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REDE/419: Dr. Angela Merkel zum Haushaltsgesetz 2010, 17. März 2010 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
"REGIERUNGonline" - Wissen aus erster Hand

Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zum Haushaltsgesetz 2010 vor dem Deutschen Bundestag am 17. März 2010 in Berlin


Herr Präsident!
Meine Damen und Herren!

Herr Steinmeier, vorweg eine Bemerkung: Die Opposition und speziell die SPD könnte dem gesellschaftlichen Klima im Lande einen guten Dienst erweisen - vielleicht könnten Sie ganz persönlich dafür sorgen - , wenn unserem Staatsoberhaupt, dem Bundespräsidenten, der notwendige Respekt entgegengebracht wird. Das fordern wir.

Wir beraten heute den Haushalt, der die größte Neuverschuldung des Bundes in der 60-jährigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland aufweist. 80,2 Milliarden Euro Schulden bei einem Gesamtumfang des Bundeshaushaltes von knapp 320 Milliarden Euro, das bedeutet 25 Prozent Schulden, das bedeutet, jeder vierte Euro, den wir in diesem Jahr ausgeben, ist nicht durch die Einnahmen gedeckt. Diese 80 Milliarden Euro Schulden sind genau das Doppelte der bisher höchsten Neuverschuldung des Bundes aus dem Jahre 1996 infolge der deutschen Einheit. Damals waren es 40 Milliarden Euro. 80 Milliarden Euro Schulden, das bedeutet 1.000 Euro pro Einwohner der Bundesrepublik Deutschland; hinzu kommen 460 Euro Zinsen. Das heißt, 11,5 Prozent des Bundeshaushaltes, ungefähr jeder zehnte Euro, muss bereits für Zinszahlungen aufgebracht werden.

Ich sage ganz deutlich - genauso wie der Finanzminister gestern -: Mit Recht machen sich die Menschen Gedanken über die Verschuldung. Mit Recht fragen sie uns alle, wenn wir in unseren Wahlkreisen sind: Was wird daraus? Wie werdet ihr das lösen? Ich glaube, das eint uns in diesem Hause. Was uns nicht eint und worüber wir ja heute sprechen - bleiben Sie doch ganz ruhig und gelassen -, sind die Fragen: Was tun wir, und wie tun wir es? Die Bundesregierung hat sich dennoch dazu entschlossen. Ich möchte mich bei den Abgeordneten der Koalitionsfraktionen ganz besonders bedanken, dass sie das mitgetragen haben, sodass wir heute in den Grundzügen den Haushalt so verabschieden, wie ihn die Regierung vorgelegt hat.

Ich sage im Übrigen an die SPD: Dieser Haushalt wird gegenüber dem Haushalt, den wir damals in der Großen Koalition beraten haben, drei Monate früher beraten. Das zeigt, wie handlungsfähig diese Regierung und diese christlich-liberale Koalition in einer schwierigen Situation sind.

Wenn wir uns die Struktur dieses Haushaltes anschauen - auch da will ich gar nicht drum herumreden -, dann sehen wir, dass dieser Haushalt über neun Prozent größer ist, als es in normalen Zeiten der Fall wäre. Etwa 54 Prozent dieses Haushaltes sind Sozialausgaben. Erinnern wir uns: 1980 wurden 16 Prozent des Bundeshaushaltes für Soziales ausgegeben, 1991 20 Prozent, im Jahre 2000 33 Prozent. In diesem Jahr sind es 54 Prozent. Das beinhaltet etwa 80 Milliarden Euro für Rente, 40 Milliarden Euro für das Arbeitslosengeld II und - wir haben etwas ganz Besonderes gemacht; das weist schon darauf hin, warum wir einen solchen Haushalt verabschieden - auch immense Zuschüsse an die Bundesagentur für Arbeit und an den Gesundheitsfonds; diese führen uns genau dazu, warum wir einen solchen Haushalt verabschieden.

Wir verabschieden einen solchen Haushalt nur aus einer einzigen Tatsache heraus: In diesem Jahr müssen wir weiter eine Krise bekämpfen, die uns im vergangenen Jahr einen Wirtschaftseinbruch von fünf Prozent gebracht hat. Das sind 88 Milliarden Euro weniger Produktion in Deutschland, weniger Bruttoinlandsprodukt. Einen solchen Einbruch haben wir noch nie gesehen. Wir wollen Fehler aus der Geschichte nicht wiederholen und vernünftig darauf antworten, sodass Wachstum wieder in Gang kommen kann. Das ist die tiefere Ursache dieses Haushaltes. Dazu stehen wir aus voller Überzeugung, weil es für die Menschen in diesem Lande richtig ist.

Keiner von uns hat Erfahrungen mit einem solch dramatischen Wirtschaftseinbruch. Die Krise hat vor 18 Monaten mit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers begonnen. Wir können heute sagen, dass wir in diesen 18 Monaten Wichtiges geschafft haben. Wir haben die Banken und den Finanzsektor stabilisieren können. Mit den 400 Milliarden Euro Garantien und den 80 Milliarden Euro Rekapitalisierung ist das gelungen. Heute haben wir noch etwa 145 Milliarden Euro Liquiditätsgarantien - bei den Garantien gab es übrigens keine Ausfälle -, und wir haben 28 Milliarden Euro Eigenkapitalhilfen. Das wird sich noch lange in die Zukunft ziehen, so lange, bis wir absehen können, was für einen Verlust das für den Steuerzahler bedeutet. Die Hilfen sind gut angenommen worden, und sie sind weltweit koordiniert gegeben worden. Das hat zu einer Stabilisierung geführt.

Mindestens genauso wichtig: Der Einbruch der Realwirtschaft ist durch das, was wir machen, in seinen Auswirkungen gedämpft worden, nämlich durch das 100-Milliarden-Euro-Konjunkturpaket für 2009 und 2010 und ein Wachstumsbeschleunigungsgesetz, das seinen Namen zu Recht hat, mit 8,5 Milliarden Euro Entlastung für Familien und vieles andere.

