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REDE/448: Angela Merkel zum Haushaltsgesetz 2011 vor dem Deutschen Bundestag, 15.09.2010 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
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Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zum Haushaltsgesetz 2011 vor dem Deutschen Bundestag am 15. September 2010 in Berlin


Herr Präsident!
Meine Damen und Herren!

Gestatten Sie mir, dass ich zuerst jenseits der politischen Auseinandersetzung meine ganz herzlichen Genesungswünsche für unseren Kollegen Frank-Walter Steinmeier und seine Frau überbringe und ihm alles, alles Gute wünsche bei seiner Erholung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute auf den Tag genau vor zwei Jahren war der Zusammenbruch des Bankhauses Lehman Brothers, uns allen in Erinnerung als Kulminationspunkt einer weltweiten tiefgreifenden Wirtschafts- und Finanzkrise. Ich habe hier im Zeichen dieser Krise im November 2008 gesagt: Wir, die Deutschen, wollen stärker aus der Krise herauskommen, als wir hineingegangen sind. - Ich glaube, ich darf für uns alle sagen: Diese weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise hat unsere politische Arbeit in den letzten zwei Jahren tief geprägt. Heute, zwei Jahre später, können wir festhalten: Wir haben ein großes Stück des Weges geschafft. Wir haben Grund für Zuversicht. Die Wahrheit ist: Viele haben uns das nicht zugetraut, aber wir haben gezeigt, was in uns steckt.

Die Prognosen waren düster. Umso mehr freuen wir uns heute, glaube ich, alle über den breiten Aufschwung. Nach der mit Abstand schwersten Rezession der Nachkriegszeit ist Deutschland wieder auf Wachstumskurs. Die europäische Prognose sagt uns für dieses Jahr sogar ein Wachstum von über drei Prozent voraus.

Das Allerwichtigste für uns und für mich ist aber, dass sich der Arbeitsmarkt in der schwersten Krise der Nachkriegszeit robust gezeigt hat und dass die Arbeitslosigkeit wieder auf ein Niveau vor der Krise gesunken ist. Das bedeutet etwas für Millionen von Menschen. Wir haben in den neuen Bundesländern seit 1991 zum ersten Mal eine Arbeitslosigkeit unter einer Million.

Da lohnt schon einmal ein Blick zurück. Als ich vor knapp fünf Jahren Bundeskanzlerin wurde - nach sieben Jahren Rot-Grün -, lag die Arbeitslosigkeit bei fast fünf Millionen. Heute sind es knapp über drei Millionen. Vielleicht unterschreiten wir diese drei Millionen noch. Das ist der Erfolg der Arbeit und auch der Erfolg der Arbeit der christlich-liberalen Koalition. Ob zwei Millionen Menschen weniger arbeitslos sind oder nicht, das ist eine zentrale Frage der Gerechtigkeit in unserem Land. Wenn Sie über Gerechtigkeit und Solidarität sprechen, dann ist Arbeit einer der entscheidenden Punkte, um die es geht.

Wir haben natürlich in den letzten zehn Monaten wichtige Weichenstellungen vorgenommen. Wir haben eine Kreditklemme verhindert. Wir haben Familien mehr Kindergeld gegeben. Vielleicht erinnern Sie sich auch einmal daran. Wir haben eine Rekordsumme von zwölf Milliarden Euro in die Verkehrsinfrastruktur gesteckt. Wir haben die Konjunkturprogramme vorangebracht. Wir haben die Lohnzusatzkosten stabilisiert, um Arbeit zu erhalten. Das alles hat dazu geführt, dass wir heute die Wachstumslokomotive in Europa sind. Damit wird Deutschland seiner Verantwortung gerecht.

Richtig ist aber auch, dass noch ein großes Stück Weg vor uns liegt, bis wir wieder einen nachhaltigen weltweiten Aufschwung gesichert haben. Wir als christlich-liberale Koalition wissen, vor welchen Aufgaben wir in den nächsten Jahren stehen: der veränderte Altersaufbau unserer Gesellschaft, der globale Wettbewerb, der zunimmt - ich nenne China und Indien als Stichworte -, sowie die Aufgaben, die sich aus den begrenzten Ressourcen und den Aufgaben des Klimaschutzes ergeben.

Auf keine dieser Herausforderungen Sie sind eingegangen, Herr Gabriel, geschweige denn, dass Sie irgendeinen Lösungsvorschlag gemacht haben. Deshalb beobachten wir mit Interesse, wie Sie Schritt für Schritt eine Rolle rückwärts machen, statt in die Zukunft zu blicken. Wir sagen: Dies ist der Herbst der Entscheidungen für wichtige Weichenstellungen in Deutschland für das neue Jahrzehnt zwischen 2010 und 2020. Das ist unser Anspruch, und dem werden wir gerecht.

