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REDE/405: Merkel - Vierter Ordentlicher Gewerkschaftskongreß der IG Bergbau, Chemie, Energie, 14.10. (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
"REGIERUNGonline" - Wissen aus erster Hand

Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel auf dem Vierten Ordentlichen Gewerkschaftskongress der IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) am 14. Oktober 2009 in Hannover:


Sehr geehrter Herr Vassiliadis,
sehr geehrter Herr Schmoldt,
liebe Delegierte,
meine Damen und Herren,

ich freue mich sehr, heute hier in Hannover zu sein. Sie haben eben so schön gesagt, dass Sie das Wahlergebnis akzeptierten. Ich bedanke mich für die freundliche Mitteilung. Das lässt noch Raum für Verbesserungen.

Ich möchte hier noch einmal sagen, dass mein Amtsverständnis das bleibt, was es auch in der Großen Koalition immer war, nämlich dass ich versuche, Kanzlerin aller Deutschen zu sein - für Jüngere, für Ältere, für Unternehmer genauso wie für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das war mein Amtsverständnis und das soll es bleiben. Das heißt nicht, dass wir nun in allem immer einer Meinung sind, aber das heißt, dass es wichtige, richtige und gute Kontakte gibt. Auf das, was Sie eben angesprochen haben, komme ich noch zu sprechen.

Mein Leitbild in der Arbeit - ich glaube, das eint uns - ist die Soziale Marktwirtschaft. Es ist ein Leitbild, in dem wirtschaftliche Vernunft und sozialer Ausgleich untrennbar zusammengehören. Deshalb möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich betonen: Mir ist auch weiterhin an einer guten Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften gelegen - das sage ich jetzt hier nicht einfach deshalb, weil ich damit bei Ihnen natürlich keinen Widerspruch ernten werde, sondern weil ich es für einen Teil der Sozialen Marktwirtschaft und des Verständnisses von Sozialer Marktwirtschaft halte. Sie dürfen auch davon ausgehen, dass wir uns in der nächsten Zeit nicht nur zu Feierstunden begegnen werden, sondern auch im Zusammenhang mit dem, was wir für die Bundesrepublik Deutschland auf den Weg bringen wollen.

Aber zuerst einmal möchte ich darauf hinweisen, was Sie ja auch wissen, dass auf diesem Gewerkschaftskongress für die IG BCE eine Ära zu Ende geht. Denn seit ihrem Bestehen hat Herr Schmoldt die Geschicke dieser Gewerkschaft gelenkt. Unter seiner Ägide hat sich die IG BCE wirklich zu einer Ideenwerkstatt für neue Lösungen in der Arbeitsmarkt- , in der Sozial- und auch in der Umweltpolitik entwickelt. Ich habe Sie, lieber Herr Schmoldt, bei vielen Gelegenheiten als einen Gesprächspartner kennen gelernt, der ein klares, sachliches Wort pflegt, der immer überlegt, wie wir einen Konflikt konstruktiv zu einem Ende bringen und auch neue Anregungen und neue Impulse setzen können. Damit haben Sie jedes Gespräch, an dem ich teilgenommen habe, bereichert und belebt. Dafür sage ich Ihnen ein ganz herzliches Dankeschön und wünsche alles Gute für die Zukunft.

Nun ist es ja oft so: Manchmal war alles gut in der einen Amtszeit, aber dann gelingt die Übergabe des Staffelstabes doch nicht ganz. Doch das haben Sie auch noch hinbekommen, lieber Herr Schmoldt. Denn die Übergabe des Staffelstabes an Herrn Vassiliadis ist, wie ich finde, super gelungen. Das deutet sich auch in dem Wahlergebnis an, das ja schon fast beängstigend ist und an vieles heranreicht. Also, herzlichen Dank und herzlichen Glückwunsch. Sie wissen, dass wir auf die bewährte Kontinuität der Zusammenarbeit setzen. Für Sie stehen die Türen genauso offen wie für Hubertus Schmoldt. Ich glaube, wir werden auch gut miteinander auskommen. Ich hoffe, das ist keine Drohung, wenn das eine CDU-Bundeskanzlerin sagt.