Die Steuersenkungen haben wir zum Teil gemeinsam und zum Teil nach kontroversen Diskussionen beschlossen. Wir haben für eine Entlastung von über 20 Milliarden Euro gesorgt. Wir wissen aus den Erfahrungen: 90 Prozent davon gehen in den Konsum der Menschen, und das ist genau der Beitrag, den wir leisten, um die Binnenwirtschaft nicht einbrechen zu lassen.

Wir machen das, was uns die Ökonomen sagen: Wir lassen die automatischen Stabilisatoren wirken - das heißt auf gut Deutsch, die Lohnzusatzkosten steigen nicht an -, und wir haben die Darlehen sowohl für das Gesundheitssystem als auch für die Bundesagentur in Zuschüsse umgewandelt, was uns ein besseres Fundament im Hinblick auf die weitere Beitragsentwicklung gibt. Wir haben, damals noch gemeinsam, auch die Rentengarantie beschlossen, eine wichtige Maßnahme, wie sich jetzt herausstellt. Denn zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sind die Bruttolöhne im letzten Jahr gesunken.

Hier möchte ich an das anknüpfen, was neben all den Maßnahmen, die wir ergriffen haben, in den letzten 18 Monaten vielleicht das Allerwichtigste war: dass die Menschen gezeigt haben, was in diesem Lande steckt, dass Unternehmer genauso wie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Verantwortung gezeigt, die Maßnahmen der Regierung angenommen und selbst Lohnzurückhaltung geübt haben. Es war gut, dass wir für eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes mit Arbeitszeitkonten und vielem anderen gesorgt haben; von all diesen Instrumenten wurde Gebrauch gemacht. Wir haben deshalb die Kurzarbeit aus voller Überzeugung bis 2011 verlängert. Wir sagen: Wir müssen in dieser Situation zusammenstehen. Das zeigen die moderaten Tarifabschlüsse, das zeigen unsere Maßnahmen, und so werden wir auch weiter durch diese Krise gehen.

Das hat Wirkung gezeigt. Wenn wir uns einmal anschauen, wie sich die Arbeitslosigkeit im europäischen Vergleich entwickelt hat, so sehen wir, dass die Arbeitslosigkeit bei uns im Jahre 2009 gegenüber 2008 um 4,4 Prozent gestiegen ist, im EU-Durchschnitt allerdings um 36 Prozent. In Frankreich zum Beispiel ist sie um 30 Prozent gestiegen, in den Vereinigten Staaten von Amerika um 70 Prozent.

Das vielleicht Schönste ist, dass die Jugendarbeitslosigkeit bei uns um elf Prozent gesunken ist, während sie im Mittel der Europäischen Union um 28 Prozent gestiegen ist, in Spanien zum Beispiel um 86 Prozent. Das ist nichts, worauf man sich ausruhen kann. Aber das ist schon etwas, worauf man auch ein Stück stolz sein kann, und zwar wir alle gemeinsam.

Wir haben wieder leichte Wachstumsraten. Der Binnenkonsum ist im letzten Jahr nicht eingebrochen: plus 0,2 Prozent. In diesem Jahr sehen wir einen leichten Einbruch. Warten wir aber erst einmal ab. Den Prognosen kann man ja auch nicht so richtig trauen. Wir konnten bislang Insolvenzen vermeiden. Es wird nicht einfach; aber es ist richtig, diesen Kurs weiter zu verfolgen.

In den nächsten Jahren kommt eine riesige Aufgabe auf uns zu, eine Herkulesaufgabe. Wir müssen eigentlich Unvereinbares zusammenbringen: den Haushalt konsolidieren, aber zugleich Wachstum schaffen, und das Ganze in dem Umfeld einer Gesellschaft, deren Altersaufbau sich dramatisch verändert.

Wir brauchen neues Denken, um diese großen Herausforderungen bewältigen zu können. Dazu ist die christlich-liberale Koalition bereit.

Als Erstes brauchen wir eine kluge Exit-Strategie aus den Konjunkturprogrammen, die wir aufgelegt haben. Wir müssen in den nächsten Jahren - auch wegen der Schuldenbremse, die Deutschland als weltweit einziges Land eingeführt hat, mitten in der Krise - auf Konsolidierungskurs gehen.

Wir haben schwierige Sparmaßnahmen vor uns. Ein strukturelles Defizit von etwa 67 Milliarden Euro wird in den Jahren 2011 bis 2015 abzubauen sein, damit die Neuverschuldung im Bundeshaushalt ab 2016 bei höchstens zehn Milliarden Euro liegt. Das heißt, wir müssen pro Jahr ein Defizit von zehn Milliarden Euro abbauen. Das Kabinett wird sich dieser Aufgabe stellen, und ich sage dem Bundesfinanzminister Unterstützung zu. Wir wissen, was das bedeutet. Die Erstanmeldungen für den Haushalt 2011 sind noch nicht so, dass wir sagen könnten: Wir haben es schon geschafft, die zehn Milliarden Euro einzusparen. Die Bundesregierung verpflichtet sich hier aber gegenüber dem Parlament, ihren Beitrag zu leisten.

Bei der Analyse dürften wir uns einig sein, darüber brauchen wir nicht mehr zu streiten. Jetzt kommen wir zu der Frage: Wie schaffen wir das? Neben einer klugen Exit-Strategie brauchen wir eine kluge Wachstumsstrategie. Die Erfahrungen der Jahre 2005 bis 2009 zeigen doch: Die beste Wachstumsstrategie ist, möglichst viele Arbeitsplätze zu schaffen. Wann immer wir mehr Arbeit haben, wann immer die Zahl der Arbeitslosen um 100.000 sinkt, werden die Sozialsysteme und der Bundeshaushalt um zwei Milliarden Euro entlastet. Deshalb gilt es, Arbeit zu schaffen und möglichst viel Beschäftigung hinzubekommen. Nicht nur entlastet das den Bundeshaushalt, sondern Arbeit ermöglicht den Menschen auch Teilhabe und gesellschaftliches Mitbestimmen und ist lebenserfüllend. Das bedeutet, in Deutschland möglichst viel qualifizierte Arbeit bereitzustellen, um aus der Arbeitslosigkeit herauszukommen.

