobei er auch keine Berührungsängste mit der Kommunistischen Partei der Russländischen Föderation (KPRF) kannte. Der sowohl zum Chemiker als auch zum Wirtschaftswissenschaftler ausgebildete Politiker gilt als einer der glaubwürdigsten Vertreter einer russischen Bourgeoisie, die sich zunehmend gegen ausländischen Einfluss wappnet. Als Putins wichtigster Berater für die Ukraine fiel er immer wieder mit Bemerkungen auf, die vor einer Kolonisierung des Landes durch EU-europäische und US-amerikanische Interessen warnten. Nach Washington setzte ihn auch die Europäische Union auf die Schwarze Liste, was Glasjew nun daran hindert, seine engen Beziehungen zu Wien, wo er immer wieder Vorträge hielt, zu pflegen. Mit der Sanktionierung seiner Person haben Washington und Brüssel ein unmissverständliches Zeichen gesetzt. Nicht die Sorge um die Demokratie in Kiew treibt sie um und auch nicht so sehr die staatliche Zugehörigkeit der Krim. Es ist das große Ganze, Russland, dessen territoriale, administrative und wirtschaftliche Konsolidierung unter Putin den Westen stört. Die Ukraine-Krise bot einen passenden Anlass zur verschärften Gangart.

Von Personensanktionen zum Wirtschaftskrieg

Am 28. April 2014 wurde aus dem Sanktionsregime ein Wirtschaftskrieg. Erstmals seit der Aufhebung antikommunistischer Embargo-Bestimmungen, die als Kehrseite des Marshall-Plans für den kommunistischen Osten implementiert und vom "Coordinating Committee" (COCOM) seit 1948 bis in die 1990er Jahre überwacht wurden, sah sich Moskau wieder mit direkten wirtschaftlichen Strafmaßnahmen belegt. Diesmal war es Washington, das zum Vormarsch blies. 17 russischen Unternehmen wurde jede Geschäftstätigkeit in den USA verboten, zeitgleich belegte man den Chef des wichtigsten dieser Betriebe, Igor Setschin, CEO des Energieriesen Rosneft, mit einem Einreiseverbot. EU-Europa, Kanada, Australien und Norwegen zogen nach.

Auch Brüssel verabschiedete am 31. Juli 2014 mit der Verordnung Nr. 833/2014 ein selektives Wirtschaftsembargo gegen die Russländische Föderation. Es enthält Handelsverbote mit russischen Unternehmen sowie Einschränkungen im Finanzwesen und im Zahlungsverkehr. Die Sanktionen betreffen hauptsächlich drei Sektoren: Militärgüter, die Ölindustrie und den Bankenbereich.

Wie instrumentell den jeweiligen Interessen folgend das Embargo eingesetzt wird, lässt sich am Beispiel der Rüstungsindustrie nachzeichnen, einem der wenigen Industriesektoren, in dem russische Unternehmen nennenswerte Erfolge auf dem Weltmarkt erzielen. Mitte September 2015 erweiterten die USA die Liste der Einfuhrverbote auf Hightech-Geräte und Fluggerätehersteller. Betroffen war u.a. die russische Firma Katod, die im vergangenen Jahrzehnt mit Nachtsichtgeräten auf dem US-Markt Furore gemacht hatte. Genau auf diese russischen Nachtsichtgeräte zielte das US-Handelsverbot. "Bevor wir in den USA punkten konnten", meint Vorstandsvorsitzender Wladimir Loktionow, "hatten die USA ein Monopol auf diese Produkte." Das Aufscheinen von Katod auf der Embargoliste kommentiert Loktionow in der Moscow Times trocken: "Die haben Sanktionen gegen uns verhängt, weil sie die russische Konkurrenz fürchten."

Ganz anders gelagert war das Beispiel des russischen Unternehmens Rosoboroneksport, ein Exporteur von Militärhubschraubern. Ihm ist es geschuldet, dass militärische Fluggeräte erst Mitte September 2014, also ein halbe Jahr nach den ersten Sanktionslisten, gemeinsam mit Hightech-Geräten mit einem Handelsverbot belegt wurden. Diese verspätete Listung liegt daran, dass das Pentagon im Jahr zuvor 30 russische Militärhubschrauber für die afghanische Armee bestellt hatte und schlicht abwarten wollte, bis dieser Deal unter Dach und Fach war. Erst daran anschließend kamen die Fluggeräte auf die schwarze Liste.