Sie sind ja auch kein unbeschriebenes Blatt mehr. Auch Sie hatten schon vielfältige Kontakte. Gerade die Zusammenarbeit in der internationalen Wirtschafts- und Finanzmarktkrise hat sich als sehr gut und belastbar erwiesen. Sie wird auch noch unsere gemeinsame Arbeit in der nächsten Zeit prägen. Denn auch wenn sich der Konjunkturhimmel etwas aufhellt, so sind die Aussagen für dieses Jahr hinreichend deprimierend. Ob es nun minus fünf Prozent oder minus sechs Prozent sind, beides sind Zahlen, die weit über dem liegen, was die Bundesrepublik Deutschland jemals erlebt hat. Die IG BCE ist ja eine Gewerkschaft, die sehr stark im Exportbereich verankert ist. Die Zahlen minus fünf Prozent, minus sechs Prozent oder minus 4,5 Prozent beleuchten ja nur den Durchschnitt der deutschen wirtschaftlichen Entwicklung. Das heißt also, in Ihrer Branche ist das zum Teil noch sehr viel gravierender.

Wir freuen uns aber, dass die Geschäftserwartungen wieder etwas optimistischer werden. Aber auch ein durchschnittliches Wachstum, sagen wir einmal, von einem Prozent - da muss ich ein bisschen vorsichtig sein, dass ich hier nicht vorzeitig eine Prognose abgebe, weil vielleicht morgen und übermorgen wieder andere Zahlen verkündet werden - zeigt natürlich nur, dass wir gerade dabei sind, langsam aus dem Konjunkturtal herauszukommen, aber mitnichten schon wieder da sind, wo wir einmal waren. Wir wissen natürlich, dass unsere Wirtschaft, gerade wenn es um Beschäftigungssicherung und -aufbau geht, Wachstumsraten von deutlich über einem Prozent braucht. Das heißt also, wir werden noch eine gewisse Zeit daran arbeiten müssen, dass wir die wirtschaftliche Lage auch mit Hilfe kluger politischer Maßnahmen stabilisieren.

Gerade jetzt in den Koalitionsverhandlungen weise ich immer wieder darauf hin, dass die Tatsache, dass wir es in der alten Bundesregierung mit großer Unterstützung der Betriebsräte und auch der Unternehmer geschafft haben, die Krise bis zum jetzigen Zeitpunkt einigermaßen vernünftig zu bestehen, ja noch nicht heißt, dass wir damit schon vollkommen durch sind. Deshalb wird das auch unsere Arbeit der Zukunft prägen. Wir werden also alle Hände voll zu tun haben, ordentlich voranzukommen. Ich denke, deshalb ist auch das Motto Ihres Kongresses "Vorwärts denken. Verantwortlich handeln." für diese Zeit genau richtig gewählt.

Die Maßnahmen zur Konjunkturbelebung haben wir sinnvollerweise gleich auf die Jahre 2009 und 2010 angelegt. Das war klug und unterscheidet uns in vielem von Maßnahmen in anderen Ländern, die zum Teil nur auf das Jahr 2009 ausgerichtet waren. Ich glaube, dass wir mit den 80 Milliarden Euro, die wir hierfür vorgesehen haben, sowohl Brücken bauen als auch einen Beitrag leisten konnten, um die Binnenkonjunktur zu stabilisieren. Das wird natürlich auch die Aufgabe im Jahr 2010 sein; und ich glaube, sogar noch ein Stück darüber hinaus.

Wir haben damit natürlich einen Einschnitt in unsere eigentlich bereits gemachten Finanzplanungen vornehmen müssen. Die Krise hat auch in den öffentlichen Haushalten tiefe Lücken gerissen. Wir waren in der Großen Koalition eigentlich auf einem Pfad, auf dem wir 2010 bei einem Haushalt mit sechs Milliarden Euro Neuverschuldung und 2011 bei einem ausgeglichenen Haushalt angekommen wären. Das können wir jetzt nicht mehr schaffen. Es ist aber auch richtig und wichtig zu sagen, warum wir so handeln.

Natürlich müssen wir - auch dafür haben wir in der Krisenzeit Sorge getragen, indem wir eine Schuldenbremse im Grundgesetz verankert haben - dann auch wieder auf einen nachhaltigen Pfad der Haushaltsführung zurückkehren. Ich vertrete aber die tiefe Überzeugung, dass wir dies nur dann schaffen können, wenn wir jetzt starke Wachstumsimpulse setzen und wenn wir vor allen Dingen darauf setzen, Beschäftigung zu erhalten und an einigen Stellen auch innovative Beschäftigung zustande zu bringen. Dann fällt es uns viel leichter, wieder auf einen konsolidierten Haushaltspfad zurückzukehren. Es wäre also falsch, jetzt einen völlig rigiden Sparkurs einzuschlagen; das will ich auch ganz deutlich sagen.