Schauen wir uns die heutige Situation einmal an: fünf Millionen Menschen beziehen Arbeitslosengeld II. Das kostet den Bundeshaushalt, wie gesagt, 40 Milliarden Euro. Durch die Kosten für die Unterkunft entsteht den Kommunen eine Belastung von elf Milliarden Euro. Wenn wir es schaffen, dass mehr und mehr Menschen aus dieser Situation herauskommen, dann haben wir etwas erreicht.

Schauen wir uns einmal an, was Sie vorschlagen: Die sozialdemokratische Fraktion und der ehemalige Kanzleramtsminister Steinmeier sind, muss man sagen, in einem wundersamen Wandel begriffen. Es waren einmal fünf Millionen Arbeitslose. Sie haben Reformen durchgeführt; wir haben diese Reformen im Bundesrat unterstützt. Diese Reformen haben, zusammen mit anderen Reformen, dazu geführt, dass die Zahl der Arbeitslosen in den Jahren darauf unter drei Millionen gefallen ist. Sie haben sich nie überlegt, warum das so gekommen ist. Ihre Wahrnehmung war immer geteilt: Sie waren zwar froh, dass die Zahl der Arbeitslosen sank; aber Sie haben Ihren Leuten nie erklärt, wie das kommen konnte. Die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe ist eine Härte, ja. Aber gleichzeitig hat diese Maßnahme natürlich Möglichkeiten geschaffen, dass viele Menschen wieder eine Arbeit aufgenommen haben.

Weil Sie das alles niemals Ihren eigenen Leuten erklärt haben, müssen Sie jetzt die Rolle rückwärts machen und wollen allen Ernstes behaupten: Wer Arbeitslosengeld II bekommen will, braucht keine Vermögensprüfung mehr zu durchlaufen. Ich glaube, da sind Sie auf einem falschen Trip. Ich zumindest bin davon überzeugt, dass das falsch ist.

Der nächste Punkt wird sein, dass Sie die Rente mit 67 rückgängig machen müssen, weil aufgrund Ihrer falschen Konzepte die Möglichkeiten zur Vermittlung von älteren Arbeitnehmern schlechter werden.

Jetzt sage ich Ihnen, was wir wollen. Von den heute fünf Millionen Arbeitslosengeld-II-Empfängern sind ungefähr 1,4 Millionen zusätzlich zu den Leistungen aus Hartz IV erwerbstätig. Von diesen 1,4 Millionen Menschen befindet sich die übergroße Mehrzahl in Beschäftigungsverhältnissen unter oder bis 200 Euro. Die Zahl derer, die darüber hinaus dazuverdienen, wird immer geringer. Das heißt doch nichts anderes, als dass es eine Barriere beim Hinzuverdienst gibt. Am Anfang ist die Abzugsrate gleich null; man kann hinzuverdienen. Über diesen Betrag von 200 Euro hinaus ist die Abzugsrate so hoch, dass es bei Verdiensten über 150 Euro praktisch überhaupt keinen Unterschied mehr macht, insbesondere bei Familien mit mehreren Kindern, ob sie etwas verdienen oder ob sie nichts verdienen und Hartz IV bekommen.

Deshalb haben wir gesagt: Wir müssen die Hinzuverdienstgrenzen verändern, und zwar so, dass sie einen Anreiz bieten, in Arbeit zu kommen. Wir sind der Meinung: Diejenigen, die sowohl Arbeitslosengeld II beziehen als auch etwas hinzuverdienen, sind auf einem besseren Weg, eine Arbeit zu finden, als die, die gar nichts hinzuverdienen. Das ist unser Ansatz.

Man kann den Unterschied ganz klar benennen. Wir wollen den Menschen helfen. Dafür sind die Eingliederungstitel und viele andere Instrumente in der Bundesagentur geschaffen worden. Die Bundesministerin für Arbeit und Soziales wird ein Programm vorlegen. Dann werden die Mittel entsperrt und stehen zur Verfügung. Das ist überhaupt kein Problem. Wir müssen dafür sorgen, dass mit dem Geld, das wir für die ausgeben, die Arbeitslosengeld II beziehen, und sie in Beschäftigung bringen soll, wirkliche Folgebeschäftigung entsteht, anstatt einen öffentlichen Arbeitsmarkt zu manifestieren und zu zementieren, der uns am Schluss nur etwas kostet und nichts bringt. Es ist der Mühe wert, dass man das versucht.

Ich spreche darüber so ausführlich, weil sich genau hier unterschiedliches Denken im Hause manifestiert. Wenn wir die Struktur dieses Bundeshaushaltes mittelfristig ändern, wird das dazu führen, dass wir die Rentenzuschüsse und die Gesundheitskosten, die wir als Steuermittel im Wesentlichen für die Kinder in das Gesundheitssystem gegeben haben, nicht kürzen. Dann werden wir sehen, dass mehr Menschen in Arbeit kommen und von diesem Block der 40 Milliarden Euro weniger ausgegeben werden muss, weil diese Menschen wieder Arbeit haben. Auf diesem Feld können wir etwas tun. Im Übrigen freuen sich darüber auch die Kommunen; denn sie geben elf Milliarden Euro für die Kosten der Unterkunft aus. Jeder Euro, den sie nicht ausgeben, ist für sie eine massive Entlastung.

Wenn Menschen arbeiten, dann geht es darum, dass sich Leistung lohnt. Deshalb ist unser Ansatz, bei dem sogenannten Mittelstandsbauch, also bei der stärksten Steigerung der Progression, und bei der kalten Progression im steuerlichen Bereich für eine Entlastung zu sorgen. Es wird einfacher, niedriger und vor allen Dingen gerechter, damit sich Leistung in diesem Lande lohnt.

