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VERKEHR/1192: In Deutschland fehlt ein nationales Verkehrskonzept (spw)


spw - Ausgabe 3/2011 - Heft 184
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

In Deutschland fehlt ein nationales Verkehrskonzept

von Alexander Kirchner


Früher, da war alles besser. Da fuhr die Eisenbahn noch pünktlich und zu jeder Jahreszeit. Heute ist genau das Gegenteil der Fall. Ständig Verspätungen, Zugausfälle, Winterchaos. Das zumindest ist der Eindruck, den man gewinnen kann, verfolgt man aufmerksam die öffentliche Diskussion über die Deutsche Bahn.

Die Wirklichkeit ist - wie immer - eine andere. Früher war die Bundesbahn eine schwerfällige Behörde und der Fahrgast ein "Beförderungsfall". Wettbewerb und Service wurden klein geschrieben, Konkurrenz gab es nicht.

Heute ist das anders. Im Regional- und Nahverkehr tobt der Wettbewerb; insbesondere große ausländische Bahnkonzerne gründeten in Deutschland Tochterunternehmen, um der DB AG ordentlich Konkurrenz zu machen. Eine Entwicklung, die es bald auch im Fernverkehr geben wird. Und die von der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft immer noch mit Sorge betrachtet wird.

Nicht, dass Konkurrenz als etwas Schädliches verstanden würde. Keinesfalls - wichtig aber ist, dass die Rahmenbedingungen stimmen. Das war lange Zeit nicht der Fall.


Kein Lohndumping auf Kosten der Beschäftigten

Von Beginn an galt bei den meisten Bestellern das Prinzip, bei Streckenausschreibungen im Nahverkehr den möglichst billigsten Anbieter zu beauftragen. Ausgeblendet wurde dabei völlig, dass von dieser Form der Vergabepolitik niemand wirklich profitierte. Weder der Fahrgast, dessen Ticket nun nicht weniger kostete, obwohl die Auftraggeber jetzt meist weniger als vorher für die zu erbringenden Leistungen zahlten. Noch die Mitarbeiter, die - als Preis für die Streckenvergabe - Lohneinbußen hinnehmen mussten.

Dem unerträglichen Lohndumping auf dem Rücken der Beschäftigten hat die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft sehr schnell Einhalt gebieten können. In langwierigen und oft vom Scheitern bedrohten Verhandlungen konnte mit den sechs führenden privaten Bahnunternehmen und der DB Regio AG ein Branchentarifvertrag für den Schienenpersonennahverkehr vereinbart werden. In dem wurde für alle neuen Ausschreibungen ein Mindestlohnniveau vereinbart. Dieses Niveau orientiert sich ganz dicht an den Löhnen, die vom Marktführers DB Regio, aber auch bereits von zahlreichen Privatbahnen gezahlt werden.

Und doch bleiben für "schwarze Schafe" immer noch Schlupflöcher. So versuchen derzeit in Nordrhein-Westfalen die Aufgabenträger das Fehlen eines Tariftreuegesetzes auszunutzen, um weiterhin auf den billigsten Anbieter setzen zu können. Ähnliches geschieht in Brandenburg. Dort wird der Branchentarifvertrag SPNV im Entwurf des Vergabegesetzes nicht als "repräsentativer" und damit maßgebender Tarifvertrag benannt. Statt dessen soll "nach billigem Ermessen" irgendein gültiger Tarifvertrag angewendet werden dürfen.


Fragwürdige Vorgehensweise der Politik

Eine Vorgehensweise, die für die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft in keinster Weise akzeptabel ist. Da einigen sich die EVG, die DB Regio und die sechs führenden privaten Bahnunternehmen darauf, den Wettbewerb im Schienenpersonennahverkehr nicht mehr auf dem Rücken der Mitarbeiter auszutragen und die Politik ignoriert diese Steilvorlage. Statt den Branchentarifvertrag SPNV schnellstmöglich, durch entsprechende politische Vorgaben, in geltendes - und damit von allen Wettbewerbern anzuwendendes - Recht umzusetzen, lassen gerade die von Sozialdemokraten geführten Bundesländer Lohndumping auf Kosten der Beschäftigten weiterhin zu.

Dabei macht der von der EVG verhandelte Branchentarifvertrag SPNV deutlich, dass eine nachhaltige Verkehrspolitik immer auch die Interessen der Kunden und Mitarbeiter im Blickfeld haben muss. Der Preis - und damit das billigste Angebot - ist nicht das Maß aller Dinge. Die Leistung an sich muss stimmen.