In umgekehrte Richtung platzte ein Mega-Deal im Angesicht des Embargos, ohne dass er notwendigerweise davon betroffen gewesen wäre. Die Rede ist von zwei Hubschrauberträgern, die die russische Marine beim französischen Hersteller "Direction des Constructions Navales" (DCNS), einem Staatsunternehmen, in Saint-Nazaire in Auftrag gegeben hatte. Kurz vor der Auslieferung des ersten Schiffes der Mistral-Klasse - dem Träger "Wladiwostok" - eröffnete der Westen den Wirtschaftskrieg gegen Russland. Wochenlang stritten französische Regierung und Opposition, Befürworter und Gegner des Embargos, wie man sich angesichts der US- und EU-weit beschlossenen Sanktionen verhalten sollte. Formal hätte vieles dafür gesprochen, das Geschäft mit Moskau durchzuführen und korrekt abzuschließen, befanden sich doch in allen nationalen Verordnungen Klauseln, die alte Aufträge mit einer speziellen nationalen Genehmigung vom Embargo ausnehmen konnten. Der französische Präsident jedoch gab klein bei. Er gerierte sich amerikanischer als Washington. Frankreich stornierte die Lieferung der Hubschrauberträger und damit einen bereits fertig gebauten Auftrag in Höhe von 1,2 Milliarden Euro. Die Strafzahlung nahm man in Paris in Kauf.

Was die Handelsverbote für die Ölindustrie betrifft, so zielen sie auf eine russische Modernisierung und Expansion dieses Sektors. Betroffen sind also westliche, in großer Anzahl EU-europäische Unternehmen, deren Hightech-Geräte in der Ölförderung Verwendung finden. Die Brüsseler Verordnung zählt penibel alle Bereiche auf. die nun unter die Embargobestimmungen fallen: Bohrungen, Bohrlochprüfungen, Bohrlochmessungen, Komplettierungsdienste, schwimmende Plattformen, Tiefseeförderung, Schieferölförderung etc.

Am härtesten traf das Wirtschaftsembargo den russischen Banken- und Finanzsektor. Hier verloren russische Institute von einem Tag auf den anderen ihren Zugang zum westlichen Kapitalmarkt. Auch vom Wertpapiermarkt und anderen finanziellen Dienstleistungen schloss man sie aus. Die fünf größten Geldinstitute des Landes - Sberbank, VTB-Bank, Gasprombank, Vnesheconombank und Rosselchosbank - kämpfen seither mit Hilfe staatlicher Unterstützung ums Überleben. Im Jahr 2013 hatten russische Banken 11 Milliarden Euro an Kapital auf den Anleihemärkten im Westen aufgenommen, 70 Prozent davon entfielen auf die nun sanktionierten Institute. Dieses Volumen musste rasch ersetzt werden. Das konnte man einerseits auf dem Binnenmarkt versuchen, andererseits trieb es die russische Wirtschaft in die Arme Chinas, wo Kapital zu entsprechenden Konditionen zu haben ist.

Die Folgen des Embargos

Das Embargo-Regime konterkariert auf drastische Weise die in den herrschenden liberalen Kreisen als sakrosankt geltenden vier kapitalistischen Freiheiten, nach denen sich Kapital, Waren, Dienstleistungen und Arbeitskraft ungehindert bewegen können müssen. Auch dem historisch späten Beitritt Russlands zur WTO am 22. August 2012 sprechen sie Hohn. Von solch grundsätzlichen Überlegungen einmal abgesehen, sind die immanenten Folgen der westlichen Strafmaßnahmen gegen Russland vielfältig - wie auch ihre Einschätzung sehr unterschiedlich ausfällt.