Eine der großen Sorgen ist sicherlich die Frage der Kreditklemme, ob davon nun mittelständische Unternehmen oder auch große Unternehmen betroffen sein mögen. Wir haben deshalb ein umfassendes Kredit- und Bürgschaftsprogramm aufgelegt. Ich werde mich auch weiter dafür einsetzen, dass wir da, wo es internationaler Regelungen bedarf, die richtigen Schritte gehen. Denn es wäre Wahnsinn - man kann es nicht anders sagen -, wenn wir uns sozusagen Aufschwungselemente zerstörten, weil eine notwendige Finanzierung nicht zu vernünftigen wirtschaftlichen Bedingungen erfolgen kann.

Wir haben in den Konjunkturpaketen auch Investitionsmaßnahmen angelegt. Ich glaube, das ist richtig und wichtig, insbesondere hinsichtlich der öffentlichen Infra-struktur. Das heißt, wir haben genau das getan und uns für das entschieden, was auch Sie überlegen, nämlich nach vorne zu denken und notwendige Investitionen anzuschieben. Wenn ich an die Bildung denke, muss ich sagen, dass solche Investitionen gerade für unsere jungen Menschen von außerordentlicher Bedeutung sind. Auch deshalb werden unsere Anstrengungen, an denen eben auch die Gewerkschaften ganz wesentlich mit beteiligt sind und waren, in Deutschland allgemein akzeptiert und als Maßnahmen gewertet, die auch international helfen, diese große internationale Krise zu überwinden.

Wir haben auch alle Kraft darauf gesetzt, internationale Regeln zu vereinbaren - da sind wir noch nicht am Ende dessen, was wir erreichen wollen -, um zu verhindern, dass sich eine solche Krise wiederholt. Wenn man sich einmal überlegt, was Sie als Gewerkschafter und was diejenigen, die als Betriebsräte in den Unternehmen arbeiten, den Menschen jetzt erklären müssen und was auch wir als Politiker erklären müssen, nämlich warum wir in einer solchen Situation sind, dann kann ich nur sagen: Einmal mag das vielleicht noch verstanden werden. Wenn wir aber in einigen Jahren wieder vor die Menschen treten und sagen müssen, dass wir nun leider erkannt haben, dass die Banken alles genauso gemacht haben wie vorher, dass es wieder so gekommen ist und dass wenige mit viel Geld über die Berge sind und die anderen die Zeche zahlen müssen, dann wird das eine tiefe Erschütterung dessen bedeuten, was unsere Gesellschaft zusammenhält. Deshalb darf das nicht passieren. Ich glaube, das eint uns in unserem Verständnis von unserer Arbeit.

Nun ist das Dumme an der Sache, dass wir diese Aufgabe allein national nicht mehr bewältigen können. Schon innerhalb unserer Organisationen haben wir manchmal Mühe, für vernünftige Sachen Mehrheiten zu bekommen. Wenn man Chef oder Chefin ist, muss man genau dafür Sorge tragen. In einer Gruppe von 20 Industrie- und Wirtschaftsnationen unserer Erde kann man aber natürlich keine Anweisungen und Befehle erteilen, sondern da muss für die Argumente geworben werden. Da sind große wirtschaftliche Interessen im Spiel.

Deshalb bin ich sehr dankbar dafür, dass es gelungen ist, auch die internationalen Gewerkschaften in diese Arbeit mit einzubeziehen. Wir haben es jetzt geschafft - darüber bin ich sehr froh -, dass die Internationale Arbeitsorganisation bei den G20-Treffen mit am Tisch sitzt. Ich habe mich zu bedanken für eine große Unterstützung durch den Deutschen Gewerkschaftsbund bei der Entwicklung einer Charta für nachhaltiges Wirtschaften, mit der eben die Gesamtentwicklung in den Blick genommen werden soll. Ich habe mich bei Ihnen, bei der IG BCE, dafür zu bedanken, dass Sie - aus der internationalen Verflechtung Ihrer Wirtschaft heraus - seit langem auch immer über den nationalen Tellerrand hinaus gedacht haben. Es ist heute eben so: Wir müssen internationale Kontakte pflegen und wir müssen Bescheid wissen, wie anderswo gedacht wird, um unsere Ideen durchzusetzen.

Ich sage aber auch: Wenn wir die Soziale Marktwirtschaft in Deutschland erhalten wollen, dann müssen wir auch ein kleines bisschen anspruchsvoll sein und sagen: Die Grundprinzipien dieser Sozialen Marktwirtschaft müssen überall vertreten werden, denn wir werden niemals wettbewerbsfähig sein können, wenn wir akzeptieren, dass anderswo die Umwelt ruiniert wird, Kinder arbeiten müssen und die Arbeitsbedingungen völlig inakzeptabel sind. Deshalb ist es auch so wichtig, dass wir international gemeinsam für unsere Ziele eintreten.

