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PROZESSE/007: Oury Jalloh - Im Zweifel für die Polizei (Grundrechtekomitee)


Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.
Stellungnahme vom 24. Februar 2012

Im Zweifel für die Polizei

von Wolf-Dieter Narr und Dirk Vogelskamp


Im Strafprozess um den Verbrennungstod Oury Jallohs im Polizeigewahrsam vor sieben Jahren hat die 1. große Strafkammer des Magdeburger Landgerichts am 16. Februar 2012 entschieden, kein neues Brandgutachten erstellen zu lassen. Damit hat sie bereits wenige Prozesstage vor der Urteilsverkündung weitreichende Festlegungen getroffen. Um die Institution Dessauer Polizei zu entlasten, hält das Gericht daran fest, der an Händen und Füßen gefesselte Oury Jalloh könne nur selbst das Feuer gelegt haben, obwohl für diese Annahme, die den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen allein zugrunde gelegen hatte, wenig spricht. In der Hauptverhandlung konnte sie nicht erhärtet werden. Rechtsstaatliche Kontrolle polizeilicher Gewaltpraxis hingegen hat folgenreich versagt. Nachfolgend die Erklärung des Komitees für Grundrechte und Demokratie:


Am 16. Februar 2012 hat die 1. Große Strafkammer den Antrag der Nebenklage abgelehnt, ein neues Brandgutachten erstellen zu lassen. Die Nebenklage erwartete über ein neues Brandgutachten weitere Erkenntnisse über Brandursache, Brandbeginn und Brandverlauf. Den bisherigen gutachterlichen Anordnungen des Brandversuchs lag allein eine Variante zugrunde, die die nicht verifizierte, lediglich polizeiinteressiert angenommene staatsanwaltliche Behauptung stützte, der an Händen und Füssen fixierte Oury Jalloh habe das Feuer selbst entzündet. Ein neues Brandgutachten hätte hingegen die Brandlegung durch Dritte, in diesem Fall durch diensthabende Polizisten, mit in Betracht ziehen können.

Die 1. Große Strafkammer des Magdeburger Landgerichts unter der Vorsitzenden Richterin Methling lehnte den Antrag mit der Begründung ab: Erstens sei das Ergebnis eines neuen Brandgutachtens für die gerichtliche Entscheidung, ob der Dienstgruppenleiter bei rechtzeitigem Reagieren im Rahmen der gerichtlich festgestellten Zeitspanne den brennenden Oury Jalloh hätte retten können, unerheblich, da es die vorfindlichen brandgutachterlichen Ergebnisse nicht ausschließen könne; zweitens werde selbst bei Brandlegung durch Dritte (diensthabende Polizeibeamte) der angeklagte Dienstgruppenleiter nicht entlastet; die angenommene Brandentstehung schließe drittens eine Brandlegung durch Dritte (diensthabende Polizeibeamte) nicht aus.

Da aber, so die Kammer, ein neues Brandgutachten allenfalls weitere Brandlegungsmöglichkeiten darlegen könne und die Feststellung, der Brand sei durch Dritte (diensthabende Polizeibeamte) gelegt worden, außerhalb der gutachterlichen Stellungnahme läge, gehe das Gericht "beim derzeitigen Stand der Beweisaufnahme und einer derzeitigen vorzunehmenden Gesamtwürdigung der erhobenen Beweise davon aus, dass der Brand nicht durch Dritte verursacht worden ist".

Schließlich erwägt die Kammer noch eine Reihe von Punkten, die einer verlässlichen Rekonstruktion des Brandgeschehens durch ein neues Brandgutachten entgegenstünden. Dass diese vielfach schon dem Gutachten entgegenstehen, das der Entscheidung selbst zugrunde liegt, tut der Kammer offensichtlich nichts zur Sache.

Wir halten dazu fest:

1. Die Kammerentscheidung bleibt konsequent im Rahmen der engen prozessualen Urteilsfindung. Das Gericht hat über die personale Verantwortung des angeklagten Dienstgruppenleiters zu befinden wie jedes andere Strafgericht. Die Möglichkeit, dass der Brand auch durch andere Polizeibeamte hätte gelegt worden sein können, ist deshalb für die forensische Entscheidungsgrundlage des Gerichts unerheblich. Insofern wäre der Beschluss der 1. Großen Strafkammer zumindest in diesem Punkt nachvollziehbar.