Es geht natürlich um qualifizierte Arbeitsplätze. Deshalb haben wir in der Koalition - das spiegelt sich ja im Haushalt wider - einen Schwerpunkt bei Forschung und Bildung gesetzt, weil das die Zukunft ist. Deshalb sagen wir: Wir werden die Elektromobilität fördern. Am 3. Mai 2010 wird der Kongress mit allen Akteuren stattfinden, damit wir eine Chance für den Technologiestandort Deutschland entwickeln.

Deshalb werden wir auch ein neues Energiekonzept entwickeln. Wir sind in dieser Frage einer Meinung darin, dass es darum geht, ein Zeitalter der regenerativen Energien zu erreichen. Eigentlich müssten wir aber auch einer Meinung darüber sein, dass wir den Industriestandort Deutschland erhalten wollen, und das heißt immer Dreierlei: Energie muss bezahlbar sein, Energie muss sicher sein, und Energie muss umweltverträglich sein. Das werden wir zusammenbringen. Deshalb sagen wir: Die Kernenergie ist eine Brückentechnologie, aber die Länge der Brücke richtet sich danach, dass wir diese drei Dinge miteinander verbinden können.

Herr Steinmeier, ich bin schon ein bisschen erstaunt. Die deutschen Stromversorgungsnetze haben sich nun 60 Jahre lang in privater Hand befunden. Jetzt ist es so, dass das Eigentum auch aufgrund von Anordnungen der Europäischen Union von Vattenfall, einem Unternehmen, das schwedischer Natur ist, hin zu einem belgischen Unternehmen wandert, das schon eine Vielzahl von Stromnetzen betreibt und von dem nichts Ehrenrühriges bekannt ist. Das ist genauso wie bei anderen, die ihr Elektronetz an ein niederländisches Staatsunternehmen verkauft haben. Sind wir nun in einem europäischen Binnenmarkt, oder sind wir es nicht? Polemisieren wir gegen belgische Firmen, nur weil sie keine deutschen sind, oder machen wir das nicht?

- Von der Idee einer Reverstaatlichung des deutschen Stromnetzes halte ich ehrlich gesagt gar nichts. Wir müssen natürlich vernünftige Ausbaubedingungen erreichen. Dafür müssen wir vernünftige Investitionsbedingungen schaffen und dafür sorgen, dass man eine Hochspannungsleitung bauen kann, ohne dass das Genehmigen zehn Jahre dauert und ohne dass die Erdkabel so viel Geld verschlingen, dass man überhaupt nicht mehr zu Potte kommt. Das sind die wichtigen Aufgaben, aber das hängt nun wirklich nicht davon ab, ob das Unternehmen schwedisch oder belgisch ist, sondern das hängt von ganz anderen Dingen ab.

Wir werden die Gesundheitsforschung weiter nach vorne bringen. Wir haben bereits ein Zentrum für Demenzkranke in Bonn gegründet. - Ich weiß nicht, ob Herr Müntefering da ist. Er hatte wenigstens, als wir noch gemeinsam regiert haben, so viel Vernunft, zu sagen, dass wir Leuchttürme brauchen. Ich verstehe Sie ja. Das ist ein Zentrum in Bonn und deshalb in Nordrhein-Westfalen. - Wir brauchen also Leuchttürme, mit denen den Menschen gezeigt wird, wofür Forschung und Entwicklung gut sind, und bei einer alternden Gesellschaft ist es allemal gut, wenn Deutschland im Gesundheitsbereich eine Spitzenposition auf der Welt hat. Wir haben auch das Zeug dazu, und die Bundesregierung fördert das.

Natürlich ist es wichtig, dass unsere Unternehmen mit Krediten versorgt werden - insbesondere der Mittelstand. Deshalb gibt es die Kreditversorgung über den Wirtschaftsfonds, und deshalb haben wir auch - der Bundeswirtschaftsminister hat das getan - einen Kreditmediator eingesetzt, der seine Arbeit aufgenommen hat. - Sie wissen, dass bei solchen Dingen gilt: Wenn Sie sie gemacht hätten, dann fänden Sie es ganz toll, weil wir sie machen, finden Sie es einfach nicht toll. Der Kreditmediator wird seine Arbeit machen, der Mittelstand wird es ihm danken.

Wir sprechen wieder darüber, wenn sich die Sache gut entwickelt hat.

Ich sage Ihnen auch: Wir werden eine Politik fördern, mit der die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands gestärkt wird. Ich glaube nicht, dass wir in der Europäischen Union, wenn wir über eine Wirtschaftsregierung reden, was ich für richtig halte, die Diskussion so führen sollten, dass man sich danach richtet, wer am langsamsten ist, sondern beim Benchmarking muss geschaut werden, wer am schnellsten und am besten ist.

Ich sage auch ganz deutlich, wo Deutschland Schwächen hat. Wir haben von der OECD eine hohe Abgabenlast im Niedriglohnbereich attestiert bekommen. Da haben wir Schwächen. Darüber müssen wir nachdenken. Aber wir werden unsere Stärken nicht aufgeben, weil von unseren Exportgütern mehr gekauft wird als von denen anderer Länder. Das wäre die falsche europäische Antwort auf die Wettbewerbsfähigkeit unseres Kontinents.

Sicherlich ist die schwierigste Herausforderung, vor der wir stehen, die Veränderung des Altersaufbaus. Am Ende des Jahrzehnts, das jetzt begonnen hat, wird es drei Millionen mehr ältere Beschäftigte geben. Die Zahl der Beschäftigten im Verhältnis zu Rentnern und Kindern wird sich dramatisch verändern, und zwar von heute 65 Rentnern und Kindern im Verhältnis zu 100 Beschäftigten auf 84 Rentner und Kinder im Verhältnis zu 100 Beschäftigten. Das alles muss erarbeitet werden. Außerdem wird die Zahl der Schulabgänger sinken. Deshalb ist es so wichtig, dass das Thema des Zusammenhalts unserer Gesellschaft ganz oben auf der Tagesordnung steht.

