Schattenblick → INFOPOOL → RECHT → FAKTEN


INTERNATIONAL/359: Kolonialrassismus vor Gericht (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 4. Mai 2023
german-foreign-policy.com

Kolonialrassismus vor Gericht

Herero- und Nama-Repräsentanten sowie UN-Sonderberichterstatter werfen Berlin vor, es verweigere Entschädigung für den Genozid in Südwestafrika unter Bezug auf kolonialrassistische Argumentationen.


BERLIN/WINDHOEK - Repräsentanten der Herero und Nama sowie mehrere UN-Sonderberichterstatter werfen der Bundesregierung den Bruch von UN-Konventionen sowie die Nutzung kolonialrassistischer Argumentationen vor. Auslöser für die Vorwürfe ist eine Gemeinsame Erklärung, auf die sich Deutschland und Namibia im Mai 2021 geeinigt haben; sie sieht vor, dass Berlin anstelle von Entschädigungen für den Genozid an den Herero und Nama lediglich Entwicklungshilfe in durchaus üblicher Höhe zahlt. Die Erklärung ist wegen unerwartet heftiger Proteste von Namibias Parlament noch nicht ratifiziert worden. Legitime Vertreter der Herero und Nama haben inzwischen Klage gegen sie vor Namibias High Court eingereicht. Zudem haben sieben Sonderberichterstatter, die der UN-Menschenrechtsrat eingesetzt hat, sich kürzlich in Berlin über sie beschwert. Die Bundesregierung müsse endlich mit den Organisationen der Opfernachfahren verhandeln und von der Rechtsposition Abstand nehmen, der Massenmord an den Herero und Nama könne rechtlich nicht als Genozid gewertet werden, da die Opfer nicht als "zivilisiert" gegolten hätten. Berlin, das sich einer "wertegeleiteten" Außenpolitik rühmt, schweigt dazu.

Verschleppen und tricksen

Die Auseinandersetzung um die Anerkennung des deutschen Genozids an den Herero und Nama und um die Leistung von Entschädigung dauert bereits seit den 1990er Jahren an. Die Nachfahren der Opfer setzten dabei zuerst auf Überzeugungsarbeit und auf Verhandlungen mit der Bundesrepublik, der Rechtsnachfolgerin des Täterstaates. Berlin wehrte das Anliegen der Herero und Nama über Jahre mit einer Mischung aus Verschleppen und billigen Tricks ab; so bat etwa 2004 die damalige Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul "im Sinne des gemeinsamen 'Vater unser' um Vergebung": Dies sollte dem Protest in Namibia den Wind aus den Segeln nehmen; zugleich sind religiöse Äußerungen nicht geeignet, Rechtsfolgen wie etwa die Pflicht zur Zahlung von Entschädigung nach sich zu ziehen.[1] Versuche der Herero und Nama, vor der US-Justiz Reparationen zu erstreiten, schlugen fehl: Ein US-Gericht sprach Deutschland im März 2019 "Staatenimmunität" zu.[2] Zuvor, im Jahr 2015, hatte die Bundesregierung in der Hoffnung, das aus ihrer Sicht lästige Thema aus der Welt schaffen zu können, Verhandlungen mit Namibia aufgenommen, die im Mai 2021 in die Unterzeichnung einer Gemeinsamen Erklärung mündeten. Gegen diese freilich erhob sich umgehend massiver Protest (german-foreign-policy.com berichtete [3]) - aus gutem Grund.

Berliner Ausflüchte

Zum einen hatte Berlin lediglich mit Namibias Regierung verhandelt und die legitimen Vertretungen der Opfernachfahren - die Ovaherero Traditional Authority (OTA) sowie die Nama Traditional Leaders Association (NTLA) - von den Verhandlungen ausgegrenzt. Beide waren deshalb nicht bereit, die Vereinbarung, die über ihren Kopf hin erzielt worden war, anzuerkennen. Hinzu kam, dass die Bundesregierung in dem Papier den Genozid nur "aus heutiger Sicht", nicht aber historisch und juristisch als solchen anerkennt. Die offizielle Berliner Rechtsposition lautet, die Völkermordkonvention aus dem Jahr 1948 dürfe nicht rückwirkend angewandt werden. Auf die Genfer Konvention von 1864 sowie auf die Haager Landkriegsordnung von 1899 jedoch könnten sich die Herero und Nama nicht berufen, da ihre Vorfahren nicht zu deren Vertragsstaaten gehört hätten. Ohnehin hätten die beiden Konventionen, so heißt es ergänzend, nach damals "herrschender Meinung" lediglich für "zivilisierte" Bevölkerungen gegolten und nicht für afrikanische Einwohner deutscher Kolonien.[4] Weil juristisch also kein Völkermord vorliege, zahle man keine Entschädigung, schlussfolgert die Bundesregierung. Sie erklärt sich lediglich zu Entwicklungszahlungen bereit - mit einem Gesamtwert von 1,1 Milliarden Euro, verteilt auf 30 Jahre.

