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SCHULDEN/184: Schuldenstaat und Demokratie - eine notwendige Debatte (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2012

Politische Ökonomie:
Schuldenstaat und Demokratie - eine notwendige Debatte

Von Michael Dauderstädt und Markus Schreyer



Bei der Diskussion über die Verschuldung von Staaten gerät leicht aus dem Blickfeld, dass dies keinesfalls nur eine finanz- und/oder wirtschaftspolitische Fragestellung ist. Im Kern geht es hierbei um den Erhalt des demokratischen Fundamentes unserer Gesellschaften.


Die gegenwärtige Krise in der Europäischen Währungsunion (EWU) wird gemeinhin als Staatsschuldenkrise interpretiert. Viele EWU-Mitgliedsstaaten haben demnach über Jahre eine unsolide Finanzpolitik betrieben. Im Zuge der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise sind die Budgetdefizite und die Staatsverschuldung Weiter stark angestiegen. In der Folge schwand das Vertrauen der internationalen Kapitalgeber in die europäischen Staatsfinanzen. Gefordert wird daher eine substanzielle Reduzierung der Budgetdefizite und der Staatsverschuldung und damit eine nachhaltige Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, nicht zuletzt durch Einführung einer Schuldenbremse in jedem einzelnen EWU-Mitgliedsland.

Vor diesem Hintergrund stellen sich eine Reihe von Fragen zum Zusammenhang zwischen Staatsschulden und Demokratie, die eine gründliche Debatte erfordern, Wenn es wirklich zu dauerhaft wirksamen politischen Lösungen kommen soll. Vor allem geht es um die Klärung von zwei grundlegenden Themenkomplexen.

Erstens: Braucht die Demokratie den Schuldenstaat oder sind Wachstum und Wohlstand auch ohne Staatsverschuldung möglich?

Kritiker des Schuldenstaates fordern eine nachhaltige Haushaltspolitik in Form eines ausgeglichenen öffentlichen Haushalts und eine Rückführung der Staatsverschuldung, da zu hohe Haushaltsdefizite und Verschuldungen der Staaten nicht nur zentrale Ursache der gegenwärtigen EWU-Krise wären, sondern auch grundsätzlich zinssteigernd wirken und so private Investitionen verdrängen würden. Wachstum und Wohlstand nicht nur der gegenwärtigen, sondern auch der zukünftigen Generationen seien daher erheblich gefährdet, während der politische Gestaltungsspielraum des Staates immer weiter eingeengt werden würde. Ausgeglichene Staatshaushalte und eine sinkende Staatsverschuldung würden dagegen nicht nur das Vertrauen der Kapitalmärkte in die Staatsfinanzen stabilisieren, sondern sie würden auch wachstumsförderlich wirken, da eine geringere Kapitalnachfrage der öffentlichen Hand auf den internationalen Finanzmärkten zinssenkend wirken würde und dadurch mehr Investitionen in Realkapital (im privaten Sektor, der das frei werdende Kapital aufnimmt) und mehr Wachstum und Wohlstand zur Folge hätte. Zudem würde sich durch eine derartige Haushaltspolitik auch das Vertrauen der Konsumenten und Steuerzahler in die Solidität der Staatsfinanzen erhöhen, was ebenfalls den Konsum und das Wachstum befördern würde.

Dieser Argumentation steht jedoch die Auffassung entgegen, dass eine Finanzpolitik extremer Sparsamkeit über Kürzungen der öffentlichen Investitionen zukünftiges Wirtschaftswachstum und zukünftige Steuereinnahmen gefährden kann. Radikale Sparprogramme können eine Wirtschaft kurzfristig in eine Rezession oder gar Depression stürzen, die sich, je länger sie anhält, über die Entwertung von Sachkapital, Humankapital und Kapital für Forschung und Entwicklung auch negativ auf das langfristige Wachstumspotenzial einer Volkswirtschaft auswirken kann. Trotz aller Konsolidierungsbemühungen besteht dann die Gefahr, dass die öffentlichen Schulden nicht sinken, sondern ganz im Gegenteil im Zuge des Wachstumseinbruchs sogar weiter ansteigen. Daher sind dieser Argumentation zufolge Staatsdefizite gerade in Krisensituationen ein wichtiges Instrument, um die Erwartungen der Wirtschaftssubjekte zu stabilisieren und damit die Volkswirtschaft als Ganzes möglichst rasch wieder auf einen steileren Wachstumspfad zurückzuführen.