Dabei sind solide Finanzen einer der Kernbausteine. Warum? Weil das für die Menschen bedeutet, dass sie keine Inflationsängste haben müssen, dass die, die wenig haben, nicht auch noch durch die Inflation enteignet werden, und dass wir Spielräume für die kommenden Generationen schaffen. Wir wollen und werden eine Stabilitätskultur in Deutschland verankern, die im Übrigen auch beispielhaft für Europa sein wird. Das drückt unser Haushalt aus.

Wir haben einen Haushalt, bei dem immer noch jeder fünfte Euro durch Schulden finanziert wird. Wir haben aber einen Weg eingeschlagen auf der Grundlage der Schuldenbremse, die genau damit Schluss macht. Das ist damit gemeint, wenn es heißt: Deutschland lebt über seine Verhältnisse. Nicht der Einzelne lebt über seine Verhältnisse, sondern die Politik hat in der Vergangenheit nicht die Kraft aufgebracht, für die Zukunft Vorsorge zu treffen. Genau das ändern wir.

Eines ist doch klar: Wir brauchen Spielräume für Zukunftsinvestitionen. In dem Haushalt des Jahres 2010 sind ungefähr 72 Prozent fixe Ausgaben: für Soziales, für Personal und für Zinsen. Nur 28 Prozent bleiben für Investitionen und politische Zukunftsgestaltung übrig. 1991 waren das noch über 43 Prozent. Da müssen wir wieder hin. Es ist nicht in Ordnung, wenn die Ausgaben für Zinsen höher sind als die Ausgaben für Investitionen. Es ist nicht in Ordnung, wenn die Ausgaben für Zinsen doppelt so hoch sind wie die Ausgaben für Bildung und Forschung. Das werden wir ändern, weil wir an die Zukunft denken und uns nicht in der Gegenwart aufhalten. Darauf habe ich gestern und heute keine einzige Antwort von Ihnen gehört.

Wenn man sich manche Landeshaushalte ansieht, zum Beispiel den von Nordrhein-Westfalen, dann hat man den Eindruck: Das findet alles im luftleeren Raum statt und hat mit der realen Welt überhaupt nichts mehr zu tun. Genau das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen, Herr Gabriel.

Wir nehmen einige Bereiche ganz bewusst aus. Wir sparen nicht bei Bildung und Forschung, weil wir wissen, dass hier unsere Zukunft liegt. Wir sparen nicht bei der Kinderbetreuung, sondern setzen den Ausbau weiter fort, so wie wir begonnen haben. Wir sparen nicht bei den Investitionen. Was noch ganz wichtig ist: Wir setzen durch das, was wir tun, neue Anreize, Arbeit aufzunehmen, weil Arbeit Wohlstand für die Menschen bedeutet. Das ist unser Ziel.

Natürlich hat die Finanzkrise tiefe Spuren hinterlassen. Wir haben uns im Frühjahr ganz wesentlich auch mit der Frage einer stabilen Währung zu befassen gehabt. Ich will daran erinnern: Hätten wir den Euro in dieser Krise nicht gehabt, wäre gerade eine Exportnation wie Deutschland von den Währungsturbulenzen in unserem Hauptexportmarkt, nämlich in Europa, sehr stark beeinflusst worden. Das heißt, der Euro hat uns geholfen, durch die Krise zu kommen.

Aber die Krise hat auch zutage gefördert, dass die Solidität der Haushalte und die Wachstumskräfte in der Europäischen Union nicht gleich verteilt sind, dass wir große Ungleichgewichte haben und dass man an verschiedenen Stellen nicht entsprechend dem Stabilitäts- und Wachstumspakt gearbeitet hat.

Ich will nur daran erinnern: Die Sozialdemokraten haben bezüglich des Euro zweimal historisch versagt.

Das erste Mal war, als Bundeskanzler Schröder 2004 den Stabilitätspakt, im Übrigen gegen das Votum seines eigenen Finanzministers, aufgeweicht hat und damit viel kraftloser gemacht hat; das war das erste historische Versagen.

Das zweite Mal: Als infolgedessen der Euro in Schwierigkeiten kam, haben Sie sich der Stimme enthalten, weil Sie nicht zu Ihrer Verantwortung stehen wollten. Das ist das, was übrig bleibt.