Nicht gegriffen haben, wie man sich leicht vorstellen kann, die direkten Kontensperren und Vermögensentzüge von als feindselig oder missliebig eingestuften russischen (und ukrainischen) Staatsbürgern. Die Welt vom 19. Juni 2015 zitiert in diesem Zusammenhang Ergebnisse einer Studie, in der Autor Jörg Eigendorf diese Variante der Sanktionspolitik als vollkommen gescheitert einschätzt. Die sanktionierten Personen haben die mit viel Getöse verlautbarten Konfiskationen weitgehend unbeschadet überstanden. Nachfragen bei den Zentral- oder Nationalbanken und Außenministerien der einzelnen EU-Staaten haben ergeben, dass entweder überhaupt keine Evidenz (Irland, Finnland, Kroatien, Spanien, Slowakei) beschlagnahmter Gelder oder Assets vorhanden ist oder lächerlich geringe Summen im Register der Sanktionen aufscheinen; wie z.B. insgesamt 120.000 Euro, die auf zypriotischen Banken beschlagnahmt worden sind. Die Antwort aus Berlin auf die Frage der Studienautoren, in welcher Höhe Konten eingefroren oder Eigentum beschlagnahmt worden sei, macht schmunzeln: "124.346 Euro [...] und zwei Pferde." Die beiden Rennpferde stammen aus dem Gestüt des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow, dessen Zuchttiere auf europäischen Rennbahnen unterwegs sind. Auch in Tschechien wurden übrigens Kadyrow-Pferde "als wirtschaftliche Ressource eingefroren", wie es im Beamtensprech heißt.

Anders als bei den persönlichen Sanktionen stellt sich die Lage im Außenhandel dramatisch dar. Dieser weist auf beiden Seiten - genauer: auf der russischen und der EU-europäischen - tiefe Einbrüche auf. Laut "Ostausschuss der deutschen Wirtschaft" gingen die deutschen Exporte nach "Russland zwischen 2013 und dem letzten statistisch verfügbaren Monat November 2015 um beachtliche 43,5 Prozent zurück, diejenigen Österreichs - laut Wirtschaftskammer - sogar um 54,2 Prozent. Mitverantwortlich für diese massiven Einbrüche sind auch die russischen Gegenmaßnahmen zum westlichen Wirtschaftsembargo. Anfang August 2014 verhängte Moskau Einfuhrverbote für landwirtschaftliche Produkte aus jenen Ländern, die Sanktionen gegen Russland beschlossen hatten. Polen, Griechenland und Finnland als traditionelle Handelspartner für den Export von Obst, Gemüse und Milchprodukten leiden stark unter diesem russischen Gegenembargo. Und die am stärksten vom russischen Markt abhängigen EU-Länder, die drei baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen, deren Außenhandel vor 2014 zwischen 10 und 20 Prozent auf Russland orientiert war, benötigen längst Extra-Hilfen aus Brüssel, um über die Runden zu kommen.

Auch die russischen Reaktionen auf den Wirtschaftskrieg mit dem Westen sind nicht einhellig. Aleksej Kusnezow, Direktor des Zentrums für Europastudien am "Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen" (IMEMO), prognostiziert ein Scheitern des westlichen Sanktionsregimes. Er sieht darin auch den Ausdruck einer völligen Fehleinschätzung, was die russischen Kapazitäten betrifft. "Sie glauben, Russland sei keine Marktwirtschaft und völlig vom Energieexport abhängig", wirft er den westlichen Eliten Unkenntnis vor. "Doch das ist falsch. Öl und Gas nehmen im russischen Bruttoinlandsprodukt nur 10 Prozent ein." Beim Export dominieren zwar die Energierohstoffe mit zwei Dritteln, räumt Kusnezow im Gespräch ein, die Größe des Binnenmarktes werde jedoch im Westen völlig unterschätzt: "Russische Produkte mögen zwar in vielen Fällen im Westen nicht konkurrenzfähig sein, aber zu Hause und auf anderen Märkten sind sie es sehr wohl." Dementsprechend ist er sich sicher, dass Russland schon seiner schieren Größe wegen ökonomisch nicht in die Knie gezwungen werden kann. Was die Versorgung mit Lebensmitteln betrifft, wurden binnen Jahresfrist so gut wie alle Produkte aus der EU und den USA substituiert. "Wir importieren nun Lebensmittel aus China, aus afrikanischen Ländern wie Marokko und entwickeln nachhaltige Lieferketten auch mit Lateinamerika", so der Ökonom, der nicht an der Überlebenskunst seines Landes zweifelt. Dass es beim viel zitierten Käse mit der Substitution nicht klappt, gibt Kusnezow zu, will aber daraus nicht auf die gesamte Landwirtschaft schließen.