Wer sollte sich verschulden?

Aus kreislaufstheoretischer Sicht wird zudem immer wieder darauf hingewiesen, dass sich Wirtschaftswachstum und Wohlstandsmehrung nicht ohne Verschuldung realisieren lassen. Da die laufenden Einnahmen in einer arbeitsteiligen Volkswirtschaft nur ausreichen, um die laufenden Ausgaben zu finanzieren, muss es immer jemanden geben, der sich verschuldet, um so (direkt oder indirekt) eine höhere Produktion und damit Wirtschaftswachstum vorzufinanzieren. Wenn es immer jemanden geben muss, der sich verschuldet, um Wachstum zu generieren, dann stellt sich die Frage, ob dies notwendigerweise stets der Staat sein muss, oder ob Wachstum auch ohne staatliche Schuldenaufnahme realisiert werden kann.

In der Vergangenheit war es üblicherweise der private Unternehmenssektor, der sich für seine Investitionsprojekte verschuldet und dadurch Wachstum geschaffen hat. In den zurückliegenden Jahren, insbesondere im Zuge des Vordringens des Finanzmarktkapitalismus, ist allerdings zu beobachten, dass die privaten Unternehmen immer weniger die Ersparnisbildung der privaten Haushalte für Investitionszwecke aufgenommen haben, ihre Verschuldungsbereitschaft also abgenommen hat. Sie sind vielmehr immer stärker dazu übergegangen, ihre Investitionen über den Cash Flow, also über eigene einbehaltene Gewinne selbst zu finanzieren. Tatsächlich gab es in jüngerer Zeit Jahre, in denen der private Unternehmenssektor auf gesamtwirtschaftlicher Ebene als (Netto-)Sparer auftrat, eine Rolle, die eigentlich üblicherweise (nur) der private Haushaltssektor in einer Volkswirtschaft einnimmt (vgl. Diagramm[*]).

Alternativ könnte sich auch der private Haushaltssektor verschulden, um über mehr Konsum das Wachstum zu stimulieren. Tatsächlich konnte man einen derartigen "privatisierten Keynesianismus" in den Jahren vor der Finanzkrise, allen voran in den USA, beobachten, wo sich die privaten Haushalte dank zunehmender Deregulierung der Finanzmärkte und zahlreicher Finanzinnovationen stärker verschulden konnten und verschuldet haben und so letztlich als Consumer of Last Resort lange Zeit als Wachstumsmotor der Weltwirtschaft fungierten. Die jüngsten Erfahrungen rund um die Finanz- und Wirtschaftskrise zeigen jedoch, dass auch dies kein nachhaltiger Weg für mehr Wachstum und Wohlstand darstellt. Über kurz oder lang tritt eine Überschuldung des privaten Haushaltssektors ein, und dann ist es wiederum der Staat, der den privaten Sektor (Haushalte, Unternehmen, Banken) mit steigenden Staatsschulden retten muss.

Anstelle des Inlandes könnte sich auch das Ausland stärker verschulden und so als Wachstumsmotor fungieren. Auch eine derartige Entwicklung lässt sich in den letzten Jahrzehnten beobachten, allen voran in Deutschland. Hier ist es insbesondere in den Jahren vor der Finanzkrise zu einem zunehmend massiveren Kapitalexport ins Ausland gekommen, auch weil die inländischen Ersparnisse keine direkte Aufnahmefähigkeit in der inländischen Güterproduktion gefunden haben. Dies hat im Ausland (insbesondere in den EWU-Südländern) einen Investitions- und Konsumboom ermöglicht und in Deutschland wesentlich zum exportgetriebenen Wirtschaftswachstum beigetragen. Parallel dazu hat sich durch den Kapitalexport das Auslandsvermögen Deutschlands stark erhöht, eine Entwicklung, die vor dem Hintergrund einer zunehmend älter werdenden Bevölkerung in Deutschland als vorteilhaft für die Altersvorsorge angesehen wird. Wie die jüngsten Erfahrungen rund um die Finanz- und Wirtschaftskrise jedoch gezeigt haben ist auch die Strategie, auf die Verschuldungsbereitschaft und Verschuldungsfähigkeit des Auslandes (statt der inländischen Unternehmen und/oder des Staates) zu setzen, nicht nachhaltig. Früher oder später tritt im Ausland eine Überschuldungs-, Finanz- und Wirtschaftskrise auf, die nicht nur das deutsche exportgetriebene Wachstumsmodell gefährdet, sondern auch das bis dahin akkumulierte Auslandsvermögen, da sich dieses in der Krise (teilweise oder ganz) entwertet. Und auch hier ist es letztlich wieder der Staat, der mittels Schuldenaufnahme die negativen Folgen für den privaten Sektor abfedern muss.


