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ARBEITSRECHT/085: Die Dialektik von Recht und Politik (Rolf Geffken)


Die Dialektik von Recht und Politik

Erste Erfolge der Emmely-Kampagne

Von Dr. Rolf Geffken
Hamburg / Cadenberge, August 2009


I.

Längst geht es bei der sogenannten Emmely-Kampagne nicht mehr nur um einen einzelnen Fall. Vielmehr war Gegenstand dieser Kampagne von vornherein die generelle Infragestellung sogenannter Verdachtskündigungen oder von Kündigungen wegen sogenannter Bagatellstraftaten im Arbeitsverhältnis. Die bisherige Rechtsprechung sieht bei dem Verdacht einer strafbaren Handlung eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber als grundsätzlich gerechtfertigt hat, sofern der Arbeitnehmer nach entsprechender Anhörung durch den Arbeitgeber den Verdacht nicht ausräumen oder entkräften kann. Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, lange Betriebszugehörigkeit, Umstände des Einzelfalles usw. spielen grundsätzlich keine Rolle dabei. Mit dem dringenden Tatverdacht sei das "Vertrauensverhältnis" zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zerstört und daher die Weiterbeschäftigung dem Arbeitgeber "unzumutbar".
Ähnliches galt (und gilt noch) für Kündigungen wegen sogenannter Bagatellstraftaten. Etwa bei dem unerlaubten Verzehr einer Scheibe Käse in der Kantinenküche oder bei der Unterschlagung oder Veruntreuung äußerst geringer Beträge an Kassen oder durch falsche Abrechnungen. Auch hier fand bisher - der im Strafprozess oder im Beamtenrecht längst anerkannte - Grundsatz der Verhältnismäßigkeit  k e i n e  Anwendung.

Es war deshalb keineswegs überraschend, dass das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg im sogenannten "Fall Emmely" (in welchem es praktisch um beide Arten der Kündigung ging) gegen sein negatives Urteil keine Revision beim Bundesarbeitsgericht zuließ.

Nun hat das Bundesarbeitsgericht in einer durchaus salomonischen Entscheidung die Revision  d o c h  zugelassen. Natürlich ist es dabei nicht von seiner jahrzehntelang gefestigten Rechtsprechung abgewichen. Es hat diese auch in seinen Beschluss vom 28.7.2009 (3 AZN 224/09) nicht in Frage stellt. Es hat aber - und das ist Symbol genug - einer bestimmten Frage, nämlich der nach dem zugrundeliegenden Zeitpunkt der Bewertung des Vorgangs und der sogenannten Zumutbarkeit zur Weiterbeschäftigung - grundsätzliche Bedeutung zugemessen und  d e s h a l b  die Revision zugelassen. Dabei ist es den Anträgen und Begründungen der Betroffenen beziehungsweise ihres Rechtsanwaltes gerade  n i c h t  gefolgt, sondern hat nach einem gewissermaßen "eigenen" Grund für die Überprüfung des Urteils gesucht und ihn in der "grundsätzlichen Bedeutung"dieser Frage gefunden.
Wer die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kennt, weiß, dass darin das deutliche Signal liegt, dass einer Relativierung der bisherigen Rechtspositionen jetzt zumindest  m ö g l i c h  ist.


II.

Für den juristischen "Laien"sind die Gründe für dieses Manöver nur schwer nachvollziehbar. Der gewissermaßen "reine"politische Beobachter hätte vermutlich vor dem Hintergrund der sogenannten Emmely-Kampagne irgendeine grundsätzliche Stellungnahme zur Problematik erwartet. Dass mit einer solchen nicht zu rechnen war, ergibt sich bereits aus dem Wesen des Verfahrens über die Zulassung der Revision. Dort kann es schon begrifflich nicht etwa um die Sache selbst gehen, sondern nur darum, ob zu Recht oder zu Unrecht die Berufungsinstanz die Revision nicht zugelassen hat. Alles andere würde dazu führen, dass man im Rahmen eines Zulassungsverfahrens bereits über die Sache entscheidet. Etwas anderes kommt hinzu:

Selbstverständlich vermitteln sich Öffentlichkeit und politischer Druck auf der Ebene der Justiz nicht derart direkt und unmittelbar wie etwa im Bereich der Gesetzgebung oder der Exekutive. Dies ist nicht nur dem Selbstverständnis der Justiz geschuldet, sondern natürlich vor allem der Tatsache, dass Richter tatsächlich gegenüber solchen Einflüssen sowohl politisch wie rechtlich, ideologisch wie auch materiell unabhängig sind. Dass sie deshalb nicht etwa wie klassische politische Institutionen unmittelbar auf die Verschiebung von Kräfteverhältnissen oder auf öffentliche Kritik in gleicher Weise reagieren, ist nur allzu nachvollziehbar. Und dennoch: Dass hier so reagiert wurde, ist und bleibt bemerkenswert. Ein "reiner" juristischer Diskurs hätte buchstäblich  n i c h t s  bewirkt. Es gab aber keinen reinen juristischen Diskurs sondern es gab eine öffentliche Kampagne, die ein massives öffentliches Echo hervorrief und zwar im Wesentlichen ein für die Arbeitnehmer positives Echo. Die Öffentlichkeit - auch die sogenannte bürgerliche Öffentlichkeit - sah sich einfach nicht in der Lage, gedanklich, moralisch, ideologisch und auch rechtlich nachzuvollziehen, weshalb in solchen Fällen ein Arbeitsverhältnis einfach aufgelöst werden kann. Dieser drohende Legitimationsverlust einer jahrzehntelangen Rechtsprechung musste auf all diejenigen, die Interesse an dieser Rechtsprechung hatten, bedrohlich wirken. Deshalb war es kein Wunder, dass einige besonders radikale Vertreter traditioneller "Klassenjustiz" sogar zu einer Art Gegenkampagne übergingen, und dabei die Betroffene, deren Anwalt und alle diejenigen, die sich für sie einsetzten, diffamierten. Die von dem Münchener Juraprofessor Riebl losgetretene Kampagne in seinem Aufsatz in der "Neuen Juristischen Wochenschrift" ist dafür ein besonders extremes Beispiel.[1] Doch es war klar, dass es sich hier um ein radikales Rückzugsgefecht handelte, das in der herrschenden Justiz wenig konsensfähig war. Auf derart reaktionäre Weise mithilfe einer völlig überholten Sozialarroganz verlorenes öffentliches Terrain wieder zurückzugewinnen, konnte kein erfolgreicher Versuch zur Legitimierung einer nicht mehr konsensfähigen Rechtsprechung sein. Trotz Krise und Arbeitsplatzangst: Mit einer "Basta-Politik" lässt sich der auch für die Justiz erforderliche öffentliche Konsens nicht mehr herstellen. Die Kampagne bewirkte also gerade  w e i l  sie sich auf klassische juristische Argumente  n i c h t  einließ, sondern von einem allgemeinen Gerechtigkeitsstandpunkt ausging, dass die Rechtsprechung selbst anfängt, ihre eigenen Positionen zu überdenken.
Dass dieses der Fall ist, ergibt sich keineswegs aus den extrem vorsichtigen Äußerungen des BAG in seiner Entscheidung über die sogenannte Nichtzulassungsbeschwerde. Es ergibt sich vielmehr aus einer jüngsten Entscheidung des Arbeitsgerichts Mannheim vom 30.07.2009 (Aktenzeichen 15 Ca 278/08), in dem die fristlose Entlassung eines Müllwerkers aufgehoben wurde, der zur Entsorgung vorgesehene Gegenstände entwendet haben sollte. Das Gericht prüfte gar nicht die Frage, ob es sich hierbei um einen Diebstahl oder eine Unterschlagung handelte, sondern stellte einfach fest, die Kündigung sei schlicht "unverhältnismäßig". Außerdem sei das Verschulden des Arbeitnehmers als "gering" einzustufen. Schließlich sei der Beschäftigte mehr als 8 Jahre im Betrieb gewesen. Hier wird also erstmals von einem unteren Gericht das bislang vom Bundesarbeitsgericht und seinen Apologeten zurückgewiesene Argumente der Verhältnismäßigkeit zum entscheidenden Argument für die Unwirksamkeit von Kündigungen in solchen Fällen benutzt.

In dieser Entscheidung deutet sich eine Kehrtwende der Rechtsprechung an. Diese wird natürlich nur in Brüchen vollzogen werden und auch nur allmählich erfolgen. Schon jetzt aber ist abzusehen, dass in einer Vielzahl von Fällen, in denen sich bislang Betroffene überhaupt nicht gewehrt hatten oder Anwälte sogar davon abgeraten hatten, Klage gegen die Kündigung zu erheben, nunmehr Arbeitsgerichte mit dem Thema befasst werden.