Wesentlich skeptischer gibt sich Andrej Kortunow, Leiter des erst 2012 von staatlicher Seite gegründeten Think-Tanks "Russischer Rat für Internationale Beziehungen" (RSMD), der sich als (junges) Gegenstück zum US-amerikanischen Council on Foreign Affairs versteht. Wir treffen ihn im noblen Alexander-Haus, benannt nach Aleksander Smolenski, dem ersten Privatbanker der postsowjetischen Epoche, dessen Wirtschaftsimperium in der Finanzkrise 1998 kollabiert ist. "Ich bezweifle, dass Asien Europa für uns ersetzen kann", gibt sich Kortunow reserviert. "Wir wissen nicht, wie lange die Embargosituation bestehen bleibt. Ja, Russland versucht westliche Ausfälle zu substituieren, aber am Ende kommt es nicht so sehr auf uns an, sondern darauf, ob das europäische Projekt erfolgreich ist oder scheitert."

Die vordergründig gänzlich konträren Positionen von Kusnezow und Kortunow spiegeln die Bandbreite der wirtschafts- und geopolitischen Debatte wider, die derzeit im und um den Kreml geführt wird. Beide verstehen sich in unterschiedlicher Weise als "putinistisch", sind der Macht nahe, wiewohl der Pragmatiker Kortunow neben dieser eine Stärkung der Institutionen verlangt. Die Frage der weiteren Orientierung Russlands nach der historischen Zäsur der Ukraine-Krise wird breit und offen diskutiert. Im Zentrum der Debatte steht ein möglicher Paradigmenwechsel von der Außenhandelsabhängigkeit zur Importsubstitution. Bei landwirtschaftlichen Produkten gibt es Anzeichen dafür, dass es klappen könnte. In der Industrie ist es bislang bei Ankündigungen geblieben, was auch an der fortgesetzten Kapitalflucht liegt und daran, dass der weitum verkündete neue politische Patriotismus im Wirtschaftsleben kaum eine Entsprechung findet.

Cui bono?

Nicht zufällig waren es die USA, die aus den anfänglichen Sanktionen gegen einzelne - zum großen Teil politische - Proponenten des neuen russischen Feindbildes ein Wirtschaftsembargo gezimmert haben. Sie sind es, die dabei am wenigsten zu verlieren haben. Ein Blick auf die vom "Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche" aufbereitete russische Außenhandelsstatistik macht eines sicher: Während die Länder der Europäischen Union 2013, also vor der westlichen Sanktionspolitik, 51 Prozent der russischen Exporte abnahmen und für 36 Prozent der russischen Importe verantwortlich waren, lagen die Vergleichszahlen für die USA bei 2,5 bzw. 4,8 Prozent. Vor diesem Hintergrund werden die in Washington vorangetriebenen Sanktionen gegen Russland verständlich. Die USA könnten sich auch ein vollständiges Embargo gegen Russland leisten, für Länder wie Deutschland wäre dies unmöglich.