Wenn wir uns schon richtigerweise innenpolitisch streiten - das gehört zwischen Opposition und Regierung dazu -, dann hätte man wenigstens erwarten können, dass Sie bei den Verhandlungen mit Griechenland und über den Euro-Schutzschirm deutsche Interessen vertreten, dass Sie sich dafür einsetzen, dass der IWF einbezogen wird, dass in Griechenland eine Haushaltskonsolidierung stattfindet, dass die Länder sparen und dass wir im Interesse eines stabilen Euro unsere Stabilitätskultur auch in Europa verankern. Das wäre Ihre Pflicht gewesen.

Herr Poß, hören Sie auf zu schreien. Ja, ich habe zwei Monate gebraucht, um Europa davon zu überzeugen, dass erst einmal die Länder selbst sparen müssen und dass erst dann die Solidarität der Gemeinschaft kommt. Wenn Sie hier geholfen hätten, dann wäre es vielleicht schneller gegangen, aber das haben Sie nicht getan, und deshalb hat es so lange gedauert.

Was die Regulierung der Finanzmärkte und die Lehren aus der Krise anbelangt, sind wir noch nicht am Ende, aber wir haben einiges erreicht:

Es gibt jetzt eine europäische Finanzaufsicht, der auch die Ratingagenturen unterstellt sind. Auch wenn wir internationale Kritik bekommen haben: Es war richtig, dass wir mit dem Verbot von Leerverkäufen vorangegangen sind, um ein Zeichen dafür zu setzen, dass man nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten kann. Wir haben einen Restrukturierungsfonds eingerichtet, um die Bankeninsolvenzen zu bearbeiten, und wir haben eine Bankenabgabe eingeführt.

Sie erzählen darüber, wer dadurch belastet wird und wer nicht. Schauen Sie sich doch die Details an. Es ist vollkommen klar: Je risikobehafteter das Kapital ist und die Geschäfte sind, umso mehr Abgabe muss gezahlt werden, damit in Zukunft nicht mehr der Steuerzahler für solche Krisen eintreten muss, sondern die Banken das selber tun müssen.

Wir werden auch weiter für die Besteuerung der Finanzmärkte arbeiten. Der Bundesfinanzminister tut dies in vielen, vielen Gesprächen, und wir werden versuchen, möglichst viele Länder davon zu überzeugen. Leider ist die Welt nicht immer so, wie wir sie uns wünschen. Auch das gehört zum Betrachten der Realität. Aber wir geben nicht auf und bohren das dicke Brett. Es war auch richtig, dass jetzt die Eigenkapitalvorschriften verbessert werden. Wir erwarten von der EU, dass sie die Derivate-Märkte ordentlich regelt. Wir als Staat müssen aus den krisenbedingten Beteiligungen in Deutschland Schritt für Schritt aussteigen.

All das ist auf dem Weg, aber es bleibt noch viel Arbeit vor uns. Wir bleiben bei dem Credo: Jedes Produkt, jeder Akteur und jeder Finanzmarktteilnehmer muss reguliert sein, damit wir einen Überblick darüber haben, was auf den Finanzmärkten geschieht. Das ist die soziale Marktwirtschaft, wie wir sie in der Realwirtschaft seit Jahrzehnten kennen, und das muss auch für die Finanzwirtschaft in gleicher Weise gelten.

Zu den Zukunftsaufgaben gehört zweitens die Sicherung der Zukunft der sozialen Sicherungssysteme. Hier muss man einfach feststellen, dass die Veränderungen im Altersaufbau von einigen in diesem Hause überhaupt nicht zur Kenntnis genommen werden. Schauen wir uns das einmal an: Auf 100 Erwerbstätige kommen heute 34 über 65-Jährige, 2020 39, 2030 53 und 2040 64 über 65-Jährige. Wer glaubt, er muss darauf nicht reagieren, wer glaubt, er kann das ignorieren, wer glaubt, er kann den Menschen ein X für ein U vormachen, genau der wird Politikverdrossenheit und Enttäuschung über Politik ernten.

Wir werden das Gesetz Ihres früheren Bundesarbeitsministers Franz Müntefering, der bitter über Ihren Kurs enttäuscht ist - das wird man hier ja einmal festhalten dürfen -, umsetzen. Wir werden natürlich einen Bericht über die Erwerbstätigkeit der Älteren erstellen, und wir stellen fest, dass sich diese in den letzten Jahren verdoppelt hat. Das ist der Erfolg, auf dem wir aufbauen. Denn es gibt keine Alternative dazu, jedenfalls keine vernünftige, dass man sagt: "Wenn die Lebenserwartung steigt" - in zehn Jahren steigt sie um durchschnittlich zwei Jahre -, "dann muss sich das auch im Erwerbsleben und in der Rente niederschlagen", wenn man möchte, dass die Rente der Lohn für die Lebensleistung bleibt, und das möchten wir im Gegensatz zu anderen, die die Realität einfach nicht akzeptieren.