Wachstum und Wohlstand ohne Staatsverschuldung?

Würde der private Unternehmenssektor wieder stärker zu seiner klassischen Funktion als Nachfrager von privatem (Spar-)Kapital für Investitionszwecke zurückkehren und mehr kreditfinanziert investieren, würde sich demnach der Druck auf den Staat, über Staatsverschuldung das Wachstum zu stimulieren oder gar als Retter der letzten Instanz bei (privaten) Überschuldungskrisen einzuspringen, verringern. Es stellt sich daher die Frage, ob es mittels staatlicher Maßnahmen, beispielsweise der Steuerpolitik, gelingen kann, Wachstum und Wohlstand auch ohne Staatsverschuldung in einer Volkswirtschaft zu erzielen. Brauchen wir eventuell den Schuldenstaat nur, weil die Demokratie nicht in der Lage ist, in ausreichendem Maße Steuern zu mobilisieren, oder braucht die heutige Demokratie den Schuldenstaat doch aus grundsätzlicheren Überlegungen heraus, insbesondere als Nachfrager von Ersparnissen zur Generierung von Wirtschaftswachstum?

Wenn es für private Unternehmen sinnvoll ist, sich (teilweise) durch Fremdkapital zu finanzieren, warum sollte das dann grundsätzlich nicht auch für Staaten gelten? Ist eine zunehmende öffentliche Verschuldung beispielsweise zur Kompensation der schon seit längerem zu beobachtenden strukturellen Schwäche der privaten Investitionsbereitschaft oder auch zur Finanzierung öffentlicher Investitionen in Bildung, Gesundheit, Infrastruktur und sozialen Ausgleich, allesamt wichtige Wachstumsfaktoren, erforderlich? Nehmen Staatsschulden eventuell gar eine wichtige Funktion bei der Akkumulation von Vermögen und Wohlstand auf Seiten der privaten Haushalte in einer Volkswirtschaft ein? Was würde hinsichtlich Wachstum und Wohlstand passieren, wenn sich der Staat als Nachfrager von Ersparnissen in einer Volkswirtschaft zurückzieht? Was würde im globalen Finanzsystem und in den Systemen der kapitalgedeckten Altersvorsorge passieren, wenn Staatsanleihen, die bis zur Finanzkrise als sichere Anlagen galten und daher bisher das Fundament der Weltfinanzarchitektur bilden, im Zuge eines öffentlichen Verschuldungsverzichts nicht mehr als sichere Anlageklasse zur Verfügung stehen würden?

Zweitens: Ist der Schuldenstaat mit der Demokratie vereinbar? Und wenn ja, wie?

Wenn der Staat sich verschuldet, verliert er offenkundig Souveränität an seine Gläubiger, die zunehmend politische Kontrolle ausüben können. Nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern auch aus demokratischen Überlegungen heraus kann dies problematisch sein, wenn die Forderungen an den Staat nur von einem kleinen Teil der Bürger oder gar vom Ausland gehalten werden und damit die Macht bestimmter Akteure über den Schuldenstaat größer wird. Generell lässt sich konstatieren, dass die Interessen von Gläubigern nicht zwangsläufig mit den Interessen und dem politischen Willen der Bevölkerung eines Landes übereinstimmen. Diese Problematik lässt sich bereits in einer Situation steigender Staatsverschuldung beobachten. Je höher die Staatsverschuldung, desto mehr öffentliche Gelder müssen für die Bedienung der Schulden und Zinszahlungen aufgebracht werden, die dann nicht mehr für andere demokratisch wünschenswerte Zwecke verwandt werden können. Den hohen Staatsschulden stehen zudem hohe private Vermögen gegenüber, die jedoch sehr ungleich verteilt sind. Im Zuge der schuldenbedingten Zinszahlungen an die Gläubiger des Staates kommt es daher auch zu einer zunehmenden Umverteilung zwischen Arm und Reich, zwischen Lohneinkommensbeziehern und Vermögenseinkommensbeziehern, was nicht nur das Wirtschaftswachstum, sondern auch die Demokratie zunehmend gefährden kann.