Ich habe mir im Allensbacher Jahrbuch angesehen, was die Menschen auf die Frage, was sie unter einer gerechten Gesellschaft verstehen - wir sind uns, glaube ich, einig, dass Gerechtigkeit die Voraussetzung für den Zusammenhalt ist - und ob es ihrer Meinung nach in der Wirtschaft gerecht zugeht, antworten. In den letzten Jahren ist eine erschütternde Entwicklung zu erkennen. In den neuen Bundesländern war es leider immer so, dass eine übergroße Mehrheit gesagt hat: In der Wirtschaft geht es nicht gerecht zu.

Das hat sich in 20 Jahren eigentlich nicht geändert. In den alten Bundesländern gab es über viele Jahrzehnte ein Auf und Ab. Es herrschte aber immer ein ungefährer Gleichstand zwischen "gerecht" und "nicht gerecht".

Seit den Jahren 2004 bzw. 2005 und ganz besonders seit der Finanzkrise hat sich der Abstand zwischen denjenigen, die sagen, dass es in der Wirtschaft gerecht zugeht, und denjenigen, die sagen, es gehe ungerecht zu, auf 58 Prozent vergrößert. Wenn die Akzeptanz der sozialen Marktwirtschaft erhalten werden soll, dann muss diese Lücke wieder geschlossen werden, sowohl in Ostdeutschland als auch in Westdeutschland. Das ist meine feste Überzeugung.

Wenn man die Menschen fragt, was sie für gerecht halten, dann sagen sie als Erstes - und zwar mit weitem Abstand; es sind insgesamt 83 Prozent -: gleiche Chancen für gute Schulbildung. Die Bildung ist das Thema, das die Menschen am meisten berührt. Als Zweites, auch das ist interessant, sagen sie - zu etwas über 60 Prozent -: dass der Staat für ein Existenzminimum sorgt und niemand in Not gerät. Ungefähr genauso viele Menschen sind der Meinung, dass Leistung sich lohnen muss. Das heißt: Wer mehr leistet, muss auch mehr davon haben. Das sind die zwei Seiten der Medaille.

Mit diesen drei Prioritäten - Arbeitsmarkt, Grundsicherung und Bildung - reagiert die christlich-liberale Koalition also ganz gezielt auf die Wünsche der Menschen. Daran werden wir weiter arbeiten. Das ist es, was uns interessiert.

Wir werden natürlich auch das Bundesverfassungsgerichtsurteil zu den Hartz-IV-Sätzen umsetzen. Darüber möchte ich heute aber nicht weiter sprechen. Das ist einfach nicht möglich, weil die Statistiken noch nicht ausgewertet sind. Ich möchte wiederholen, was die Bundesministerin gesagt hat: Klar ist schon heute, dass wir für die Bildung der Kinder mehr Geld ausgeben werden. Wir werden es aber so tun, dass es bei den Kindern ankommt. Sachleistungen sind also nicht ausgeschlossen. Denn wir wollen, dass das Geld den Kindern zugutekommt. Genau darauf werden wir hinarbeiten.

Um das Sieben-Prozent-Ziel für die Bildung zu erreichen, haben wir den Ländern bereits in Aussicht gestellt, dass wir seitens des Bundes bis 2015 die Lücke von mindestens 13 Milliarden Euro mit einer Quote von 40 Prozent füllen werden; normalerweise geben wir zehn Prozent dafür aus. Wir sagen aber: Es ist ein so wichtiges gesamtgesellschaftliches Anliegen, dass der Bund bereit ist, sich an dieser Stelle mehr zu engagieren und die Bildungspolitik im ganzen Land dadurch zu verbessern.

Wir werden den Nationalen Integrationsplan weiterentwickeln. Wir haben bereits gezeigt, dass wir für die Familien etwas tun. Der Ausbau der Kleinkinderbetreuung wird weitergehen. Das Kindergeld und die Kinderfreibeträge sind erhöht worden. Deshalb ist das eine vernünftige Sache. Außerdem werden wir auch über die Vorschläge der Bundesfamilienministerin zu reden haben, was Pflegezeit anbelangt. Denn das Thema Pflege wird uns in der nächsten Zeit in besonderer Weise beschäftigen. Es ist etwas, was die Menschen zutiefst bewegt. Ich sage Ihnen - ich habe darüber auch mit den Arbeitgebern gesprochen -: Wir sollten hier wirklich neues Denken anwenden. Es wird in Zukunft schwierig sein, qualifizierte Arbeitskräfte zu bekommen. Das wird sich über die nächsten Jahre in ganz anderer Weise entwickeln. Die Bereitschaft der Unternehmen, freiwillig etwas zu tun, wird an vielen Stellen wachsen, weil man Beruf und Familien viel besser verbinden muss.

Lassen Sie mich an dieser Stelle noch etwas zu den schrecklichen Fällen von sexuellem Missbrauch sagen, von denen wir jeden Tag hören und von denen wir erfahren. Ich glaube, wir sind uns alle einig: Sexueller Missbrauch an Kindern und an Schutzbefohlenen ist ein verabscheuungswürdiges Verbrechen. Es gibt nur eine Möglichkeit, dass unsere Gesellschaft mit diesen Fällen klarkommt: Das ist Wahrheit und Klarheit über alles, was passiert ist.

Ich glaube, jedem ist bewusst, dass das Leben der Menschen, die so etwas erlebt haben, anders verläuft, als wenn sie das in jungen Jahren nicht erlebt hätten. Das begleitet sie ein ganzes Leben. Völlige Wiedergutmachung wird und kann es nicht geben. Es hat keinen Sinn, es auf eine Gruppe zu beschränken, auch wenn uns die ersten Fälle sozusagen aus dem katholischen Bereich zu Ohren gekommen sind. Es ist etwas, das sich in vielen Bereichen der Gesellschaft ereignet hat, und es ist vor allen Dingen auch etwas, das sich heute teilweise in anderer Form, aber mit gleichen Folgen weiter ereignet.