Ein mindestens ebenso sensibler Bereich ist die Zukunft des Gesundheitssystems. Wir wissen: Wenn wir in einer alternden Gesellschaft leben, wenn wir mehr medizinische Möglichkeiten haben, dann ist es wahrscheinlich die schwierigste Aufgabe - wir erleben diese Diskussion ja in allen Industrieländern -, ein gerechtes, faires, bezahlbares und gutes Gesundheitssystem auf Dauer zu erhalten. Für uns ist es Ausdruck der sozialen Marktwirtschaft und unseres Bildes von Menschen, dass die Menschen in Deutschland wissen: Sie haben eine sichere Gesundheitsversorgung, und zwar für jeden, egal, ob arm oder reich.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Thema ist zu ernst. Hier gibt es eine gewisse Neigung, über zentrale Themen nicht mehr mit der notwendigen Ernsthaftigkeit zu sprechen. Das Thema der Gesundheitsversorgung ist zu ernst, als dass es hier in irgendwelchem Gebrüll untergehen sollte.

Ich sage noch einmal: Die Gesundheitskosten werden steigen, auch die medizinischen Möglichkeiten. Daraus ergibt sich die Frage: Wie können wir das solidarisch bezahlbar machen? Ich sage Ihnen, dass es nicht möglich sein wird, wie wir es Jahrzehnte gemacht haben, wie es sich bewährt hat und wie wir es auch erhalten wollen, wie es heute ist, dass wir die paritätische Finanzierung, das heißt die Kopplung an die Arbeitskosten, voll aufrechterhalten. Denn entweder geraten sonst Arbeitsplätze im internationalen Wettbewerb in Gefahr, oder aber die Finanzierung der Gesundheitskosten steht nicht in dem notwendigen Umfang zur Verfügung. Deshalb sagen wir - das ist Solidarität -: Wir entkoppeln für die aufwachsenden Kosten die Arbeitskosten und die Gesundheitskosten stärker. Wir sorgen dafür, dass niemand mit dem, was er zahlen muss, überfordert wird, indem wir eine Grenze einlegen. Dann machen wir den Solidarausgleich nicht mehr nur von den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten bis zur Beitragsbemessungsgrenze, sondern von allen Steuerzahlern. Das ist gelebte Solidarität.

Wenn Sie glauben, Sie können sich da noch ein, zwei, drei Jahre durchmogeln, dann sage ich Ihnen: Wir stellen die Weichen für die Zukunft. Vertrauen in Politik resultiert auch daraus, dass Menschen berechenbare Verhältnisse haben und wissen, was auf sie zukommt. Auch die Fragen, was mir eine Krankenkasse bietet, welche Entscheidungsmöglichkeiten ich habe und wie ich präventiv etwas für meine Gesundheit tun kann, gehören dazu. Die Wahlmöglichkeiten für die Patienten müssen gestärkt werden. Anders geht es in einer modernen Gesellschaft nicht.

Drittens. Wir müssen etwas gegen die Langzeitarbeitslosigkeit und etwas für diejenigen Familien tun, deren Kinder in einer schwierigen Situation sind. Auf der einen Seite gibt es einen Fachkräftemangel - das wird überall beklagt -, und auf der anderen Seite gibt es über zwei Millionen Menschen, die erwerbsfähig sind und keinen Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Das sind vor allen Dingen alleinerziehende Mütter, und das sind Menschen über 50 Jahre. Ich finde mich nicht damit ab, dass wir einerseits Pflegekräfte von überall her holen müssen, und andererseits erklären müssen, dass über zwei Millionen Menschen, die heute keine Erwerbsmöglichkeit haben, per se nicht dafür geeignet sind. Deshalb geht es darum, die Langzeitarbeitslosigkeit abzubauen, und zwar ganz entschieden. Ursula von der Leyen als Bundesarbeitsministerin tut genau dies.