Die Tatsache, dass sich die Interessen der Gläubiger und die der Bevölkerung eines Landes unterscheiden, zeigt sich noch deutlicher, wenn (typischerweise) in Krisenzeiten Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung ergriffen werden. Im Rahmen der EWU-Krise zielen gegenwärtig alle Rettungs- und Konsolidierungsmaßnahmen darauf ab, das Vertrauen der internationalen Kapitalmärkte in die Solidität der Staatsfinanzen wieder zurück zu gewinnen. Die Staaten sehen sich dabei gezwungen, den Anforderungen der (undemokratischen) Finanzmärkte Rechnung zu tragen und verfolgen daher eine gläubigerorientierte Sparpolitik (Staatsausgabenkürzungen, Steuererhöhungen und Verkauf öffentlicher Infrastruktur). Diese Austeritätsmaßnahmen wirken für sich genommen jedoch nicht nur in ökonomischer Hinsicht prozyklisch und damit krisenverschärfend, sondern die damit zum Ausdruck kommende Dominanz der reinen Marktrationalität bzw. des reinen Marktprinzips und der gleichzeitige Verlust an sozialer Gerechtigkeit führen in vielen Ländern auf Seiten der betroffenen Bevölkerung auch zu massiven Protestkundgebungen und Gefahren für die Demokratie. So weigern sich beispielsweise die (mittlerweile zum Teil von Finanztechnokraten geführten) Regierungen in den Krisenstaaten, Volksabstimmungen über die Rettungsaktionen für (ausländische) Gläubiger und Vermögensbesitzer abzuhalten, da dies nach allgemeiner Lesart das Vertrauen "der Märkte" erschüttern und zu steigenden Zinsen führen könnte. Selbst die Oppositionsparteien sehen sich in den Krisenstaaten gezwungen, den Forderungen "der Märkte" absoluten Vorrang einzuräumen.


"Effiziente Finanzmärkte" - Fehlanzeige

Vor allem über die Zinsentwicklung sollen die Finanzmärkte einen starken "disziplinierenden" Einfluss auf die Haushaltspolitik der Staaten ausüben. Allerdings stellt sich bei näherer Betrachtung die Frage, ob diese Kontrollfunktion wirklich so rational und zielführend von den Akteuren auf den Finanzmärkten ausgeübt wird, wie dies behauptet wird. Nicht erst die seit 2007 schwelende Finanzkrise hat eindrucksvoll aufgezeigt, dass von effizienten Finanzmärkten keine Rede sein kann. Sie zeichnen sich vielmehr durch kurzfristige Gewinnmaximierungsstrategien und Herdenverhalten aus, tragen so mitunter erst zur Entstehung von gefährlichen Spekulationsblasen bei, die dann über kurz oder lang in mehr oder weniger schwere Finanzkrisen münden. Auch im Zusammenhang mit der gegenwärtigen EWU-Krise lässt sich feststellen, dass die Finanzmärkte einschließlich der Rating-Agenturen, anders als allgemein behauptet, nicht frühzeitig korrigierend und stabilisierend auf Fehlentwicklungen und Ungleichgewichte eingewirkt haben. Dafür haben sie dann in der Krise diese durch Gläubigerpanik und prozyklisches Herdenverhalten weiter verschärft.

Wenn aber die (Finanz-)Märkte bei der Kontrolle der Staatsverschuldung offensichtlich versagen, wie lässt sich dann eine nachhaltige und sinnvolle (nämlich dem Wachstum wie der Demokratie dienende) Staatsverschuldung gewährleisten? Muss Staatsverschuldung unumgänglich in einer Situation von politischer Kontrolle der Gläubiger enden? Oder kann Staatsverschuldung institutionell so eingebettet werden, dass die Demokratie vor Gläubigermacht geschützt wird?