Eines der erfolgsträchtigsten Instrumente des Brückenbauens war und ist sicherlich die Kurzarbeit. Ich will nicht verhehlen, dass ich ein bisschen gegrummelt habe, als wir uns einverstanden erklärt haben, auch ohne Qualifizierung die hundertprozentige Erstattung der Sozialversicherungsabgaben zu ermöglichen. Ich glaube aber, dass das unter dem Strich richtig war, habe aber gerade an Sie, die Sie ja Vorreiter in der Weiterbildung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sind, die herzliche Bitte, auch die Chancen in dieser Krise zu nutzen. Denn es ist ganz wichtig, dass lebenslanges Lernen eine Normalität wird. Ich glaube aber, ich predige hier letztlich in der falschen Kirche - oder sind Sie soweit säkularisiert, dass man solche Worte nicht mehr verwenden darf?

Man kann jedenfalls ohne Arg sagen, dass durch die Kurzarbeit mehrere hunderttausend Arbeitsplätze gesichert wurden. Wenn ich mir bei den großen deutschen Chemieunternehmen anschaue, mit welcher Verantwortlichkeit dieses Instrument eingesetzt wurde - heute sieht man, dass es den Unternehmen zum Teil schon wieder besser geht; man weiß aber nicht, ob wir wieder durch eine Konjunkturdelle gehen und damit noch einmal eine schwierige Zeit kommt -, dann glaube ich, feststellen zu dürfen, dass das Thema insgesamt richtig gesetzt war und dass es richtig war, dieser Maßnahme 24 Monate, also doch eine ansehnliche Zeitdauer, zu geben. Jetzt müssen wir die Dinge weiter beobachten.

Wir haben ein Thema, das sicherlich schon eher in den Bereich der Kontroverse hineingeht, und zwar das Thema des Mindestlohns. Ich glaube, dass wir uns einig sind, dass die tarifvertraglichen Vereinbarungen Vorrang haben sollten, wo immer das möglich ist. Ich verkenne nicht, dass es heute in einigen Beschäftigungsbereichen Situationen gibt, in denen man von einer Tarifvereinbarung zu einem hohen Prozentsatz weit entfernt ist. Deshalb habe ich mich dafür eingesetzt, dass wir ein Mindestarbeitsbedingungengesetz bekommen. Denn es kann nicht sein - wir hatten in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland schon einmal so eine Situation, als es noch eine große Zahl an Heimarbeitern gab -, dass man sich einfach klaglos einen Bereich der Beschäftigung herausnimmt und sagt: Wir haben zwar Tarifautonomie, aber wenn sie nicht angewendet wird, dann interessiert uns das nicht. Ich glaube, so etwas untergräbt die Akzeptanz der Tarifautonomie. Das will ich an dieser Stelle noch einmal ganz ausdrücklich sagen.

Ich möchte auch auf drei Themen zu sprechen kommen, von denen hier schon gesagt wurde, dass sie diskutiert werden. Nun ist es so - ich weiß nicht, ob das bei Ihnen besser klappt -, dass ich nicht verhindern kann, dass in freien Parteien auch diskutiert wird. Ich darf Ihnen aber sagen: Ich bin der Meinung, dass wir bei der Mitbestimmung nichts ändern werden und dass auch die Diskussionen über den Kündigungsschutz gerade jetzt in der Krisenzeit aus meiner Sicht nicht hilfreich sind. Genauso hat auch das Thema der betrieblichen Bündnisse für Arbeit gerade durch Ihre Art der Tarifpolitik an Brisanz verloren, weil es heute ein hohes Maß an Flexibilität in den Tarifverträgen gibt. Es ist allemal zu begrüßen, wenn das die Tarifpartner selber regeln.

Zum Thema Mitbestimmung darf ich aber deutlich sagen, dass wir alle Hände voll zu tun haben werden, uns in Europa dafür einzusetzen, dass die deutschen Regelungen nicht nur Bestand haben, sondern dass wir das auch vernünftig verankern. Wir haben aber auch noch andere Dinge zu tun. Zum Beispiel haben wir heute in den Koalitionsverhandlungen über den Datenschutz für Arbeitnehmer gesprochen. Ich denke, das ist ein Bereich, den wir auch in der neuen Regierung angehen werden.