Herr Trittin, vielleicht darf ich Sie daran erinnern: Im Jahr 2006, als wir fast fünf Millionen Arbeitslose hatten, gab es weniger Eingliederungshilfen, als wir heute mit knapp über drei Millionen Arbeitslosen und nächstes Jahr mit um die drei Millionen Arbeitslosen haben. Wer da von sozialem Kahlschlag spricht, der lügt - so muss man es sagen -, der sagt einfach die Unwahrheit. In der Großen Koalition war es immer auskömmlich. Bei mehr Arbeitslosigkeit mussten wir weniger Geld pro Arbeitslosem ausgeben als heute. Wir werden dieses Geld sogar noch effizienter einsetzen.

Wenn wir uns den Bundeshaushalt anschauen, dann stellen wir fest, dass die 40 Milliarden Euro, die wir für Langzeitarbeitslose und ihre Familien ausgeben müssen, genau der Teil des Haushalts sind, aus dem wir Zukunft formen können, indem wir Menschen wieder eine Arbeitschance geben und damit die Ausgaben in diesem Bereich senken. Kein anderer Bereich des Bundeshaushalts eignet sich dafür. Deshalb ist unsere Hauptaufgabe, die Langzeitarbeitslosigkeit anzugehen und Hartz-IV-Empfängern wieder bessere Vermittlungsmöglichkeiten zu geben. Glücklicherweise haben wir in der Frage gut zusammengearbeitet, als es um die Neuregelung der Jobcenter ging. Deshalb wird bei der Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils Ursula von der Leyen vor allen Dingen auch etwas für die Kinder aus diesen Familien tun. Dabei bitte ich um Ihre tätige Mithilfe, wenn wir das bis zum Beginn des Jahres auf die Reihe bringen.

Wir sagen: Bildung ist der Schlüssel für Teilhabe an der Gesellschaft. Wie wir gestern aus der Shell-Studie erfahren haben, gibt es zehn bis 15 Prozent Kinder, für die diese Teilhabe noch nicht gilt und die frustriert sind. Es gibt halt Probleme, an denen wir noch weiter arbeiten müssen, und wir werden entschieden daran arbeiten.

Wir sagen zum ersten Mal: Wir wollen Sachleistungen, damit Bildung auch bei den Kindern ankommt. Auf dieser Basis wird Ursula von der Leyen Vorschläge machen. Das ist richtig und gut.

Der vierte Punkt hat etwas damit zu tun, ob wir Industriestandort bleiben werden, ob wir uns als Industrieland modernisieren werden oder nicht. Das ist die Energiepolitik. Die Energiepolitik ist klar ein wesentliches Element der Zukunft unseres Landes. Dabei muss man die Frage beantworten, wie wir den Wandel in diese Zukunft gestalten. Wir haben Ihnen dafür ein Energiekonzept vorgelegt. Dieses Energiekonzept beruht seit langer Zeit zum ersten Mal auf klaren Analysen, wie sich die Entwicklung gestalten wird, soweit man dies für zehn, 20 oder 30 Jahre vorhersagen kann. Mit diesem Konzept machen wir deutlich, dass wir drei Dinge zusammenbringen, die für einen modernen Industriestandort ganz wesentlich sind: Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit des Stroms und Umweltverträglichkeit.

Ich glaube, wir alle verfahren richtig, wenn wir sagen, es macht keinen Sinn, wenn wir auch im internationalen Wettbewerb stehen, ideologiegetriebene Energiepolitik zu machen, sondern es macht Sinn, eine rationale, vernünftige Energiepolitik mit einem klaren Ziel zu machen. Dieses Ziel heißt für uns: Wir wollen das Zeitalter der erneuerbaren Energien erreichen, aber so, dass Wirtschaft und Umwelt zusammenkommen, statt gegeneinander ausgespielt zu werden. Das ist unser Konzept.

Dieses Konzept werden wir am 28. September in der Regierung verabschieden und in der nächsten Sitzungswoche hier debattieren. In diesem Energiekonzept gibt es Brückentechnologien, ja. Das ist die Kernenergie; das sind die Kohlekraftwerke. Die brauchen wir, und wir tun den Menschen keinen Gefallen, wenn wir so tun, als ob wir das alles nicht mehr brauchen, den Bau jedes modernen Kohlekraftwerks verhindern und aus ideologischen Gründen die Kernkraftwerke abschalten. Das ist nicht unser Zugang. Wir machen es wirtschaftlich vernünftig, weil das Arbeitsplätze für Deutschland sichert.

Wir wollen bis 2050 80 Prozent erneuerbare Energien. Wir wollen die Energieeffizienz so verbessern, dass wir bis 2050 den Energieverbrauch halbieren können. Wir wissen um unsere Aufgaben bei den Klimaschutzzielen, und wir brauchen eine neue Netzinfrastruktur, Mobilität und Energieforschung. All das hat die Bundesregierung erarbeitet, oder sie wird es erarbeiten.