Klage gegen Verzichtserklärung

Die Gemeinsame Erklärung, die von Namibias Parlament bislang aufgrund der unerwartet massiven Proteste nicht verabschiedet wurde, wird jetzt auf doppeltem Wege attackiert. Zum einen hat am 19. Januar der namibische Anwalt Patrick Kauta vor Namibias High Court Klage gegen sie eingereicht - im Namen der OTA, mehrerer Nama Traditional Authorities sowie des Parlamentsabgeordneten und Landlosenaktivisten Bernardus Swartbooi. Die Klage richtet sich formal gegen Namibias Regierung und Parlament. Sie knüpft unter anderem daran an, dass Artikel 20 der Erklärung den Verzicht auf jegliche künftige Forderung jenseits der 1,1 Milliarden Entwicklungshilfe vorsieht. Eine solche Zusage sei, urteilt Kauta, lediglich bei einer vorherigen Einbindung und Zustimmung des Parlaments zulässig. Diese aber sei nicht eingeholt worden. Vor allem jedoch kritisieren die Kläger, dass zur Verweigerung von Entschädigungszahlungen kolonialrassistische Begründungen genutzt werden: Der Bezug auf die Rechtsauffassung der Kolonialära, der zufolge die Herero und Nama damals nicht als "zivilisierte" Bevölkerungen gegolten hätten, reproduziere den Kolonialrassismus und dürfe keinen Bestand haben. Die Juristin Karina Theurer, die an der Berliner Humboldt-Universität lehrt und Kauta berät, weist darauf hin, dass in dem Prozess erstmals ein Gericht in einer ehemaligen Kolonie über Rassismus im internationalen Recht urteilen wird.[5]

Die UNO gegen Berlin

Zum anderen üben sieben Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen heftige Kritik an der Gemeinsamen Erklärung. Die Sonderberichterstatter, die vom UN-Menschenrechtsrat bestimmt wurden [6], hatten sich im Februar schriftlich an die Regierungen Deutschlands und Namibias gewandt und um Antwort auf ihre Einwände gebeten. Windhoek reagierte gar nicht; Berlin erklärte, die zum 12. April gesetzte Frist nicht einhalten zu können, sich jedoch spätestens am 8. Mai zu den Einwänden äußern zu wollen. Bislang ist keine weitere Reaktion seitens der Bundesregierung bekannt. Die UN-Sonderberichterstatter prangern zum einen an, dass die Verhandlungen zwischen Berlin und Windhoek unter Ausschluss der legitimen Vertretungen der Opfernachfahren geführt wurden; dies widerspreche der UN-Deklaration zu den Rechten indigener Völker. Die Deklaration wurde am 15. April 2021 vom Bundestag ratifiziert.[7] Des weiteren schließen sich die UN-Sonderberichterstatter der Kritik am Bezug auf kolonialrassistische Argumentationen an. Schließlich fordern sie die Bundesregierung auf, endlich juristisch Verantwortung für die deutschen Kolonialverbrechen zu übernehmen und reguläre Entschädigungen zu leisten. Indem sich die Gemeinsame Erklärung auf die Zusage von Entwicklungshilfe beschränke, gewähre sie genau dies nicht.[8]

Die Grundlagen westlichen Wohlstands

Die Bundesregierung ist trotz aller Proteste und Beschwerden nicht zum Einlenken bereit. Sie hat im August bekräftigt, sie halte an der Gemeinsamen Erklärung fest. Dem Wunsch der Regierung Namibias, den anhaltenden Protesten mit einem Zusatz zu der Erklärung den Wind aus den Segeln zu nehmen, entspricht sie bislang nicht. Als denkbar gilt, dass Windhoek sich zum Einlenken genötigt sehen könnte: Das finanziell schlecht ausgestattete Land kann auf die Entwicklungsgelder, die ihm die Gemeinsame Erklärung zusagt, kaum verzichten. Die Bundesregierung, die ihre Außenpolitik offiziell als "wertegeleitet" bewirbt und sich gern als Hüterin einer "regelbasierten Ordnung" präsentiert, würde damit nicht nur selbst eine UN-Deklaration brechen und sich zur Begründung ihrer Entschädigungsverweigerung auf offen kolonialrassistische Argumentationen stützen. Sie würde zudem Namibias Regierung nötigen, all dies anzuerkennen. Für Berlin steht dabei freilich viel auf dem Spiel. So führten deutsche Soldaten um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auch außerhalb des heutigen Namibias eine Reihe von Feldzügen durch, die genozidalen Charakter aufwiesen - etwa im heutigen Tansania [9] oder in China [10]. Zudem könnten Massenverbrechen weiterer Kolonialmächte vor Gericht landen. Damit würden die massenmörderischen Grundlagen des westlichen Wohlstands auf die Tagesordnung gesetzt - auch juristisch.


Anmerkungen:

[1] Wieczorek-Zeul bittet um Vergebung. tagesschau.de 14.08.2004.

[2] Felicia Jaspert: Setback for the descendants of the Nama and Ovaherero indigenous peoples. voelkerrechtsblog.org 08.05.2019.

[3] S. dazu Schweigegeld statt Entschädigung (II).
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9080

[4] Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste: Der Aufstand der Volksgruppen der Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika (1904-1908). Völkerrechtliche Implikationen und haftungsrechtliche Konsequenzen. WE 2-3000-112/16. Berlin 2016.

[5] Karina Theurer: Litigating Reparations. Will Namibia Be Setting Standards? voelkerrechtsblog.org 25.01.2023.

[6] Kritik an Namibia-Abkommen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 27.04.2023.

[7] Bundestag ratifiziert Konvention zu Rechten indigener Völker. bundestag.de 15.04.2023.

[8] Karina Theurer: Germany Has to Grant Reparations for Colonial Crimes. voelkerrechtsblog.org 02.05.2023.

[9] S. dazu Auf dem Weg zum Vernichtungskrieg (I),
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7246
Auf dem Weg zum Vernichtungskrieg (II)
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7250
und Meilensteine deutscher Erinnerung
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7599

[10] S. dazu Deutschlands pazifische Vergangenheit (I).
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8377

*

Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 5. Mai 2023

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang