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GRUNDGESETZ/113: Religionsverfassungsrecht mit Zukunft! (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2011

Religionsverfassungsrecht mit Zukunft!

Von Hans Michael Heinig


Der hohen gesellschaftlichen Dynamik stehen die fortdauernden rechtlichen Grundbestimmungen zu Religionen und Kirchen gegenüber. Von vielen Seiten wird daher nach Reformen im Religionsverfassungsrecht gerufen. Wo ist Veränderung sinnvoll, wo gelten aber tragende Grundprinzipien auch weiter?


Seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts können wir einen tiefgreifenden Wandel im religiösen Leben und religiösen Bewusstsein in Deutschland beobachten. Experten sprechen von einem "Strukturwandel der Religion". Religion zeichnet sich heute durch höheren Individualismus und Pluralismus aus, zugleich ist die Gesellschaft säkularer geworden. Ein gutes Viertel der Bevölkerung ist inzwischen bewusst konfessionsfrei. Ca. 4 Millionen Muslime leben in Deutschland. Die Zahl der Juden hierzulande hat sich seit 1989 verdreifacht. Parallel dazu erodieren die beiden Volkskirchen durch Mitgliederschwund. Sie werden absehbar nur noch - aber immerhin - die Hälfte der Bevölkerung in religiöser Hinsicht organisieren.

Die hohe gesellschaftliche Dynamik der letzten Jahrzehnte wird kontrastiert durch fortdauernde rechtliche Grundbestimmungen zu Religionen und Kirchen. Die Gesellschaft verändert sich, das Verfassungsrecht aber bleibt gleich. Die Wurzeln des deutschen Staatskirchenrechts reichen weit zurück, bis hin zur Reformation. Viele Institute und Begriffe des Religionsrechts stehen in einer langen Tradition. In Wissenschaft und Politik wurde deshalb in den letzten Jahren vermehrt die Frage gestellt, ob nicht angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen auch rechtspolitischer Handlungsbedarf bestehe.

Man kann nicht ernsthaft bezweifeln, dass sich die religionsrechtliche Praxis den gewandelten Verhältnissen anpassen musste und muss. Solche Prozesse sind im Gange. Die Politik reagiert durch Gesetzgebung - etwa zum Kopftuch einer Lehrerin, zu Modellversuchen für islamischen Religionsunterricht - und durch symbolische Gesten wie der Islamkonferenz. Die Rechtsprechung der obersten Gerichte entwickelt sich fort, z.B. zur Reichweite und zu den Grenzen der Religionsfreiheit, zum Selbstschutz der Verfassung in der Kooperation von Staat und Religionsgemeinschaften oder zu Organisationsanforderungen für Religionen, die keine Kirche kennen. Die wissenschaftliche Reflexion schließlich bewirkte einen Wechsel der orientierungsgebenden Paradigmen - vom kirchenzentrierten Staatskirchenrecht zum pluralistisch-paritätischen Religionsverfassungsrecht. Infolge dieser Veränderungen unterscheidet sich das heutige Religionsrecht von dem der 60er oder 80er Jahre, obwohl das Grundgesetz selbst nicht geändert wurde.


Vorausschauende Verfassungsgebung

Ein grundlegender Systemwechsel ist dagegen nicht geboten. Denn das geltende Religionsverfassungsrecht ist traditionsgesättigt, aber nicht von gestern. Es hat auch unter gewandelten sozialen Verhältnissen Zukunft, weil es vom Verfassungsgeber bewusst auf (damals noch potenzielle) religiöse Pluralität hin entwickelt wurde. Diese moderne Dimension des Staatskirchenrechts war eine Zeitlang in Vergessenheit geraten. Die auch heute noch geltenden Religionsbestimmungen der Weimarer Reichsverfassung wurden von Carl Schmitt nach 1918 abwertend als "dilatorischer Formelkompromiss" bezeichnet, ein Kompromiss, der nichts tauge, weil er fortwährende Gegensätze nur verschleiere, aber nicht überbrücke. Die Einschätzung war grundfalsch. Tatsächlich handelte es sich um eine ausgesprochen kluge Kombination tragender Grundprinzipien.

Die Religionen sollten als wichtige kulturelle und soziale Kräfte durch die neue Verfassungsordnung gewürdigt und in ihrer freiheitlichen Entfaltung nicht gehindert werden. Die traditionelle körperschaftliche Rechtsform der Kirchen und Synagogengemeinden sollte deshalb fortbestehen. Über das Recht der Besteuerung ihrer Mitglieder sollte ihnen eine auskömmliche Finanzierung gesichert werden. Zugleich sollten diese Rechte aber auch anderen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften - man dachte etwa an Quäker oder Unitarier - offenstehen. Alle Religionen seien fortan "gleicher Ehre", hieß es in der Nationalversammlung treffend. Staatskirchentum und landesherrliches Kirchenregiment wurden abgeschafft, die Kirchen damit aus staatlicher Bevormundung und Instrumentalisierung entlassen. Die damit einhergehende Trennung von Staat und Kirche sollte jedoch bewusst "schiedlich-friedlich" erfolgen, wie ein sozialdemokratischer Abgeordneter damals betonte.