III.

Diese zugegeben zunächst nur bescheidenen Erfolge der Emmely-Kampagne zeigen auf folgendes hin: Viel zu lange war in den letzten Jahren der Zusammenhang von Rechtspolitik und Prozessstrategie durch die Gewerkschaften missachtet worden. Die Gewerkschaften selbst hatten diese Rechtsprechung  n i c h t  problematisiert. Auch öffentliche Kampagnen wie die sogenannte Emmely-Kampagne waren unbekannt. Die "höchstrichterliche Rechtsprechung" galt als völlig "unumstritten". Jeder Anwalt, der versucht hätte, gegen diese zu argumentieren, wäre der "Prozesshanselei" bezichtigt worden. Doch eine solche Situation galt auch etwa Ende der 70iger Jahre, als die IG Metall sich mit der Frage auseinandersetzen musste, ob sie flächendeckende Aussperrungen als von der "höchstrichterlichen Rechtsprechung akzeptiert" hinnehmen oder aber  a u c h  rechtlich bekämpfen wollte. Sie tat dies in einer Reihe von Massenklagen und zwar - begleitet von einer ähnlichen Kampagne wie der Emmely-Kampagne - mit erheblichen Erfolgen. Seitdem war die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum Arbeitskampf wiederholt erheblichen Veränderungen unterworfen. Heute gilt mehr denn je, was ich selbst in einem Grundsatzbeitrag in dem von Heinrich Hannover herausgegebenen und unter anderem von Wolfgang Abendroth bestückten Band "Die Linke" im Jahre 1980 schrieb[2]: "Notwendig ist die Herstellung einer politischen und wissenschaftlich begründeten Einheit von demokratischer Rechtspolitik und Rechtstrategie im prozessualen und außerprozessualen Bereich."[3] Eine solche Einheit setzt eine politisch verstandene Prozessstrategie ebenso viel voraus wie eine an demokratischen Grundrechten orientierte Rechtspolitik. [4] Dass der zentrale verfassensrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit jahrzehntelang im Bereich des Arbeitsrechts, vor allem des Individualarbeitsrechts, nicht zur Geltung kam, ist nicht zuletzt auch ein Versagen insbesondere gewerkschaftlicher Rechtsstrategien (wenn es diese überhaupt gegeben hat).
Dass mit der Emmely-Kampagne dieses zentrale gesetzgeberische Anliegen (ein Anliegen des Verfassungsgebers!) wieder in das Zentrum auch der individualrechtlichen Argumentation rückt, zeigt, dass es bei einer solchen Einheit vor allem auf die Besinnung gesetzgeberischer Errungenschaften ankommt und zugleich der Anmaßung einer ständig ausufernden sogenannten "richterlichen Rechtsfortbildung" Grenzen entgegen gesetzt werden. Einzelne Kampagnen (vor allem solche, die nur anhand eines einzelnen Falles aufgezogen werden) können dieses auf Dauer und vor allem auch nachhaltig nicht bewirken.


Der Autor:
Dr. Rolf Geffken, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Fachautor und Referent. Sprecher der Landesarbeitsgemeinschaft Inneres & Recht des niedersächsischen Landesverbandes der Partei DIE LINKE.


Anmerkungen

[1] Hierzu: Junge Welt vom 28.7.2009, S. 3: "Ohne Tünche", sowie ungekürzt: Geffken, Die Kampagne Emmely - Klassenjustiz schlägt zurück! in:
http://www.labournet.de/branchen/dienstleistung/eh/emmely_geffken.pdf

[2] Geffken, Die Linke und das Recht, in: Die Linke (Hrsg. Gremliza / Hannover) VSA Hamburg 1980, S. 97 ff

[3] Ebenda, S. 105

[4] Grundlegend: Dialektik von Arbeiterkampf und Rechtsbildung, in: Geffken, Reines Recht als Unrecht - Zur Dialektik von Praxis und Recht, Hamburg 1984, S. 31 ff.


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Quelle:
© 2009 Dr. Rolf Geffken, August 2009
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Internet: www.DrGeffken.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. August 2009