Deshalb fordert die EVG die Auftraggeber auf, in ihren Ausschreibungen für mehr Zugbegleitpersonal und Sicherheitskräfte, vor allem in den Abend- und Nachtstunden, zu sorgen. Das kostet zwar Geld, insbesondere wenn auch hier ausschließlich qualifizierte Mitarbeiter eingesetzt werden, schafft aber Vertrauen und bindet letztlich Kunden.

Nur mit einem attraktiven Nahverkehrsangebot wird es gelingen, Pendler, aber auch abendliche Kino- oder Theaterbesucher, von der Straße zu holen. "Mehr Verkehr auf die Schiene", war schon immer das Ansinnen der Gewerkschaft EVG (und der Gewerkschaften TRANSNET und GDBA, aus der sie hervorgegangen ist). Angesichts der augenblicklichen Klimadebatte muss es Ziel einer zukunftsorientierten Verkehrspolitik sein, möglichst viele Anreize zu schaffen, das Auto stehen zu lassen.

Dazu passt aus Sicht der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft so überhaupt nicht das Ansinnen der Bundesregierung, künftig Fern buslinien zuzulassen. Das politische Ziel, mehr Verkehr auf die Schiene zu verlagern, wird hier ad absurdum geführt.


Nötig ist ein nationales Verkehrskonzept

Die EVG fordert deshalb mit Nachdruck ein nationales Verkehrskonzept, das allen Belangen Rechnung trägt. Umweltpolitische Gesichtspunkte und verkehrslenkende Maßnahmen müssen genau so berücksichtigt werden, wie der nachvollziehbare Wunsch von Reisenden nach einer für sie bezahlbaren Mobilität. Es ist an der Zeit zu definieren, welche Form von Mobilität wir wo wollen. Die Eisenbahn spielt da für die EVG eine ganz entscheidende Rolle.

Vor diesem Hintergrund kritisiert die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft die einseitige und allein auf das Auto reduzierte Diskussion über Elektromobilität. Lösungsansätze ausschließlich für den Individualverkehr zu entwickeln, reicht nicht aus. Von entscheidender Bedeutung wird sein, wie die rasant anwachsenden Mengen an Gütern künftig umweltfreundlich transportiert werden können.


Elektromobilität im Güterverkehr

Die Bahn fährt schon heute zu 90 Prozent mit Strom. Elektromobilität im Güterverkehr bedeutet zwangsläufig eine deutliche Verlagerung auf die Schiene. Das, was auf der Straße mühsam erreicht werden soll, ist bei der Eisenbahn längst schon Realität. Gleichwohl gibt es auch bei der elektrisch betriebenen Bahn noch deutliches Optimierungspotenzial. Entsprechende Förderprogramme aber lassen auf sich warten.

Zudem muss die Schieneninfrastruktur ausgebaut werden. Schon heute stößt das Netz immer wieder an seine Grenze. Die Anbindung der Containerhäfen im Norden der Republik stellt ein empfindliches Nadelöhr dar, das Rheintal gilt nach wie vor als neuralgischer Bereich und auch die Zuführung zum neuen Gotthard-Basistunnel hinkt auf der deutschen Seite den Planungen weit hinterher. Nur drei von vielen Beispielen, die zeigen, wo dringender Handlungsbedarf besteht. Denn die im Bereich des Güterverkehrs prognostizierten Zuwächse müssen bewältigt werden.

Allein mit dem Aus- und Neubau von Strecken ist es jedoch nicht getan. Gerade der von Güterzügen verursachte Lärm wird immer mehr zum Problem. Anwohner wehren sich gegen engere Taktfolgen und neue Trassen, die dicht an Wohngebieten vorbeiführen, weil sie um ihre Ruhe fürchten.

Aus Sicht der EVG sind die Eisenbahnen als Betreiber, aber auch die Politiker gefordert, in dieser Frage schnell Lösungen zu entwickeln, die das Problem Lärm grundsätzlich angehen. Ansonsten wird es immer schwieriger, Verständnis für den Aus- und Neubau von Eisenbahntrassen insbesondere für den Güterverkehr zu wecken.


Integrierter Konzern sichert Arbeitsplätze

Keinen Konsens gibt es bislang in der Frage, wie das Unternehmen DB AG künftig geführt werden soll. Immer noch steht die politische Forderung im Raum, den Konzern mit dem Ziel zu zerschlagen, Netz und Betrieb von einander zu trennen.

Die EVG hat sich stets für den Integrierten Konzern und damit gegen die Zerschlagung ausgesprochen. Dafür gibt es gute Gründe. Der Wettbewerb funktioniert auf dem bundesdeutschen Schienennetz. Darüber wacht nicht zuletzt die Bundesnetzagentur. Einen zwingenden Grund zur Trennung gibt es insofern nicht.

