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INTERNATIONAL/151: Brasilien - Ethnozid-Vorwurf im Zusammenhang mit Staudammprojekt Belo Monte (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 18. Juli 2015

Brasilien: Ethnozid-Vorwurf im Zusammenhang mit Staudammprojekt Belo Monte

von Mario Osava


Bild: © Mario Osava/IPS

Teil des für die Turbinen vorgesehenen Teils des Wasserkraftwerks Belo Monte
Bild: © Mario Osava/IPS

ALTAMIRA, BRASILIEN (IPS) - Der Ethnozid-Vorwurf im Zusammenhang mit dem im brasilianischen Amazonas-Regenwald entstehenden Wasserkraftwerk 'Belo Monte' hat den Blick auf eine Reihe tiefliegender Aspekte der Streitigkeiten und Konflikte gelenkt, die von Megastaudamm-Plänen und -Projekten ausgelöst werden.

Wie Thais Santi, Richterin bei der Bundesstaatsanwaltschaft des südamerikanischen Landes, erklärte, wird man in den nächsten Wochen rechtliche Schritte gegen die Belo-Monte-Betreiberfirma 'Norte Energía' einleiten. Das Unternehmen wird beschuldigt, dem Widerstand indigener Wasserkraftwerk-Gegner mit Initiativen begegnet zu sein, die eine Ethnozid-Klage rechtfertigten.

"Das wird auf jeden Fall ein innovativer Rechtsstreit werden", kommentierte der Guaraní Wilson Matos da Silva, ein im westbrasilianischen Dourados praktizierender Anwalt, das anstehende Verfahren. Wie er erklärte, ist in seinem Land der Straftatbestand des Ethnozids bislang inexistent.

Unter dem Begriff versteht man die Vernichtung einer Sprache, Religion oder Kultur, ohne dabei die Sprecher, Gläubigen oder Kulturträger - im Gegensatz zum Völkermord (Genozid) - physisch zu vernichten. Der Genozid wird in Brasilien durch ein Gesetz aus dem Jahr 1956 geregelt.

Der Vorwurf des Ethnozids wird bereits seit einiger Zeit von Anthropologen und Juristen auf internationalen Foren diskutiert. Der neue Vorstoß in Brasilien sei in dieser Hinsicht eine lobenswerte Initiative, betonte Matos da Silva im Telefongespräch mit IPS.

Belo Monte ist Zielscheibe zahlreicher Beschwerden, Klagen und Forderungen nach einer Einstellung der Bauarbeiten. Dem Betreiberkonsortium wird vorgeworfen, sich nicht an die Auflagen der staatlichen Umweltbehörde inklusive Entschädigungen für diejenigen gehalten zu haben, die dem Komplex weichen müssen. Das Kraftwerk am Rio Xingú, das 11.233 Megawatt Strom generieren soll, ist nach seiner Fertigstellung das drittgrößte der Welt.


22 Gerichtsverfahren anhängig

Bisher ist es der Staatsanwaltschaft trotz 22 laufender Gerichtsverfahren nicht gelungen, die Einstellung der Bauarbeiten zu erreichen. Wohl aber konnte die Betreiberfirma zur Einhaltung einiger Umweltauflagen genötigt werden. So musste sie der indigenen Gemeinde Juruna nach Protesten gegen die durch die Bauarbeiten entstandene Lärmbelästigung ein Stück Land als Pufferzone dazukaufen.

Wie das Sozioökologische Institut (ISA) in einem Bericht vom 29. Juni erklärte, sind die Voraussetzungen nicht gegeben, um dem Konzern die Durchführung der letzten Projektphase - die Flutung des Stausees und die Inbetriebnahme des Kraftwerks Anfang 2016 - zu erlauben.

Der unabhängigen Organisation zufolge, die im Xingú-Becken aktiv ist, blieben viele der 40 Auflagen, die im Vorfeld der Ausschreibung im Jahre 2010 festlegt worden waren, bisher unerfüllt. Ebenso wenig habe sich die Betreiberfirma an die 31 Bedingungen gehalten, die indigene Rechte beträfen. Dazu gehöre die Verpflichtung, den Schutz indigener Territorien zu gewährleisten. Wie sich aber herausgestellt habe, hätten die Bauarbeiten am Staudamm zu einer Zunahme des illegalen Holzeinschlags und der Wilderei durch Außenstehende geführt.


Bild: © Mario Osava/IPS

Schule der indigenen Ortschaft Paquiçamba am Fluss Xingú im brasilianischen Amazonasgebiet
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Norte Energía hingegen wendet ein, 68 Millionen US-Dollar in Maßnahmen investiert zu haben, von denen 3.000 Menschen in 34 Dörfern und elf indigenen Territorien im Einzugsgebiet des Staudamms profitieren. So seien bis April 2015 711 neue Wohneinheiten, 578 Motorboote, 42 Landfahrzeuge, 98 Stromgeneratoren und 2,1 Millionen Liter Treibstoffe und Schmiermittel bereitgestellt worden. Außerdem habe man im Rahmen eines indigenen Bildungsprogramms Lehrer fortgebildet.