Tatsächlich profitieren US-Unternehmen sogar vom Russland-Embargo. Vor allem im Energiesektor sind sie auf dem Vormarsch. Denn Washington bietet mit dem seit den 2010er Jahren betriebenen, staatlich unterstützten Aufbau einer Exportstruktur für Flüssiggas, die Fracking-Gas verschiffbar macht, Konzernen wie Exxon ungeahnte Möglichkeiten der Markterweiterung. Im polnischen Ostseehafen Swinoujscie (Swinemünde) ist knapp vor Weihnachten 2015 eine erste solche Regasifizierungsanlage auf EU-europäischem Boden in Betrieb gegangen. Dieses transatlantische Gas macht damit dem weltgrößten Energiekonzern Gasprom direkt vor seiner Haustüre Konkurrenz. Der aktuell extrem niedrige Preis für Erdöl und Erdgas bedeutet zwar für Investoren im Fracking-Geschäft einen herben Rückschlag, aber jene mit langem Atem können auf entsprechende Dividenden in der Zukunft hoffen. Die Embargopolitik gegen Russland hingegen verlangsamt mittel- bis langfristig eine Modernisierung auf der Gegenseite.

Wie lange diese Sanktionspolitik aufrechterhalten werden kann, wird letztlich auch auf dem geopolitischen Feld entschieden. Russland dient dabei auch als Schlachtfeld, das Match dahinter lautet USA gegen EU, wobei letztere - wie bekannt - mit mehr als einer Zunge spricht. Auch Demutsbekundungen an die Adresse des bundesdeutschen Kanzleramtes wie jene von Daimler-Chef Dieter Zetsche, der im Sommer 2014 auf die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Russland-Sanktionen geantwortet hat: "Es gilt ganz klar das Primat der Politik", sind nur vor dem Hintergrund der transatlantischen Auseinandersetzung zu verstehen. Die geltende Brüsseler Sprachregelung, wonach die Erfüllung des Minsker Abkommens als Voraussetzung für eine Aufhebung der Sanktionen genannt wird, dient einzig dem Hinausschieben einer Entscheidung.

Im Minsker Abkommen geht es um die Lösung der Ukrainekrise. Wer die wenigen darin vereinbarten Punkte genau studiert, weiß, dass rieben der Herstellung eines Waffenstillstandes und dem Austausch von Gefangenen zwischen Kiew und dem Donbass die Bringschuld bei den neuen Machthabern in Kiew liegt. In Minsk wurde am 12. Februar 2015 nicht weniger beschlossen als das Ende des ukrainischen Gewaltmonopols für die Volksrepubliken im Osten sowie deren Autonomie in Rechts- und Wirtschaftsfragen. Letzteres umfasst die Möglichkeit autonomer wirtschaftlicher Beziehungen zwischen Russland und dem Donbass, was de facto, wenn auch nicht de jure eine Unabhängigkeit der Donezker und Luhansker Volksrepubliken bedeutet. "Wer das Ende der Sanktionen von der Einlösung dieser Verträge abhängig macht -wobei dieses Junktim zuvor nie existiert hatte -, begibt sich letztlich in Geiselhaft der Kiewer Machthaber. Eine (geo)politisch und ökonomisch vernünftige Lösung ist von dieser Seite zur Zeit nicht zu erwarten.

Russland in Zahlen

Die Bevölkerung Russlands beträgt 146,5 Millionen Menschen - einschließlich der Krim. Das Land hatte nach dem Zerfall der Sowjetunion und in der Ära Jelzin einen dramatischen wirtschaftlichen und sozialen Niedergang erlebt - u.a. mit der Folge einer drastisch rückläufigen Lebenserwartung: Sie sank bei Männern von 63,9 Jahren im Jahr 1989 auf 57,5 Jahre im Jahr 2000. inzwischen liegt sie bei 66 Jahren.

Im Zeitraum 1999 bis einschließlich 2014 gab es erhebliche Verbesserungen. So hat sich in diesem Zeitraum das BIP nach Kaufkraftparität fast verdoppelt. die Ende der 1990er Jahre außerordentlich hohe Säuglingssterblichkeit sank wieder drastisch, die Zahl der Lebendgeburten stieg von 1,3 Millionen 2001 auf fast 2 Millionen 2014. 2002 lebten noch 20 Prozent der Bevölkerung offiziell unter der Armutsgrenze, 2014 waren es noch 12,8 Prozent. Laut Arbeitsorganisation ILO lag die Arbeitslosenquote 2015 bei 5,2 Prozent - ein Drittel des Werts von Ende der 1990er Jahre.