Ich möchte mich dafür bedanken, dass Sie immer wieder Themen in den Blick nehmen, gerade auch auf diesem Kongress, die über die jetzige Situation und die Krisenbewältigung hinaus reichen. Ich will deshalb noch einmal ganz deutlich machen: Aus meiner Sicht liegt die Kraft der Bundesrepublik Deutschland ganz wesentlich auch darin begründet, dass sie ein Industriestandort und eine Exportnation ist. Alle, die uns jetzt erklären, dass wir zu viel auf den Export gesetzt hätten, graben aus meiner Sicht an der wichtigsten Säule unseres Wohlstands. Deshalb muss man dem eine klare Absage erteilen. Wir müssen wettbewerbsfähig bleiben. Das heißt natürlich nicht, dass wir uns nicht überlegen, wie wir unsere Dienstleistungsbereiche stärken können. Das darf aber nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern wir müssen unsere Exportkraft erhalten.

Es geht natürlich auch angesichts der demografischen Entwicklung in unserer Gesellschaft um schwierige Themen. Das eine ist die Rente mit 67. Hier stoßen sozusagen Realität und Emotionen sehr stark aufeinander. Als wir 2005 die Arbeit der Großen Koalition begonnen haben, belief sich der Anteil der Älteren unter den Beschäftigten nur auf rund 38 Prozent. Jetzt sind wir wieder auf über 53 Prozent hochgekommen. Aber natürlich stellen die Menschen die Frage: Warum redet ihr über die Rente mit 67, wenn wir schon bei den über 55-Jährigen die Situation haben, dass viele gar nicht mehr erwerbstätig sind? Deshalb muss es auch die allergrößte Priorität haben, dass wir Arbeit auch tatsächlich bis zum Rentenalter erhalten.

Da haben wir im Übrigen einen Dissenspunkt - das will ich hier offen ansprechen: Sie möchten gerne weiterhin staatlich geförderte Altersteilzeit haben. Ich halte das mit Blick auf unsere demografische Situation und mit Blick auf das, was wir schaffen müssen, eher für kontraproduktiv. Sie haben Gott sei Dank noch die Schraube der Tarifautonomie und werden ihre Phantasie vielleicht auch noch an dieser Stelle einsetzen - das haben Sie auch schon. Jedenfalls bleibt das ein Dissenspunkt. Ich will hier jetzt ja nicht so tun, als ob wir in allem einer Meinung seien.

Wenn Sie sich anschauen, wie sich der Altersaufbau unserer Bevölkerung entwickelt, und wenn Sie an die jungen Menschen der Zukunft denken, die als Facharbeiter eine Familie ernähren müssen und gleichzeitig mit ihren Rentenbeiträgen auch noch für eine Rente gesetzlicher Art einstehen müssen, die wenigstens bestimmte Grundbedürfnisse erfüllt, wissen Sie aber auch, dass wir die Aufgabe haben, in diese Zukunft hineinzudenken. Deshalb glaube ich, dass es richtig war, dass wir einen ganz langen Prozess angestoßen haben, der erst im Jahre 2029 enden wird, in dem wir dann das gesetzliche Renteneintrittsalter von 67 Jahren erreichen werden. Das ist eine lange Zeit, weshalb sich die Menschen darauf vorbereiten können.

Ich weiß, dass das in der Arbeitswelt und auch sonst im Leben oft als sehr schwierig angesehen wird. Aber ich sage Ihnen auch: Wir werden Mitte des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts, also 2014/15/16 - bei den Schulabgängerzahlen sehen wir es schon jetzt - ein unglaubliches Problem, einen viel größeren Fachkräftemangel bekommen. Deshalb bitte ich, bei aller Kontroversität bei diesem Thema auch die Zeitabschnitte im Auge zu behalten, die wir dafür ins Auge gefasst haben. Das gibt ein Stück Berechenbarkeit. An dieser Stelle wird aber auch noch viel Umdenken in unserer Gesellschaft notwendig sein.

Wir werden darauf zu achten haben, dass wir die Jüngeren fördern und hierbei immer auch das Verhältnis von Jüngeren zu Älteren im Blick haben. Ich will ausdrücklich hervorheben - es kommt mir nicht zu, Sie zu loben, aber ich finde, das ist ein außerordentlich positiver Beitrag -, dass Demografie-Tarifverträge bei Ihnen durchaus schon Anwendung finden und Sie auf diese Dinge hinweisen.