Zur Lösung dieser Fragen werden verschiedene Strategien vorgeschlagen. Auf der einen Seite wird gefordert, dass der Staat in Zukunft keine Schulden mehr machen sollte, um sich so aus den Fängen der (undemokratischen) Finanzmärkte zu befreien und damit wieder stärker die Interessen der eigenen Bevölkerung erfüllen zu können. Eine prominente Forderung ist, staatliche Schulden schlicht und einfach gesetzlich zu verbieten, insbesondere durch Einführung einer Schuldenbremse in die Verfassung. Hintergrund dieser Selbstbindung des Parlaments ist mitunter die Auffassung, dass Politiker primär eine Strategie der kurzfristigen Wählerstimmenmaximierung durch die Gewährung von teuren Wahlgeschenken verfolgen würden und daher wenig Interesse an einer längerfristig nachhaltigen Finanzpolitik hätten. Ob dies tatsächlich immer zutrifft, ist zweifelhaft, nicht zuletzt, da sich Länder finden lassen, in denen eine Konsolidierung der Staatsfinanzen auch ohne gesetzliche Schuldenbremse in der Vergangenheit gelungen ist. Zumindest die letzte Welle (massiv) steigender Staatsverschuldung scheint nichts mit Demokratie- und Politikversagen, sondern vielmehr mit der Finanzkrise und mit einer zu hohen Verschuldung des privaten Sektors zu tun zu haben.

Der Forderung nach einer strikten Schuldenbremse ist - neben allen konzeptionellen Umsetzungsschwierigkeiten - zudem entgegenzuhalten, dass durch die so erzwungene Selbstbindung der Politik letztlich die Macht der demokratisch gewählten Parlamente stark beschnitten wird. Auch lässt sich keine ökonomisch sinnvolle Begründung finden, warum ein (über den Konjunkturzyklus hinweg) ausgeglichener Haushalt optimal sein sollte. Gemäß der vom russisch-amerikanischen Ökonomen Evsey D. Domar entwickelten Gleichung nähert sich die Staatsschuldenquote einer Volkswirtschaft langfristig dem Quotienten aus Defizitquote und Wachstumsrate an. Daher sind selbst immer weitere neue Schulden nachhaltig, wenn die Wirtschaft weiter wächst. So gingen beispielsweise die bekannten Maastricht-Kriterien implizit von einem (nominellen) Wachstum von 5% aus, bei dem eine Defizitquote von 3% die Staatsschuldenquote bei 60% hält. Die Einführung und Einhaltung einer strikten Schuldenbremse lässt dagegen die Schuldenstandsquote langfristig gegen Null konvergieren. Auch lassen sich keine Begründungen finden, warum dies sinnvoll und zielführend sein sollte, insbesondere solange die Wirtschaft wächst. Ganz im Gegenteil, sollte Staatsverschuldung für die Wachstums- und Wohlstandsentwicklung in einer Volkswirtschaft notwendig sein, dann wäre diese Regelung sowohl aus ökonomischen als auch aus gesellschaftspolitischen Überlegungen heraus kontraproduktiv.

Auf der anderen Seite wird vorgeschlagen, den Staat durch eine festere Einbindung und stärkere Regulierung der Finanzmärkte vor zu großer Gläubigermacht zu schützen. Inwieweit dies gelingen kann, bleibt abzuwarten. Ob es dabei sinnvoll ist, sich dem Zugriff der Gläubiger auch dadurch zu entziehen, indem man die Möglichkeit eines staatlichen Schuldenschnitts und damit eine direkte Beteiligung der privaten Gläubiger - statt einer indirekten über eine höhere (Vermögens-)Besteuerung - einführt, wäre auch genauer zu analysieren. Staatsanleihen ihren Charakter als sichere Anlageform zu nehmen würde nicht nur einen grundlegenden Regimewechsel in der Weltfinanzarchitektur bedeuten, sondern in Zukunft würde dann sicherlich auch die Finanzierung von öffentlichen Investitionen über die internationalen Finanzmärkte deutlich schwieriger und kostspieliger. Möglicherweise sind aber auch Regulierungswege denkbar, die die Interessen der Gläubiger enger an die der Bevölkerung eines Landes binden. Man könnte den Staat statt durch Anleihen durch Ausgabe von Staatsaktien finanzieren. Statt fester Zinsen könnten dann Dividenden in Abhängigkeit von der Entwicklung des Wachstums und des allgemeinen Steueraufkommens der Volkswirtschaft gezahlt werden, was viele Probleme lösen würde.