2015 gab es erstmals seit langem wieder einen deutlichen Rückgang des BIP - um 4,5 Prozent. 2016 dürfte es ein weiteres Minus beim BIP geben. Auch die Armut steigt wieder an; sie ist jedoch weiterhin nicht mit der Situation in der Jelzin-Ära vergleichbar. Die Unterstützung für Putin und seine Politik liegt bei 70 bis 80 Prozent. Eine Ursache für die aktuelle Krise ist der historische niedrige Preis für Öl und Gas.


Von Hannes Hofbauer ist eben erschienen: Feindbild Russland. Geschichte einer Dämonisierung (Wien, Promedia 2016).

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Inhaltsverzeichnis lunapark 21, Heft 33 - Frühjahr 2016

lunart: Victor Juhasz • Koch Brothers Toxic Empire;
editorial
quartalslüge: "Elektroauto = nachhaltige Mobilität"
kolumne winfried wolf: Fünf Jahre Fukushima - drei Lehren

soziales & gegenwehr
Christian Bunke • Stop Austerity - die "No Cuts Budget" Debatte in Großbritannien
Werner Rügemer • Köln & Leipzig: Stadtobere beugen sich dubiosen Investoren
Nikos Chilas • Das Flüchtlingsdrama in Griechenland: Tsipras zweite Kapitulation
Interview mit Dorothee Vakalis zur Lage in Idomeni

feminismus & Ökonomie
Gisela Notz • Geflüchtete & Migrantinnen in (Aus)bildung & auf dem Arbeitsmarkt
Therese Wüthrich • UmCare: Bewegung für eine andere Gesundheitsversorgung

debatte
Christel Buchinger • Verwirrungen: J.W. Moore "Endlose Akkumulation" (LP21-33)

spezial >> weltwirtschaft 2016 - schwere Last an dünnem Seil
Winfried Wolf • Weltwirtschaft & Weltkrise 2016
Winfried Wolf • EU: Zentrum & Peripherie - Die Kluft weitet sich
Thomas Fruth • Spanien: Schattenspiele in der Krise
Hannes Hofbauer • Polen: Sozialpolitik von rechts
Sebastian Gerhardt • Der US-Wahlkampf, die Profitrate und die Arbeiterklasse
Winfried Wolf • China: Wachstumsschwäche oder Krise
Andrea Komlosy • Taiwan - VR China: Wiedervereinigung oder Wirtschaftskrieg?
Gerold Schmidt • Makro-Mikro: Der feine Unterschied in Mexikos Ökonomie
Hannes Hofbauer • Wirtschaftskrieg gegen Russland
lexikon Georg Fülberth • Schäubles Marshallplan

energie & umwelt
Wolfgang Pomrehn • Nach der Klimakonferenz: Kohleausstieg auf die Tagesordnung!
Bernhard Knierim • E-Auto: Förderung der Autoindustrie statt nachhaltige Mobilität
Tina Goethe • Male business us usual. Frauen im Süden leiden unter dem Klimawandel

kultur & gesellschaft
Simone Holzwarth & Bernhard Knierim • Peter Lustig: Wachstumskritik & Latzhose
Klaus Gietinger • "Löwenzahn" reloaded
quartals-märchen des neoliberalismus
Patrick Schreiner & Kai Eicker-Wolf • "Mindestlöhne vernichten Arbeitsplätze"

geschichte & Ökonomie
Thomas Kuczynski bull; • Prekäre Eigentumsverhältnisse am Beispiel Deutschland

zeit & ort
Sebastian Gerhardt • Großraffinerie, Ölpreisverfall & das Business der Klimaleugner
seziertisch 170 • Georg Fülberth • Tunnelblick...

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Quelle:
Lunapark 21, Heft 33 - Herbst 2016, Seite 49 - 54
Herausgeber: Lunapark 21 GmbH, An den Bergen 112, 14552 Michendorf
Telefon: 030 42804040
E-Mail: www@lunapark21.net
Internet: www.lunapark21.net
 
Lunapark 21 erscheint viermal jährlich.
Einzelheft: 5,90 Euro + Porto, Jahres-Abo: 24,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juni 2016

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