Bei den Jungen müssen wir vor allen Dingen auf das Thema Bildung achten. Das wird auch ein Schwerpunkt unserer Arbeit in den nächsten Jahren sein. Ich bin immer noch sehr unglücklich darüber, dass es in Deutschland eigentlich so schwer ist, den Lebenspfad jedes jungen Menschen zu verfolgen. Wir werden dieses Jahr wahrscheinlich wieder sagen können: Es ist jetzt so, dass - mit Ausnahme von 9.600 Jugendlichen - alle Jugendlichen einen Ausbildungsplatz bekommen. Aber es wird schon viel schwieriger - wir haben neulich darüber gesprochen - , dann zu verfolgen, was eigentlich mit denen passiert, die eine Berufsausbildung vollendet haben, und was mit deren Fachwissen entsteht. Wenn wir uns dann überlegen, wie viele Altbewerber wir noch haben, von denen wir nicht genau wissen, wie sie ihren Lebensweg gehen, dann ist das sehr kompliziert. Wenn man sich überlegt, dass jemand bis zum Alter von 25 Jahren keine ordentliche Ausbildung hat, dann ist die Gefahr, dass er auf Dauer in eine Abhängigkeit vom Staat gerät, halt sehr groß. Das werden wi r uns in Zukunft nicht mehr leisten können.

Ich bin auch sehr dankbar dafür, dass Sie in diesem Zusammenhang immer ein Auge auf das Thema Integration geworfen haben. Es ist eines der wichtigsten Themen, derer wir uns annehmen müssen. Ich muss ganz ehrlich sagen: Eine meiner emotionalsten Veranstaltungen in der letzten Legislaturperiode beruhte auf der Idee unserer Integrationsbeauftragten, doch einmal die Gastarbeiter der ersten Stunde einzuladen und mit ihnen im Kanzleramt darüber zu diskutieren, was passiert ist. Ich habe nicht nur erfahren, dass Herr Hambrecht seine touristischen Italienisch-Brocken gelernt hat, als er mit einem italienischen Gastarbeiter zusammenarbeitete, sondern auch vieles andere.

Ich kann nur ein Dankeschön an die Gewerkschaften für das aussprechen, was sie für die Integration der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer getan haben. Als die Gesellschaft noch weit davon entfernt war, damaligen Gastarbeitern gleiche oder ähnliche Rechte einzuräumen, haben Sie über die Gewerkschaften das am Arbeitsplatz bereits gemacht. Das hat uns auch insgesamt geholfen und genutzt. Diesen Weg der besseren Integration müssen wir weitergehen.

Wir dürfen junge Menschen nicht einfach nicht ausreichend beachten. Wenn man sich einmal die Ballungsgebiete anschaut - Sie wissen das wahrscheinlich mindestens so gut wie ich - und sieht, dass dort 40 Prozent derer, die eingeschult werden, heute Kinder mit Migrationshintergrund sind, dann ist die Frage, wie sie ihren Schulabschluss machen und ob sie in der Lage sein werden, anschließend zum Beispiel Chemiefacharbeiter zu werden oder nicht, für uns eine der existenziellen Fragen. Wir können Hunderte von Tagen lang über den Industriestandort reden, aber wenn das nicht gelingt, dann werden die Unternehmen ihre Arbeitsplätze anderswohin verlagern, weil sie Fachkräfte brauchen.

Sie haben sich auch immer wieder dem Thema Klimaschutz zugewandt, vor allen Dingen aber den Themen Bildung und Forschung. Solche Ausführungen, wie ich sie hier auf diesem IG-BCE-Tag hinsichtlich der neuen Technologien vernommen habe - zur Nanotechnologie, zur Gentechnologie, zu vielem, das von wirklich großer Zukunftsorientierung zeugt -, vermisse ich manchmal in meinen Parteikreisen; das muss ich ganz ehrlich sagen.

Wenn wir uns etwa das bisherige Schicksal der Stärkekartoffel "Amflora" anschauen - hierbei handelt es sich nicht um eine Speisekartoffel, sondern um eine Stärkekartoffel -, dann muss man einfach sehen, dass, wenn ich richtig informiert bin, schon eine Milliarde Euro in die gesamte Entwicklung hineingesteckt worden ist. - "13 Jahre" ruft mir Herr Schmoldt gerade zu. - Wenn die Genehmigungen dann jetzt wieder in Brüssel liegen, obwohl die entsprechenden Ausschüsse schon dreimal geprüft haben, ob hier irgendetwas Schädliches vorliegt, dann kann man es Unternehmern, die auch überlegen müssen, wie sie verantwortlich handeln, zum Schluss nicht verübeln, wenn sie mit so etwas weggehen. Ich will das nicht. Und Sie wollen das wahrscheinlich auch nicht. Wir müssen dabei am Ball bleiben. Deshalb wird das neben den sozialen Fragen, die wir natürlich zu besprechen haben, auch eine unserer gemeinsamen Aufgaben sein.