Was in der Diskussion auftaucht, ist zum Teil sehr abenteuerlich. Sie haben damals im Zusammenhang mit dem Ausstieg mit den Elektrizitätsversorgungsunternehmen einen Vertrag geschlossen, in dem Sie den Stand der Sicherheit manifestiert haben, während wir im Atomgesetz mehr Sicherheit für Kernkraftwerke verankern wollen. Das ist die Wahrheit. Sie haben sich überhaupt nicht mehr um die Entsorgung gekümmert.

Herr Trittin, Sie haben nachher das Wort. Wir wollen der Wahrheit die Ehre geben. Für die schwach radioaktiven Abfälle haben Sie am Schacht Konrad weitergearbeitet. Sie haben damals ein drei- bis zehnjähriges Moratorium für Gorleben verhängt. Sie haben sich um die Entsorgung der stark radioaktiven Abfälle überhaupt nicht mehr gekümmert und tun heute so, als wäre es unsere Schuld, dass es so etwas noch nicht gibt. Wir heben das Moratorium auf. Wir erkunden ergebnisoffen weiter, weil wir verantwortlich handeln und nicht den Kopf in den Sand stecken, wenn es um radioaktive Abfälle geht.

Es ist richtig - Ihre Zahlen kann ich aber nicht nachvollziehen -: Durch die Verlängerung der Laufzeiten von Kernkraftwerken entstehen zusätzliche Gewinne. Weil die Unternehmen damals einen Deal mit Ihnen gemacht haben und sich darauf eingelassen haben, auf Gewinne zu verzichten, fühlen wir uns heute legitimiert, zu sagen: Von den zusätzlich entstehenden Gewinnen wollen wir einen großen Teil haben, um erneuerbare Energien zu fördern, und zwar nicht unter der Ägide der EVU, sondern durch einen Fonds, dessen Verwendung wir bestimmen. Damit verbessern wir die Einführung erneuerbarer Energien in Deutschland. Es kann schneller gehen, weil wir die Brückentechnologie vernünftig nutzen.

So wird es uns dann auch gelingen, die Technologieführerschaft Deutschlands - diese besteht in vielen Bereichen; daran haben viele mitgearbeitet - bei den erneuerbaren Energien weiterzuentwickeln und weiter führend auf dem Weltmarkt zu bleiben. Wenn wir heute große Anteile am weltweiten Export bei der Windenergie haben, dann ist das gut für Deutschland. Dann ist das Modernisierung. Das hat etwas mit Technologieführerschaft zu tun.

Ich möchte noch einen Moment bei der Technologieführerschaft bleiben. Wenn man in Deutschland herumfährt, dann stellt man fest, dass jeder für erneuerbare Energien ist. Wenn ich aber nach Baden-Württemberg komme und ein Laufwasserkraftwerk besichtige, dann stelle ich fest, dass die Grünen oder jedenfalls ihre Sympathisanten als Erste dagegen sind, weil man natürlich keinen Eingriff in die Natur will. Wenn ich in den Norden fahre, dann stelle ich fest, dass es laufend Demonstrationen gegen 380-Kilovolt-Leitungen gibt. Jeder möchte zwar erneuerbare Energien, aber keine neue Leitung.

Es kann nicht sein, dass die ganze linke Seite dieses Hauses nichts dazu beiträgt, dass der Technologiestandort Deutschland wirklich zum Leben erweckt wird, und gegen alles und jedes ist.

Herr Kelber, die ganzen schönen Offshore-Standorte werden uns nichts nutzen, wenn der Strom anschließend nicht dorthin kommt, wo er gebraucht wird. Da haben Sie genauso wie alle anderen die Pflicht, dafür Sorge zu tragen und den Menschen zu erklären, dass neue Infrastruktur gebaut werden muss, um neue Technologien einzuführen.

Damit komme ich zu einem anderen Projekt, das auch die Gemüter bewegt. Die Grünen sind immer für die Stärkung der Schiene. Wenn es aber einmal um einen neuen Bahnhof geht, sind sie natürlich dagegen. Die SPD war jahrelang für "Stuttgart 21". Jetzt, wo man ein bisschen dafür kämpfen muss, fangen Sie an, dagegen zu sein. Diese Art von Standhaftigkeit ist genau das, was Deutschland nicht nach vorne bringt. Wir wollen etwas anderes. Bei völlig rechtmäßig getroffenen Entscheidungen braucht man keine Bürgerbefragung in Stuttgart. Vielmehr wird genau die Landtagswahl im nächsten Jahr die Befragung der Bürger über die Zukunft Baden-Württembergs, über "Stuttgart 21" und viele andere Projekte sein, die für die Zukunft dieses Landes wichtig sind. Das ist unsere Aussage.