"Die indigenen Gemeinden sind unzufrieden, weil das Projekt nur teilweise umgesetzt wurde. Von den 34 versprochenen Basisgesundheitszentren ist bisher keines in Betrieb", sagte Francisco Brasil de Moraes, stellvertretender Koordinator der staatlichen Indigenenbehörde FUNAI. Die versprochene Finanzierung von Projekten zur Ernährungs- und Einkommenssicherung sei ebenso ausgeblieben wie die zugesagte technische Hilfe für Kleinbauern.

Außerdem seien nur einige der 34 geplanten Maniokmehlmühlen gebaut und ein Programm zum Schutz der indigenen Gebiete, das die Einrichtung von Operationszentren und Kontrolltürmen vorsieht, nicht umgesetzt worden, so Moraes. "FUNAI fehlt es an den finanziellen Mitteln, um die schwierige Aufgabe, die Territorien zu verwalten, zu schultern", erklärte er.

Doch das, was Norte Energía den Vorwurf des Ethnozids eingebracht hat, bezieht sich auf Maßnahmen, die noch vor dem verzögerten Start aller laufenden Projekte durchgeführt wurden und mit dem sogenannten Basisumweltplan - Indigene Komponente ('Plan Básico Ambiental- Componente Indígena') zusammenhängen.


Kritik an 'Nothilfeplan'

24 Monate lang, bis September 2012, hatte das Konsortium einen 'Nothilfeplan' umgesetzt, der die 34 Dörfer mit angeblich lebenswichtigen Gütern im Wert von 9.600 Dollar pro Monat und Dorf versorgte. Die Folge war laut ISA ein erhöhter Konsum weiterverarbeiteter Nahrungsmittel und Getränke wie Limonaden, die die Mangelernährung von Kindern verstärkte und die Gesundheit und Ernährungssicherheit der indigenen Gemeinschaften unterminierte, weil diese ihre landwirtschaftlichen Aktivitäten, Fischerei und Jagd infolge des Programms vernachlässigten.

"Norte Energía ist mit der indigenen Bevölkerung eine Beziehung eingegangen, die auf die Vereinnahmung der erklärten Gegner des Kraftwerks abzielte und die indigenen Führer ermunterte, am Firmensitz in der Stadt Altamira zu erscheinen, um immer mehr Dinge einzufordern", erläuterte der ISA-Vizekoordinator Marcelo Salazar.

Zudem wurden Dorfgemeinschaften gespalten und die Autorität lokaler Führer geschwächt, ist aus dem Büro der Staatsanwaltschaft zu hören.


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Die indigene Fischerin Socorro Arara
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Doch aus einer Stellungnahme von Norte Energía geht hervor, dass der sogenannte Notfallplan eine Idee von FUNAI gewesen sei, die auch die monatlichen Beträge in Höhe von 30.000 Real festgelegt habe. "Die Gelder wurden in die Ethno-Entwicklung inklusive den Kauf von landwirtschaftlichen Gerätschaften, den Bau von Bootsanlegern und die Verbesserung der Zubringerstraßen zu den Dörfern über eine Gesamtlänge von 470 Kilometern investiert", heißt es. Das Unternehmen habe zudem 23 neue FUNAI-Arbeitsstellen finanziert.


"Nicht nachhaltiges Firmendenken"

"Die Anschaffung von Booten und die Finanzierung von Infrastrukturmaßnahmen reflektieren ein Firmendenken, dass sich nicht mit der Vorstellung einer nachhaltigen Entwicklung verträgt", meinte Sonia Magalhães, Soziologieprofessorin an der Föderalen Universität von Pará. Sie spricht von einem Angriff auf eine komplexe und dynamische Indigenen-Kultur mit dem Ziel, diese zu zerstören. "Der Xingú ist Teil einer uns unverständlichen Weltanschauung der Juruna und Arara. Es besteht ein Bezug zu Zeit, Raum und Heiligen, die von Belo Monte bedroht werden", sagte sie.

Unbeeindruckt von der Debatte ist Giliard Juruna, Vorsteher einer 16-Familien-Siedlung, nach Altamira gereist, um neue Forderungen zu stellen. "Bisher haben wir Schnellboote, einen Pickup und 15 Häuser erhalten", berichtet er. Doch das sei sehr wenig verglichen mit dem, was möglich sei.

"Wir haben weitere Schnellboote beantragt, mit denen wir zum Fischen herausfahren wollen - auch wenn das Flusswasser brackig ist. Außerdem wünschen wir uns Sanitäranlagen und für unsere Schulen zweisprachige Lehrer", meinte er und fügte hinzu, das man sich zudem um die Finanzierung eines Nachhaltigkeitsprojekts bemüht, das die Zucht von Fischen, den Anbau von Kakao und Maniok, die Einrichtung einer Maniokmehlmühle und den Kauf eines Lkws beinhalte.

"Für unsere Waren haben wir zwar Abnehmer, aber der Schiffstransport funktioniert nicht mehr", berichtete er. Das liege daran, dass ein Teil des Xingú-Wassers zur Stromgewinnung abgezweigt wird, wodurch sich die Wasserzuflussmenge für den Volta Grande oder Big Bend, an dem das Dorf liegt, verringert habe. (Ende/IPS/kb/18.07.2015)


Links:

http://www.ipsnews.net/2015/07/indigenous-people-in-brazils-amazon-crushed-by-the-belo-monte-dam/
http://www.ipsnoticias.net/2015/07/indigenas-brasilenos-doblegados-por-belo-monte/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 18. Juli 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juli 2015

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