Die IG BCE hat sich, wie es auch der Name der fusionierten Gewerkschaft aussagt, natürlich auch sehr intensiv mit Energiethemen beschäftigt, die eng mit dem Klimaschutz zusammenhängen. Ein herzliches Dankeschön für eine sehr zukunftsgerichtete Herangehensweise in der Kohlepolitik und auch herzlichen Dank für Ihre Ausführungen zu einem Energiemix. Das wird jetzt in der neuen Regierung sicherlich noch eine ganze Reihe von Diskussionen und auch gesellschaftliche Diskussionen nach sich ziehen. Ich glaube, wenn wir ein Industriestandort und eine Exportnation bleiben wollen, dann steht es uns gut zu Gesicht, in der Lage zu sein, die Energie, die wir brauchen, auch selbst zu produzieren.

Zweitens. Selbst wenn wir einmal als Exportweltmeister in einem windträchtigen Jahr eine Kilowattstunde Windstrom exportieren sollten und damit Geld verdienen, ist mir das im Zweifelsfall immer noch lieber, als wenn wir zum Importeur von Energie werden. Ich sehe wenig Sinn darin, zum Schluss Kernenergiestrom aus Tschechien zu kaufen, weil wir in Bayern alle Kraftwerke abgeschaltet haben, aber es wegen langer Planungsverfahren noch nicht geschafft haben, die Offshore-Energie von der Nordsee in den Süden zu bringen. Wir haben halt die Situation, dass dort, wo der Wind besonders günstig weht und die Menschen besonders selten oder gar nicht, also auf dem Meer, wohnen, nun auch nicht unbedingt unsere Industrieanlagen stehen und dort Strom gebraucht wird. Irgendwie muss er dann aber von A nach B transportiert werden. Es ist ja nicht so, dass der Stromtransport etwas wäre, bei dem in Deutschland kein Konflikt herrschen würde. Wir sind in der Lage, über eigentlich alles und jedes einen Konflikt zu beginnen. So sind eine Hochspannungsleitung oder ein Erdkabel - ich will jetzt gar nicht von einer CCS-Leitung sprechen - natürlich immer konfliktträchtig. Auch diesbezüglich ein herzliches Dankeschön dafür, dass Sie einen rationalen und vernünftigen Umgang mit diesen Fragen pflegen. Es hilft uns natürlich, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer hierbei eine ähnliche Haltung haben.

Ich bin der Meinung: Wir brauchen einen Energiemix. Weder dürfen wir uns zum Importland entwickeln noch dürfen wir auf einen Energieträger allein setzen. Es ist nicht nur so, dass die Kernenergie umkämpft ist, sondern so, dass es inzwischen fast auch nicht mehr möglich ist, ein neues Kohlekraftwerk zu bauen. Jeder, der in der Nähe eines solchen Investitionsstandortes lebt, weiß um die Schwierigkeiten, die wir haben. Die völlige Abhängigkeit von importiertem Erdgas ist auch nicht einfach. Da wir gerade heute in den Koalitionsverhandlungen darüber gesprochen haben: Es ist eben auch so, dass wir immer noch aufpassen müssen, dass der Strom für die energieintensive Industrie auch bezahlbar sein muss. Das heißt, die Wirtschaftlichkeit kann nicht völlig außer Acht gelassen werden. Ich möchte durchaus, dass man auch bei uns noch Aluminium, Zink und Kupfer gewinnen kann. Aber auch dabei befinden wir uns natürlich in einem Spannungsfeld. Wenn wir uns von einer Energiequelle abhängig machen, deren Weltmarktpreise wir nicht kennen, dann kommen wir in eine schwierige Situation.

Ich bin natürlich trotzdem der Meinung, dass wir so schnell wie möglich dazu kommen sollten, umweltfreundliche und klimafreundliche Energie zu erzeugen, die aber sozusagen nicht gegen den Industriestandort Deutschland ausgespielt werden darf. Deshalb wird Energiepolitik auch in Zukunft eines der spannenden Themen bleiben. Wir sind bei den erneuerbaren Energien vorangekommen; das ist wunderbar. Niedersachsen, das Land Ihres Tagungsortes, ist ein Beispiel dafür, was man schaffen kann. Die Windenergie hat sich zum Beispiel auch sehr viel besser entwickelt, als viele Auguren behauptet haben. Sie liegt heute in guten Windgebieten sehr nahe an der Grundlastfähigkeit; auch das muss man sagen. Wir können aber natürlich mit Blockkraftwerken auch im Bereich der Kohle noch vieles erreichen. Wir müssen den Wärmemarkt erschließen. Ich will hier jetzt keinen Klimavortrag halten, sondern will nur sagen: Im Bereich der Energieeffizienz kann viel gemacht werden.