Wir werden eine große Debatte über die Zukunftsfähigkeit Deutschlands führen. Einen Tunnel von Basel nach Karlsruhe oder was weiß ich von wo nach wo bauen zu wollen, aber nicht einmal aus einem Sackbahnhof einen Untergrundbahnhof, einen Bahnhof unter der Erde zu machen, ist verlogen, Herr Trittin. Als in Berlin ein Nord-Süd-Tunnel gebaut wurde, waren Sie dafür. Wenn es jetzt Proteste gibt, dann sind Sie dagegen. So kann man Deutschlands Zukunft nicht gestalten.

Wir werden uns in der Koalition natürlich auch den außen-, sicherheits- und innenpolitischen Aufgaben stellen. Wir haben schon eine ganze Reihe an Dingen auf den Weg gebracht, und wir werden noch andere Dinge auf den Weg bringen.

Ich sage Ihnen: Wenn wir im November die zweite und die dritte Lesung des Haushaltes haben, wenn wir als christlich-liberale Koalition ein Jahr im Amt sein werden, dann werden wir Ihnen an den Entscheidungen, die ich Ihnen heute hier genannt habe - auf die Zukunft der Bundeswehr gehe ich gleich ein -, zeigen können, dass ein Jahr christlich-liberale Koalition dieses Land so verändern wird, dass wir die Aufgaben für die Zukunft endlich ernst nehmen und nicht weiter von Tag zu Tag leben. Das ist das, was die Menschen spüren. Die Menschen in diesem Land spüren das ganz genau. Herr Gabriel, ich bin bei Ihnen, dass Menschen im Land oft sagen: Wissen die noch von unseren Sorgen? Kennen die unser Problem? Wissen die, wie lange man vielleicht auf einen Arzttermin wartet? Wissen die, wie das mit der Gewalt und der Sicherheit auf der Straße ist? - Es nützt aber nichts, die Rente mit 67 wieder rückgängig zu machen, weil ich dadurch bei meinen Versammlungen drei Tage lang schönes Wetter kriege. Die Aufgabe heißt doch vielmehr, eine verantwortliche Politik zu machen und mit den Menschen darüber zu sprechen, was richtig und wichtig für unsere Zukunft ist. Das machen wir.

Das machen wir in der Frage der Bundeswehr, indem wir fragen, ob das, was uns allen - jedenfalls wenn ich einmal für die Union sprechen kann - lieb ist, nämlich die Wehrpflicht, die wir viele Jahrzehnte lang für richtig befunden haben, noch notwendig und machbar ist. Wir fragen: Werden wir den sicherheitspolitischen Verantwortungen gerecht, die in einer neuen und veränderten Welt bestehen?

Wir machen das auch bei der Frage, wie viel individuelle Freiheit wir im Internet brauchen und wie viel Schutz wir dafür brauchen. All das ist Neuland. Hier hat keiner sofort die Lösungen parat. Darüber muss diskutiert werden. Wenn in diesem Land jede Diskussion und jeder Meinungsaustausch ein Streit ist, dann muss es eben Streit sein. Ohne solche Diskussionen, Diskurse und Dispute werden wir nicht die richtigen Antworten finden. Wir stehen dazu. Zum Schluss wird entschieden, und es wird durch Mehrheit das gemacht, was wir insgesamt für richtig befinden.

Ich bin auch sehr dafür, das wir nicht mit Ressentiments arbeiten, aber ich sage auch: Man kann unterschiedlicher Meinung darüber sein, aber wenn Sie eine Leistung für Mütter in Familien, die ihre Kinder zu Hause erziehen, einfach als Herdprämie diffamieren, dann leisten Sie einen Beitrag zu Ressentiments, die wir nicht wollen.

Auch das Thema der Integration ist ein Thema, bei dem man mit Ressentiments nicht weiterkommt. Unsere Gesellschaft verändert sich. Etwas weniger als 20 Prozent der Bevölkerung haben einen Migrationshintergrund. Wenn wir diese Menschen integrieren wollen, dann müssen wir auch sehen, dass sich dadurch unsere Gesellschaft verändert. Wir können daraus etwas Gutes machen. Im Übrigen gibt es viele gelungene Beispiele. Es gibt 600.000 Selbstständige mit Migrationshintergrund und zwei Millionen Arbeitsplätze in diesem Bereich. Das soll man nicht verschweigen.