Im Gegenteil, Guillaume Pépy, Präsident der französischen SNCF, hat jüngst beklagt, dass die Trennung zwischen Infrastrukturbetreiber und Eisenbahnverkehrsunternehmen, die es in Frankreich seit 1997 gibt, dem Unternehmen zwischenzeitlich große Probleme bereitet. So würde die Infrastruktur versuchen, Gewinne durch die Erhöhung der Trassenpreise beim Hochgeschwindigkeitsverkehr zu erzielen, was zwar ein grundsätzlich marktwirtschaftlicher Gedanke sei, den Betrieb des TGV betriebswirtschaftlich aber immer unattraktiver mache.

Für die Beschäftigten hätte die Zerschlagung der DB AG katastrophale Folgen. Nur der Integrierte Konzern bietet die Gewähr, Mitarbeitern, deren Arbeitsplatz etwa aus Rationalisierungs- oder konjunkturellen Gründen wegfallen wird, innerhalb des Unternehmens eine akzeptable Alternative zu bieten. Mit jedem Bereich, der aus dem Unternehmen herausgebrochen wird, schwinden entsprechende Möglichkeiten. Gerade die aber haben in den vergangenen Jahren viele Beschäftigte vor der Arbeitslosigkeit bewahrt.

Die Deutsche Bahn ist ein Verbundunternehmen, bei dem zahlreiche Räder ineinander greifen, um ein Funktionieren des komplexen Systems garantieren zu können. Gewerkschaftspolitischer Ansatz der EVG ist insofern, die Interessen aller Mitarbeiter zu vertreten und nicht nur einen Teilbereich.


Ein Tarifvertrag für die Zukunft

Derzeit wird beispielsweise der "Zukunft-Tarifvertrag" verhandelt. Eine der darin zu lösenden Aufgaben wird sein, wie Mitarbeiter, die ihren erlernten Beruf absehbar nicht bis zur Rente ausüben können, so frühzeitig weiterqualifiziert werden, dass ihnen im Unternehmen DB AG eine neue berufliche Perspektive geboten werden kann. Zu klären sein wird auch die Frage, wie das Unternehmen Deutsche Bahn ein so attraktiver Arbeitgeber wird, dass die Folgen des demografischen Wandels dessen Handlungsfähigkeit nicht negativ beeinflusst. Schon heute bleiben beispielsweise in den Werkstätten Ausbildungsplätze frei, weil andere Unternehmen offensichtlich bessere Rahmenbedingungen bieten.

Lösungen müssen nach Maßgabe der EVG für alle Mitarbeiter gefunden werden. Nur das ist gerecht und wahrt den Betriebsfrieden. Eine Trennung in Netz und Betrieb wäre vor diesem Hintergrund kontraproduktiv.


Kritik ist nicht immer gerechtfertigt

Das Thema Bahn ist ein hochemotionales. Da erscheint so manche Kritik ungerechtfertigt. Als im Winter beispielsweise Autofahrer ganze Nächte auf Autobahnen feststeckten und Flughäfen tagelang gesperrt waren, war es allein die Bahn, die - wenn auch eingeschränkt - noch fuhr. Trotzdem gab es massive Klagen und Unmutsäußerungen, vornehmlich gegenüber Mitarbeitern, die ihr Bestes gaben, um den Betrieb am Laufen zu halten. Das ist ungerecht und demotivierend.

Trotzdem darf und muss Kritik geübt werden. Gerade im Service läuft noch nicht alles so, wie es sollte. Drastischer Personalabbau ist heute glücklicherweise kein Thema mehr. Gleichwohl gibt es Bereiche, in denen es aus Sicht der EVG an Mitarbeitern fehlt. In der Auskunft und am Fahrkartenschalter beispielsweise.

Die DB AG trägt, gemeinsam mit ihren privaten Konkurrenten, wesentlich dazu bei, Deutschland vor dem Verkehrsinfarkt zu bewahren und garantiert Tag für Tag die umweltfreundliche Mobilität von rund fünf Millionen Menschen. Das ist ein Pfund, mit dem der Bund als Eigentümer viel mehr als bisher wuchern sollte.

Noch ist keine Regierung dem eigenen politischen Anspruch gerecht geworden, mehr Verkehr auf die Schiene zu verlagern. Bislang hat auch keine Regierung ein annähernd tragfähiges und nachhaltiges Verkehrskonzept vorgelegt. Nach Maßgabe der EVG muss der Eisenbahnverkehr darin eine zentrale Rolle spielen, quasi das innerdeutsche Rückgrat sein.

Die Schiene ist der Verkehrsträger der Zukunft. Es ist an der Zeit, die Weichen entsprechend zu stellen.


Alexander Kirchner ist Vorsitzender der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG).


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 3/2011, Heft 184, Seite 28-31
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. September 2011