Deshalb bin ich froh, dass die drei Ministerinnen Frau Leutheusser-Schnarrenberger, Kristina Schröder und Annette Schavan gemeinsam ein Gesprächsforum mit den Betroffenen bilden, mit denjenigen, von denen diese Fälle bekannt werden, und dass man sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft blickt.

Aber lassen Sie uns die Sache nicht zu einfach machen. Man muss über Verjährung sprechen. Man kann über Entschädigung sprechen. Aber insgesamt kommt es darauf an - das ist eine Bewährungsprobe für unsere ganze Gesellschaft -, dass Menschen, die so etwas erfahren haben, sich in dieser Gesellschaft wieder anerkannt und aufgehoben fühlen und wenigstens das Stück Wiedergutmachung bekommen, was man im Nachhinein noch schaffen kann.

Wenn wir über die Veränderung des Altersaufbaus unserer Gesellschaft sprechen, dann sind die sozialen Sicherungssysteme sicherlich der Punkt, an dem die größte politische Arbeit zu leisten ist. Mit der Rente haben wir Zukunftsvorsorge getroffen. Da wird die politische Kraft darin bestehen, alle Faktoren, die die demografische Veränderung widerspiegeln, auch in den nächsten Jahren umzusetzen. Es ist nicht einfach, wenn die Rentnerinnen und Rentner in diesem Jahr eine Nullrunde haben. Das trifft die Menschen zwar nicht einfach so - eigentlich wäre es weniger gewesen -, aber trotzdem ist auch eine Nullrunde nicht einfach. Umso zufriedener bin ich, dass auch die Tarifabschlüsse moderat waren, weil wir daran sehen, dass es insgesamt eine schwierige Zeit ist.

Ich sage Ihnen auch ganz klar: Wir werden uns auch melden, wenn Unternehmensführer sich in einer solchen Zeit zum Teil in absurder Art Gehaltssteigerungen gönnen, die von keinem anderen in dieser Gesellschaft nachvollzogen werden können. Deshalb ist vielleicht der Gesundheitsbereich derjenige, in dem die meiste Arbeit zu leisten ist. Ich habe eigentlich nur eine Bitte, nämlich dass Sie von der Opposition wenigstens nicht dauernd Dinge behaupten, die einfach nicht stimmen. Es ist nicht fair, einfach irgendetwas zu behaupten.

Die kostenlose Mitversicherung der Ehepartner wird weiter gewährleistet sein. Die Versicherung der Kinder wird, wenn Sie es so rechnen, inzwischen im Wesentlichen aus dem Steuertopf bezahlt. Wir waren uns doch einig, dass der steuerliche Ausgleich gerechter ist als der soziale Ausgleich über Beiträge. Das wissen Sie doch alles. Warum soll für einen Erwachsenen falsch sein, was für ein Kind richtig ist?

Gerade die SPD müsste doch sagen: Diejenigen, die viel verdienen, müssen das meiste zum Sozialausgleich in einem so sensiblen Bereich wie dem Gesundheitswesen beitragen. Das tun Sie aber nicht. Sie fangen an, auf eine ganz unverantwortliche Weise irgendetwas zu behaupten, was überhaupt nicht stimmt. Es gibt heute einen Sozialausgleich im Gesundheitssystem, und der erfolgt automatisch. Es wird auch später einen Sozialausgleich im Gesundheitssystem geben. Es geht im Augenblick nur um die Aufwüchse. In jeder Legislaturperiode - das war bei Ihnen so, das war bei uns so, und das wird auch weiter so sein - steigen die Beiträge, wenn wir es geschickt machen, um ungefähr einen Prozentpunkt und sonst um 1,5 Prozentpunkte. Sie haben keine Antwort auf die Frage, was man tun kann, um fortwährend steigende Lohnzusatzkosten zu vermeiden.

Wenn Sie nicht wollen, dass über den Druck der Wirtschaftlichkeit - weil die Gesundheitskosten an die Arbeitslosen gekoppelt sind - nicht mehr jeder Mensch die Gesundheitsversorgung bekommt, die er eigentlich bekommen müsste, dann müssen Sie eine Entkopplung von den Lohnkosten für die Aufwüchse, die sich im Gesundheitswesen ergeben, hinbekommen. Ich sage: für die Aufwüchse! Es ist immer schade, wenn sich Illusionen zerstreuen. Auf jeden Fall wird es dann genauso einen sozialen Ausgleich geben. Die Aufwüchse werden von den Arbeitskosten entkoppelt. Das ist ein richtiger Schritt dieser Koalition. Dabei werden wir den Gesundheitsminister unterstützen, sofern er überhaupt Unterstützung braucht. Er ist ja in seinen eigenen Aussagen ganz selbstständig. Es ist richtig, dass die Gesundheitskommission heute ihre Arbeit aufnimmt.

Genauso ist es richtig, dass der Bundesfinanzminister eine Gruppe zur Zukunft der Kommunalfinanzen, an der Sie über Ihre Länder Gott sei Dank mitarbeiten, eingerichtet hat. Es reicht doch nicht, einen Schutzschirm für die Kommunen aufzubauen, wie Sie es fordern. Das ist vielleicht etwas, das den Kommunen in einer Krise hilft. Aber langfristig sind die Kommunen in einem Zustand, wo die Finanzierung nicht auf Nachhaltigkeit beruht. Zwischen 2000 und 2008 sind in den Kommunen die Sozialausgaben um 50 Prozent gestiegen und die Baukosten um 20 Prozent eingebrochen. Dieser Weg muss umgekehrt werden. Da brauchen wir eine Trendwende. Ansonsten wird es keine kommunale Politik mehr geben, die selbsttätig arbeiten kann und an der sich die Menschen aus Lust ehrenamtlich beteiligen. Wir wollen das. Deshalb stellen wir uns dieser Aufgabe. Man kann nicht vom ersten Tag an sagen, was alles nicht geht, sondern man muss überlegen, was geht; denn die Kommunen sind die Grundlage des Lebens der Menschen in diesem Land.