Es gibt aber auch riesige Probleme. Hierzu sage ich ganz einfach: Wir haben Fehler gemacht. Wir haben vielleicht zu lange von Gastarbeitern gesprochen und nicht zur Kenntnis genommen, dass sie in der zweiten, der dritten oder der vierten Generation bei uns leben. Sie aber haben von Multikulti geredet, ohne zu sagen: Integration ist Fordern und Fördern, und zwar ein Fordern in gleicher Größenordnung. Das haben Sie viele Jahre lang völlig vernachlässigt. Ich habe die Integrationsbeauftragte ins Kanzleramt geholt.

Wir waren es, die Integrationskurse verpflichtend gemacht haben. Wir waren es, die gesagt haben: Wer zu uns zieht, der muss auch unsere Sprache können, damit er sich in dieser Gesellschaft bewegen kann. Wir haben die Verpflichtung, an den Schulen deutsch zu sprechen, und die Sprachtests eingeführt. Nichts kam von dieser Seite des Hauses. Da hilft auch das Schreien im Nachhinein nicht.

Deshalb werden wir als Bundesregierung am 3. November wieder einen Integrationsgipfel veranstalten. Ich werde mit den Ministerpräsidenten bei dem jährlichen Treffen im Dezember über Fragen der Integration sprechen. Ja, es ist richtig: Es gibt zu viele Vollzugsdefizite. Wer nicht zum Integrationskurs geht, obwohl er dazu verpflichtet ist, dem kann heute, wenn er Arbeitslosengeld-II-Empfänger ist, die Leistung gekürzt werden, und zwar um 30 Prozent, 60 Prozent bis hin zu Sachleistungen. Wir werden überprüfen, ob das wirklich überall gemacht wird, weil Strenge und striktes Fordern auch bei der Integration die notwendige Voraussetzung dafür sind, dass Menschen hier ihre Chancen bekommen und an der Gesellschaft teilhaben. Ich will das, weil wir ansonsten keine menschliche Gesellschaft sind.

Vor 20 Jahren hat eine christlich-liberale Koalition unter der Führung von Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher und Theo Waigel die deutsche Einheit mit mutigen Entscheidungen möglich gemacht. Die Bürgerbewegung der ehemaligen DDR hat ihren Beitrag dazu geleistet, genauso wie die vielen Menschen in den neuen Bundesländern, die die völlige Veränderung ihres Lebens durch erhebliche Kraftanstrengungen gemeistert haben und heute riesige Erfolge verzeichnen können. Ihren Beitrag haben auch Millionen Menschen in der alten Bundesrepublik geleistet, die Solidarität für unser Vaterland gezeigt haben. Ich glaube, dass wir in diesem Land auf dieser Grundlage auch für die nächsten zehn Jahre die Weichen richtig stellen können. Wenn wir die Herausforderungen analysieren, wenn wir den Realitäten ins Auge sehen, wenn wir die Kraft haben, die Menschen zu gemeinsamen Anstrengungen für dieses Land zu motivieren, dann haben wir diese Chance.

Die christlich-liberale Koalition ist eine Koalition, die den Menschen in diesem Lande etwas zutraut, die glaubt, dass die Menschen ihren Beitrag für unser Gemeinwesen leisten wollen, die glaubt, dass, wenn wir die Rahmenbedingungen setzen, sich Leistung in diesem Lande lohnt, dass, wenn wir den Schwächeren helfen, etwas leisten zu können, Teilhabe für alle möglich ist. Ob es Menschen im Ehrenamt sind, ob sie vielleicht in einem freiwilligen Wehrdienst sind oder ob im sozialen Bereich Ältere freiwillig mit Jüngeren arbeiten - wir werden alle brauchen, um diese Gesellschaft menschlich zu gestalten. Wer den Eindruck erzeugt, dies könne allein der Staat tun, hat ein falsches Menschenbild. Nur wer den Menschen etwas zutraut und sie motiviert, sich nicht nur für ihre eigenen Interessen einzusetzen, sondern auch an die Gemeinschaft zu denken, wird es schaffen, dieses Land zu einem weiterhin wohlhabenden Land zu machen. Das ist unser Ansatz. Das wollen wir. Das wird die christlich-liberale Koalition auch schaffen.


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Quelle:
Bulletin Nr. 87-1 vom 15.09.2010
Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zum Haushaltsgesetz 2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. September 2010