2. Gleiches gilt für seine Entscheidung, ein neues Brandgutachten abzulehnen. Darin drückt sich ein gerichtliches Dessinteresse an den Verhältnissen im Dessauer Polizeirevier aus, die zum Tod Oury Jallohs geführt haben. Zu diesen Verhältnissen sind vor allem zu zählen: Rassismus und Gewaltbereitschaft sowie Gleichgültigkeit und Indolenz gegenüber gesellschaftlich abgewerteten Personen wie Obdachlose und "Ausländer". Aus dem Beschluss spricht deshalb das mangelnde Aufklärungsinteresse all jener Begleitumstände, die Oury Jallohs Tod bewirkt haben, sowie alle nachfolgenden polizeilichen Ermittlungsprozeduren und -ergebnisse, die die Aufklärung der Todesumstände erheblich erschwerten, wenn nicht gar unmöglich machten. Exemplarisch sei das Verschwinden wichtiger, im Rahmen der Ermittlungen aufgezeichneter Videoaufnahmen vom Tatort genannt.

3. Trotz vieler Widersprüche, offener Fragen und zahlreicher Ungereimtheiten, die in der Hauptverhandlung zum Vorschein gekommen sind, meint das Gericht hingegen bereits zu diesem Zeitpunkt eine polizeientlastende Gesamtwürdigung der Beweisaufnahme vornehmen zu können. Sie kommt deshalb zu dem Schluss, Oury Jalloh könne nur selbst die feuerfeste Matratze entzündet haben - mit einem Feuerzeug, dessen Brandreste auf nicht eindeutig geklärter Weise in die Aservatenbehältnisse gekommen sind. Mit einem Feuerzeug wohlgemerkt, das den möglicherweise zweifachen Leibesvisitationen der Polizei entgangen sein müsste!

4. Dass ein neues Brandgutachten nicht eindeutig die Todesumstände hätte aufklären können, darin kann dem Kammerbeschluss gefolgt werden. Dennoch überzeugt die Würdigung der Beweisaufnahme des Gerichts nicht. Allein, dass nicht mit Gewissheit gesagt werden könne, wer den Brand entfacht habe, ließe sich plausibel schlussfolgern. Das Gericht hingegen geht weit darüber hinaus. Es entlastet in ihrem Beschluss ohne zwingenden Grund die Dessauer Polizei und alle übergeordneten Behörden, denn es muss sich in dieser Frage, wer das Feuer gelegt hat, für eine Urteilsfindung nicht festlegen, wie es doch selbst hervorhebt. Gleichwohl tut es das Gericht. Deshalb ist der ganze Beschluss fadenscheinig. Hätte das Gericht sich in dieser Frage nicht festgelegt, hätte der Beschluss verfahrensrechtlich hingenommen werden können. So aber wird das gerichtliche Interesse, die Polizei als Ganze zu schützen, offensichtlich.

Wir halten fest: Polizeibeamte als Brandstifter sollen erst gar nicht in den Horizont gerichtlicher Aufklärung des Geschehens rücken. Allein deshalb wird der Beweisantrag der Nebenklage zurückgewiesen. Im Zweifel für die Polizei. Viele Erkenntniszweifel sind erst auf Grundlage polizeilich und staatsanwaltschaftlich mangelnder Ermittlungen und Praxis sowie polizeilicher zweifelhafter Zeugenaussagen produziert worden. Dieselben werden nun vom Gericht als einsichtig gewürdigt - zuungunsten des verbrannten Oury Jallohs.

Aufgrund aller polizeilichen Zwangshandlungen, denen Oury Jalloh von seiner Festnahme bis zu seinem Tod widerrechtlich unterworfen war, lässt sich nur von einem polizeigemachten Tod sprechen. Andere Annahmen blieben widersinnig. Oury Jalloh war bis zu seinem Tod in der Gewalt der Polizei. Um diesem polizeilichen Gewaltzusammenhang gerichtlich auszuweichen, muss nicht nur individuelle Schuld festgestellt werden. Darüber hinaus ist polizeientlastend das Polizeiopfer zum Täter zu machen. Das Opfer soll das Tat-Feuer schließlich selbst entfacht habe. Nicht die Polizei, der Getötete ist schuldig.

Die Ablehnung des Antrags der Nebenklage ist vor allem insofern skandalös, als sie fadenscheinig begründet wird. Das Gericht hält an der polizeidiktierten, im Rahmen des allein auf Sachverständigengutachten beruhenden Gerichtsverfahren nicht zu verifizierenden Unterstellung fest, Oury Jaloh habe seinen Tod zündelnd mitverschuldet.

Die 1. Große Strafkammer des Magdeburger Landgerichts hat bereits jetzt die Chance versäumt, den polizeigemachten Tod Oury Jallohs zumindest als drängende Anfrage an die gesellschaftliche Kontrolle staatlichen Gewalthandels zu präsentieren. Die Frage, wer das Feuer mit tödlichem Ausgang entzündet hatte, lässt es nicht als nicht mehr rekonstruierbar offen. Vielmehr: es deckt diese bohrende Frage ab. Stattdessen schützt das Gericht, in dieser Hinsicht der ersten Instanz gleich, zuerst und primär Staat und Polizei. Kontrolle durch Gewaltenteilung versagt im rechtsstaatlichen Gewand.


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Quelle:
Stellungnahme vom 23. Februar 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Februar 2012