Natürlich dürfen wir uns nicht nur um den Zusammenhalt kümmern, sondern müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass die Globalisierung fortschreitet und dass wir unsere Art, zu leben, die soziale Marktwirtschaft und ihre Prinzipien, nur durchsetzen können, wenn es uns gelingt, die Globalisierung menschlich zu gestalten. Da sind allen voran die Finanzmarktregeln nach den Exzessen auf den Finanzmärkten zu nennen. Ich will hier in Erinnerung rufen: Einiges ist geschehen. Es hat keinen Sinn, dauernd so zu tun, als ob gar nichts geschehen wäre. Wir haben verbesserte Vorschriften über die Eigenkapitalbasis der Banken. Wir haben einen Kabinettsbeschluss zu den Ratingagenturen, der jetzt beraten wird und mit dem eine europäische Richtlinie umgesetzt wird. Es wird klargestellt, dass Unternehmen nicht mehr gleichzeitig beraten und Produkte bewerten dürfen; das ist dringend notwendig.

Wir haben eine neue Bankenaufsicht - die Verhandlungen darüber sind in Europa weit fortgeschritten -, mit der systemische Risiken europaweit besser überwacht werden können. Wir werden im Sommer einen Vorschlag vorlegen, aus dem hervorgeht, wie die Aufsichtsfunktionen in Deutschland gebündelt werden können. Wir wissen heute, dass es wichtig ist, dass Emittenten bei besonders riskanten Produkten, zum Beispiel bei Verbriefungen, einen Teil des Risikos in der eigenen Bilanz behalten müssen. Wir haben auch für die Entlohnung von Bankern neue Regeln aufgestellt, die demnächst im Kabinett beraten werden. Wir werden in baldiger Zukunft einen Kabinettsbeschluss fassen, aus dem hervorgeht, wie wir es schaffen, die Abwicklung und Restrukturierung von Banken sicherzustellen, damit nicht wieder der Effekt eintritt, dass der Staat die Banken retten muss, wenn sie in eine Krise geraten. Die Banken sollen das selbst tun. BMJ und BMF arbeiten daran. Wir werden - das wurde in der G20-Gruppe verabredet - im Juni Vorschläge vom IWF zur Beantwortung der Frage bekommen, wie man die Banken besser an den Kosten, die sie verursacht haben, beteiligen kann. Auf diese Vorschläge warten wir, weil wir das international so verabredet haben. Es ergibt nämlich keinen Sinn, wenn wir in Deutschland so tun, als könnten wir das irgendwie erreichen. Sie haben heute Herrn Brown zitiert. Ich arbeite gut mit Gordon Brown zusammen, aber seine einmalige Besteuerung von Boni war nur halb so sinnvoll wie die Hedgefondsregulierungen, die wir gerade beraten und denen Großbritannien jetzt zustimmen sollte. Darum müssen wir kämpfen, und dafür erwarte ich Unterstützung.

Wir haben gesehen, dass wir in dieser Krise nicht nur Banken retten müssen, sondern dass jetzt auch im Euro-Raum eine schwierige Situation eingetreten ist, was Griechenland anbelangt. Es war richtig, dass sowohl Nicolas Sarkozy als auch der Ministerpräsident Papandreou, Jean-Claude Juncker und ich die Kommission aufgefordert haben - das geht nur europaweit -, die Finanzrichtlinie so zu ändern, dass die sogenannten nackten Credit Default Swaps, bei denen man Wetten auf etwas abschließen kann, das man nicht besitzt, verboten werden. Wolfgang Schäuble hat gestern zu den Leerverkäufen gesprochen. Das können wir aber nicht alleine machen. Wir sind in der Europäischen Union, und das fällt in deren Kompetenz. Ich denke, die Signale aus der Kommission, dass dort etwas gemacht wird, sind richtig. Das darf uns aber nicht vergessen lassen, dass die griechische Lage nicht durch die Spekulanten hervorgerufen wurde - sie wird durch die Spekulanten verstärkt -, sondern dass sie durch die langjährige Verletzung des Stabilitäts- und Wachstumspakts hervorgerufen wurde. Deshalb steht der Euro vor seiner stärksten Herausforderung, die er je zu bewältigen hatte.

Ich kann auch sagen, dass die Regierung Karamanlis daran beteiligt war. Auch deren Vorgängerregierung war schon daran beteiligt. Das hilft uns doch jetzt nicht. Wir müssen mit der Sache fertig werden. Die Antwort können wir nur mit Blick auf die langfristige Stabilität des Euro finden. Da ist die schnelle Solidaritätsleistung mit Sicherheit nicht die richtige Antwort, sondern die richtige Antwort heißt, die Sache bei der Wurzel anzupacken und die Probleme vernünftig zu lösen. Deshalb gibt es keine Alternative zu dem griechischen Sparprogramm und weiteren Anstrengungen in den nächsten Jahren. Ich finde es gut und richtig, und die griechische Regierung hat großen Mut bewiesen, jetzt vier Prozent vom Bruttoinlandsprodukt einzusparen, um das Defizit in einem ersten Schritt zu senken. Die Märkte haben das durchaus goutiert.

Wir müssen immer im Auge haben, dass Europa auf der einen Seite eine Friedensgemeinschaft ist. Deshalb kann in einem gemeinsamen Währungsraum - das gilt für alle Mitgliedstaaten, aber für die im Euro-Raum versammelten besonders - kein Land völlig alleine gelassen werden. Deshalb haben wir auf dem Rat gesagt: Wir stehen natürlich insgesamt für die Stabilität des Euro ein. Wir können doch nicht zusehen, wie der Euro-Raum und damit auch unsere Grundlagen insgesamt instabil werden. Europa ist aber nicht nur eine Friedensgemeinschaft, sondern auch eine Stabilitätsgemeinschaft. Deshalb kann es nicht sein, dass wir einfach mit freundschaftlichen Bekundungen darüber hinweggehen, sondern die Erholung muss, wie ich es schon gesagt habe, von Griechenland ausgehen. Alles, was überhaupt gedacht wird, muss darauf ausgerichtet sein, dass wir nicht vorschnelle Hilfen leisten, sondern dass wir dafür Sorge tragen, dass das Ganze wieder in Ordnung kommt. Alles andere wäre fatal.