Jetzt komme ich allerdings wieder zu etwas, das auch für Sie wichtig ist. Wir haben uns immer wieder auf die Industrie gestürzt. Bei der Industrie haben wir das Optimum des Wirkungsgrades aber an vielen Stellen eigentlich bereits erreicht. Bessere Ergebnisse als den naturwissenschaftlich möglichen Wirkungsgrad werden wir zum Beispiel bei der Stahlproduktion nicht erreichen können. Auch bei all den wärmetechnischen Maßnahmen - Rückgewinnung, Kreislaufwirtschaft -, die man heute in den großen Chemieanlagen fährt, sind wir auf einem unglaublich hohen Niveau. Deshalb müssen wir jetzt an anderer Stelle ansetzen: beim privaten Konsum, bei der Gebäudesanierung und bei all dem, was viele Jahre lang versäumt wurde. Man sagt nicht umsonst: Der Wärmemarkt außerhalb der Industrieproduktion ist eigentlich der große schlafende Riese, den man noch erschließen muss, wenn es um die Frage des Klimaschutzes geht. Wir sind dabei, wie ich glaube, im Großen und Ganzen auch einer Meinung.

Ich möchte auch, dass wir hinsichtlich der Rohstoffchemie ein hervorragender Standort sein werden, der diesen Anspruch nicht aufgibt. Wir müssen die ganze Wertschöpfungskette doch bei uns behalten, auch wenn natürlich große Teile in die internationalen Märkte gehen werden. Wenn es nämlich einmal Risse in dieser gesamten Kette gibt, dann wird man auch mit Feinchemie allein keinen Chemiestandort aufrechterhalten können. Wenn man das in bestimmten Forschungsbereichen einmal aufgegeben hat und seelenruhig zuschaut, wie das in Asien oder anderswo gemacht wird, dann wird das zu irreparablen Schäden führen. Kein Mensch wird hinterher eindeutig sagen können, wie das alles gekommen ist. Die Hoechst AG gibt es heute nicht mehr. Darüber, ob das etwas damit zu tun hat, dass man zwölf, dreizehn oder was weiß ich wie viele Jahre lang mit dem gentechnisch hergestellten Insulin gewartet hat, kann man viel erzählen. Aber ich sage heute: Wir müssen darauf achten, dass wir das Notwendige tun, und zwar in einer kurzen Zeit. Gerade das Beispiel "Amflora" nähert sic h eben wieder dem Beispiel des gentechnisch hergestellten Insulins an. Von solchen Beispielen können wir uns nicht allzu viele leisten.

Ich glaube auch, dass Deutschland gut daran tut, ein interessanter Pharmastandort zu bleiben. Wenn wir eine alternde Gesellschaft sind, und das sind wir, dann müssen wir die Chancen dieser Gesellschaft auch nutzen. Es gibt in der Pharmaindustrie als Teil der Gesundheitswirtschaft spannende Entwicklungen, in denen große Möglichkeiten für uns liegen.

In der Nähe des 20. Jahrestags des Mauerfalls möchte man manchmal auf andere Weise wieder das Gorbatschow zugeschriebene Zitat anführen: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben." Deshalb sage ich auch für die Bundesrepublik Deutschland: Die Welt wartet nicht auf uns. Die Welt wartet nicht darauf, dass wir gute Einfälle haben oder dass wir unsere Vorhaben besonders schnell realisieren. Der Wettbewerb ist härter geworden. Sie alle spüren das. Nur diejenigen, die sich der Zukunft wirklich zuwenden, die sie nicht nur in den Blick nehmen, sondern auch wirklich mutige Schritte in die Zukunft vorbereiten, werden eine Chance haben, auch weiterhin in Wohlstand leben zu können.

Ich glaube, wir haben das Zeug dazu. Wir haben im 20. Jahrhundert mit vielen Erfindungen gezeigt, was wir können. Deutschland hat das größte Chemieunternehmen der Welt, die BASF. Manchmal denke ich, dass das viele Menschen gar nicht wissen und daher auch gar nicht der Stolz entsteht, den andere, die von außen auf uns schauen, haben. Doch diesen Stolz verkörpern auch Sie durch Ihre tägliche Arbeit. Dafür ein herzliches Dankeschön.

Auf gute Zusammenarbeit und Ihnen noch weiterhin einen guten Kongress. Wir werden uns bald wiedersehen. Die Gespräche werden fortgesetzt. Sie haben sogar schon einen Titel dafür; ich muss mal die Arbeitgeber fragen, was sie dazu sagen. Wir bleiben in intensivem Kontakt.


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Quelle:
Bulletin Nr. 103-3 vom 14.10.2009
Gewerkschaftskongress
Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel auf dem Vierten Ordentlichen Gewerkschaftskongress
der IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) am 14. Oktober 2009 in Hannover
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Oktober 2009