Leistungsfähigkeit der Grundentscheidungen

Die Grundentscheidungen der Weimarer Rechtsverfassung sind auch heute noch tragfähig. Drei Charakteristika sind herauszustreichen:

Charakteristikum 1: Das Staatskirchenrecht des Grundgesetzes enthält eine klare Absage an jede Form der Hierarchisierung zwischen unterschiedlichen Religionen. Die kantische Idee einer jeder Vergesellschaftung vorgängigen gleichen Freiheit liegt nicht nur dem Grundrecht der Religionsfreiheit, sondern auch den Artikeln der Weimarer Reichsverfassung zugrunde. Unser Religionsverfassungsrecht kennt keinen christlich-abendländischen Kulturvorbehalt und kein Kirchenprivileg. Es trägt keine "Kulturschuld" (Hans Blumenberg) gegenüber dem Christentum ab, weshalb das Aufkommen neuer Religionen die Grundlagen des religionsrechtlichen Systems auch nicht in Frage stellt.

Charakteristikum 2: Das Staatskirchenrecht des Grundgesetzes ist offen für die Religionen seiner Bürger und verhindert gerade auf diese Weise, dass der Staat selbst religiös oder weltanschaulich wird. Es enthält eine klare Absage an eine Verdrängung der Religion aus dem staatlich verfassten öffentlichen Raum. Diese Offenheit des Staates zeigt sich insbesondere beim Religionsunterricht und bei universitär betriebener Theologie. Die Einladung der Verfassung an die Religionsgemeinschaften, bei der wichtigen Aufgabe der Vermittlung religiöser Bildung unter der rechtlichen Aufsicht des Staates mitzuwirken, ist ein wesentliches Moment einer freiheitlichen Schulorganisation. Religionsunterricht und theologische Fakultäten zeigen zudem anschaulich, dass und wie die Öffentlichkeit der Religion auf die jeweiligen Religionskulturen zurückwirkt. Universitär betriebene Theologie, die mit anderen Disziplinen im Gespräch steht, bringt aufgeklärten geistlichen Nachwuchs hervor und erzeugt Modernisierungsdruck. Über Öffentlichkeit kann der religiös-weltanschaulich neutrale Staat aktiv die besten Seiten der Religion stimulieren und sozialdestruktive Tendenzen hemmen.

Charakteristikum 3: Das Religionsverfassungsrecht des Grundgesetzes lässt die historischen Prägekräfte, die zu seiner Entstehung führten, durchscheinen und wird so zu einem Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses unserer Gesellschaft. Den Kirchen gewährt es mit Rücksicht auf ihre geschichtliche Bedeutung und ihren anhaltend hohen Organisationsgrad in der Bevölkerung rechtlichen Schutz und ermöglicht ihnen eine ihren organisatorischen Bedürfnissen und theologischen Selbstverständnissen entgegenkommende Entfaltung, ohne deshalb in Diskriminierung anderer Religionen umzuschlagen: Ein Arrangement, das nicht unerheblich zur Ausbildung einer ausgeprägten Verfassungsloyalität der beiden großen Kirchen nach 1949 beigetragen hat.


Und der Laizismus?

Der Laizismus weist demgegenüber eine bedenklich freiheitsrechtliche Unterbilanz auf; er beschneidet in erheblicher Weise die Freiheit, gemäß den eigenen religiösen Überzeugungen zu leben. Dieser religionsfeindliche Überschuss ist selbst weltanschaulich grundiert. Damit ist der Laizismus gerade nicht "neutral", wie seine Befürworter behaupten. Laizismus desintegriert durch pauschale Ausgrenzung, statt primär auf Integration durch gleichberechtigte Offenheit, Toleranz und wechselseitigen Respekt zu setzen. Die in der Gesellschaft präsenten religiösen Konflikte werden durch den Laizismus verdrängt, aber nicht produktiv bearbeitet.

Deshalb bildet das dem Grundgesetz eigene Modell einer freiheitlich-paritätischen Offenheit und Kooperation die modernere, elaboriertere und leistungsfähigere Alternative. Veränderte gesellschaftliche Verhältnisse stellen die Religionspolitik und das Religionsrecht vor Herausforderungen. Doch moderne Religionspolitik unterstützt nicht, wer die Systemfrage aufwirft, sondern wer für Einzelfragen, die das Leben der Menschen wirklich berühren, überzeugende Lösungen entwickelt. Das Gebot heutiger Religionspolitik ist Arbeit am Detail, nicht ideologischer Großkampf.


Hans Michael Heinig (* 1971) ist Rechts-, Geschichts- und Sozialwissenschaftler und seit 2008 Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insb. Kirchen- und Staatskirchenrecht an der Universität Göttingen und Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der EKD.
(ls.heinig@jura.uni-goettingen.de)


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2011, S. 32-35
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Mai 2011