Europa ist auch eine Rechtsgemeinschaft. In dieser Rechtsgemeinschaft gibt es einen Vertrag. Deshalb haben die Finanzminister richtigerweise gesagt, dass alles, was wir tun, dem europäischen Recht und - das haben sie mit Bedacht hinzugefügt - dem nationalen Recht entsprechen muss; denn wir haben ganz klare Gegebenheiten, die festlegen, was man überhaupt in einer Notsituation tun kann und was nicht. Deshalb sage ich ganz klar, dass nichts gemacht werden kann, was gegen nationales Recht verstößt. Da sind uns Grenzen auferlegt.

Wir denken auch für die Zukunft; denn Europa ist unsere eigene Zukunft. Deshalb hat Wolfgang Schäuble nicht für Griechenland Vorschläge gemacht, aber Wolfgang Schäuble hat Vorschläge gemacht, damit man eventuell den IWF nicht in allen Situationen rufen muss - was jetzt vielleicht der Ausweg sein müsste, wenn man etwas täte. Aber ich sage hier nichts darüber hinaus. Er hat Vorschläge gemacht, dass wir für die Zukunft ein Vertragswerk bekommen, aufgrund dessen es als Ultima Ratio sogar möglich ist, ein Land aus dem Euro-Raum auszuschließen, wenn es die Bedingungen langfristig immer wieder nicht erfüllt. Sonst kann man nicht zusammenarbeiten.

Heute haben wir eben nicht das richtige Instrumentarium. Wir haben nicht gedacht, dass wir im Euro-Raum in eine Situation kommen, in der ein Land vielleicht vor der Zahlungsunfähigkeit steht. Die Antwort hieß damals: Die schärfste Sanktion ist, dass das Land Geld an die Kommission zahlen muss. Ein Land, das kein Geld hat, kann auch kein Geld an die Kommission zahlen, oder wir führen die Zahlungsunfähigkeit noch besonders beschleunigt herbei; das wäre ja schwachsinnig. Es ist richtig, dass wir darüber hinausdenken und fragen: Wie müssten wir die Verträge entwickeln, damit man mit einer solchen Situation umgehen kann? Auch bei Griechenland muss jetzt gelten, dass die Stabilitätsgemeinschaft im Vordergrund steht und dass wir nicht eine vorschnelle Hilfe leisten, die uns langfristig überhaupt nicht weiterbringt, sondern den Euro immer weiter schwächt.

Europa gestalten heißt eben auch: Wirtschaftsregierung - ja, und zwar mit anspruchsvollen Zielen und nicht mit der Frage "Wie können wir alle gemeinsam diese anspruchsvollen Ziele vielleicht nicht durchsetzen?".

Außerdem heißt es: Protektionismus vermeiden. Ich könnte hier viel dazu sagen. In den letzten Monaten hat der Protektionismus weltweit zugenommen. Wir sind mit der Doha-Runde nicht weitergekommen. Für eine Exportnation wie Deutschland ist das jedoch zwingend notwendig.

Wir brauchen Datenschutz. Globale Digitalisierung ist gut. Wir brauchen aber auch den Schutz und müssen den Bürgerinnen und Bürgern sagen, dass die Dinge nicht so sind, dass Menschen auf ihre eigenen Daten gar keinen Zugriff haben.

Wir müssen natürlich auch viele außenpolitische Probleme, über die ich heute aus Zeitgründen nicht reden kann, in den Griff bekommen.

Deutschland ist eine tolerante, eine offene Gesellschaft. Der Economist - nicht gerade eine Zeitung, die Deutschland immer nur in den höchsten Tönen lobt - hat über Deutschland in der vergangenen Woche geschrieben, dass es ein nicht nur lebenswertes, sondern auch ein liebenswertes und durchaus auch reformfreudiges Land ist. Ich glaube, dass wir auf dieses Land stolz sein können, und das ganz besonders mit Blick auf das, was morgen hier in diesem Hohen Hause stattfindet, nämlich die Erinnerung an den 20. Jahrestag der ersten freien Wahl zur Volkskammer. Mit diesem Tag, dem 18. März 1990, ist der Einigungsprozess sozusagen unumkehrbar geworden. Das war ein tolles Gefühl, nach Jahrzehnten zum ersten Mal frei wählen zu können. Davon haben damals auch 93 Prozent der Menschen in der DDR Gebrauch gemacht. Auch das zeigt, wie sehr man sich darauf gefreut hat.

Aufgrund dieser Erfahrung der letzten 20 Jahre bin ich optimistisch, dass wir es schaffen können, die Etappe, die jetzt Ost und West, das ganze Deutschland, gemeinsam in einem vereinten Europa zu gehen haben, zu einem Erfolg zu machen, über den unsere Enkel eines Tages einmal sagen: Mensch, das haben die in schwieriger Zeit gut gemacht. Aber wenn wir nicht zu einem Punkt kommen, an dem es uns gelingt, über notwendige Veränderungen und Weiterentwicklungen in diesem Land so zu sprechen, wie es die Verantwortung gebietet, dann werden wir das nicht schaffen. Ich sage Ihnen: Die christlich-liberale Koalition ist zu dieser verantwortlichen Diskussion bereit. Wir gehen mit Mut an die Arbeit.


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Quelle:
Bulletin Nr. 27-1 vom 17.03.2010
Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zum Haushaltsgesetz 2010
vor dem Deutschen Bundestag am 17. März 2010 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. März 2010