Alternativ dazu wird in der EWU von manchen auch eine klarere Positionierung der Europäischen Zentralbank als Lender of Last Resort auf den Staatsanleihemärkten gefordert. (Als "Kreditgeber der letzten Zuflucht" werden im Finanzsektor Institutionen bezeichnet, die auf gesetzlicher Grundlage oder freiwillig als Kreditgeber oder Garanten von Schulden auftreten, wenn keine anderen mehr dazu bereit sind.) Dies würde jeglichen Zweifel an der Liquidität und Solvenz von Staaten im Keim ersticken. Manche Länder (z.B. Japan, USA, GB) zeigen, dass bei einer solchen Flankierung der Finanzpolitik durch die Zentralbank auch eine sehr hohe Staatsschuldenquote tragfähig sein kann und nicht mit Gläubigerpanik und daraus resultierenden Liquiditäts- und Solvenzkrisen einhergehen muss. Zwar wird hier von manchen entgegengehalten, dass der Ankauf von Staatsanleihen durch die Zentralbank verboten sein müsse, da die Monetarisierung von Staatsschulden letztlich zu Inflation führen würde. Die Beispiele Japan und die USA zeigen jedoch, dass dies nicht zwangsläufig der Fall sein muss. Insofern wären, insbesondere in der EWU, im Zusammenhang mit der Frage nach der Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen auch die Ziele und die Politikinstrumente der (weiterhin unabhängigen) Europäischen Zentralbank neu zu überdenken.

Die unvoreingenommene und undogmatische Klärung all dieser Fragen und Probleme und - darauf basierend - die Auswahl der dann in der Politik konsistent und längerfristig verfolgten Handlungsoption ist eine grundlegende Voraussetzung für eine zugleich demokratische, wirtschaftlich erfolgversprechende und gerechtigkeitspolitisch akzeptable Auflösung des gegenwärtigen Dilemmas zwischen Finanzmarktzwängen und demokratischem Gestaltungsanspruch.

[*] Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Überschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Grafik (Diagramm) auf Seite 45 der Originalpublikation:
NETTOGELDVERMÖGEN DER HAUSHALTE (POSITIV), DER UNTERNEHMEN UND DES STAATES (NEGATIV=SCHULDEN; ABER NACH OBEN GESPIEGELT) IN PROZENT DES BIP IN DEUTSCHLAND 1991-2010


Michael Dauderstädt (* 1947) ist Leiter der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der FES.
michael.dauderstaedt@fes.de

Markus Schreyer (* 1971) Diplom-Ökonom, ist Referent für Allgemeine Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie für Außenwirtschaft in der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der FES.
markus.schreyer@fes.de

Kasten

SCHULDEN UND VERMÖGEN IN DEUTSCHLAND SEIT 1991
Seit 1991 hat sich das Nettogeldvermögen der deutschen Haushalte verdreifacht (von ca. 1 Billion auf 3 Billionen Euro), während das BIP nur um ca. zwei Drittel (von ca. 1,5 auf ca. 2,5 Billionen Euro) zunahm. Im Verhältnis zum BIP stieg das Vermögen also von 70 auf 125%.
Dem Vermögen stehen Schulden gegenüber, in der Hauptsache der Unternehmen und des Staates (Verbindlichkeiten des Finanzsektors, des Auslands und ungeklärte Posten machen den Rest aus). Die Zusammensetzung der Schulden hat sich allerdings erheblich verändert (siehe Grafik[*]). Während 1991 die Forderungen an Unternehmen noch 72,5% der Nettogeldvermögen der privaten Haushalte ausmachten, sank deren Anteil bis 2010 auf unter 50%. Gleichzeitig stieg der Anteil des Staates von 12 auf über 40%. Unterhalb dieses Trends ist zu sehen, dass der Staat sich immer dann stärker verschuldete, wenn es die Unternehmen unterließen, und konsolidierte, wenn die Unternehmen sich stärker verschuldeten.

*

Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2012, S. 42-48
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer, Bascha Mika und
Peter Struck
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Die NG/FH erscheint monatlich, wobei die Hefte 1+2
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Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. April 2012