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SOZIALRECHT/061: Neue Rechtsgrundlagen der Kinder- und Jugendhilfe (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2013 - Nr. 101

Neue Rechtsgrundlagen der Kinder- und Jugendhilfe

Von Reinhard Joachim Wabnitz



Das Thema Recht nimmt im 14. Kinder- und Jugendbericht erstmals eine wichtige Stellung ein. Das SGB VIII stellt - nicht zuletzt aufgrund der Neuregelungen der letzten Jahre - ein präventives, modernes Sozialleistungsgesetz dar. Zu weiteren Verbesserungen könnten die Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz oder die Einrichtung von Schlichtungsstellen beitragen.


Anders als der 11. Kinder- und Jugendbericht (KJB) enthält der 14. KJB einen eigenständigen Teil C über die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe im Wandel. Bevor die Leistungen und andere Aufgaben im Einzelnen dargestellt werden, analysiert Kapitel 9 die Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe bereichsübergreifend, und zwar in den vier Strukturdimensionen Recht, Finanzen, Personal und Organisation.

Damit werden erstmals in einem Kinder- und Jugendbericht auch wesentliche neue Entwicklungen im Bereich der Rechtsgrundlagen für die Kinder- und Jugendhilfe dargestellt und interpretiert, und zwar im Verfassungsrecht, Familienrecht und insbesondere im Kinder- und Jugendhilferecht nach dem SGB VIII (siehe Lexikon) nebst dem ergänzenden Landesrecht. Dies ist auch erforderlich, da die Kinder- und Jugendhilfe als stark expandierendes Leistungsfeld aufs Engste mit dem Kinder- und Jugendhilferecht verbunden ist. Mitunter werden im Recht fachliche Entwicklungen gesetzgeberisch nachvollzogen und damit »kodifiziert«, häufig lösen aber auch umgekehrt rechtliche Neuregelungen fachliche Veränderungen, Innovationen und zusätzliche finanzielle Anstrengungen aus. In der Alltagspraxis sind die Fachlichkeit der Kinder- und Jugendhilfe und »ihr« Recht in vielen Arbeitsfeldern wechselseitig miteinverwoben, und sie bedingen und ergänzen sich in vielfältiger Art und Weise. Die Sachverständigenkommission für den 14. KJB misst deshalb der Strukturdimension Recht einen besonderen Stellenwert bei, und zwar sowohl bei der Analyse bisheriger Entwicklungen (Teil C) als auch bei der Formulierung von Empfehlungen (Teil D).

Das 1990/1991 in Kraft getretene SGB VIII ist seitdem durch 40 Änderungsgesetze weiter verbessert und ergänzt worden. Wichtige Neuerungen waren etwa die Einführung des Kindergartenrechtsanspruchs in den 1990er-Jahren, die Kindschaftsrechtsreform 1997/98 (unter anderem mit grundlegenden Neuregelungen des elterlichen Sorgerechts und der Gleichstellung von ehelichen und nichtehelichen Kindern), die Neuregelungen im Bereich der Entgeltfinanzierung 1999 (die insbesondere Heime und andere Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe betrafen) sowie die Reformgesetze seit Beginn des neuen Jahrhunderts: das Tagesbetreuungsausbaugesetz und das Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz im Jahr 2005, das Kinderförderungsgesetz (2008) zum Ausbau der Kindertagesbetreuung und das Bundeskinderschutzgesetz aus dem Jahr 2012 (dazu im Einzelnen Wabnitz 2009).


LEXIKON
 
Sozialgesetzbuch (SGB) Achtes Buch (VIII) Kinder- und Jugendhilfe

Das SGB VIII enthält die wichtigsten Rechtsgrundlagen für die Kinder- und Jugendhilfe. In § 1 heißt es: (1) Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. (2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. (3) Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des Rechts nach Absatz 1 insbesondere junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen, Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung beraten und unterstützen, Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen und dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen.
INFOKASTEN Ende

Moderne Gesetze stärken die Kinder- und Bürgerrechte

Aufgrund dieser Veränderungen kommt die Sachverständigenkommission für den 14. KJB zu dem Schluss, dass das SGB VIII spätestens seit Beginn des 21. Jahrhunderts als ein modernes, präventiv ausgerichtetes Leistungsgesetz in der Fachöffentlichkeit breit akzeptiert ist. Das SGB VIII habe sich nachhaltig bewährt und habe - nicht zuletzt auf Grund der Statuierung von individuellen Rechtsansprüchen (Wabnitz 2005) - im Unterschied zum Jugendwohlfahrtsgesetz von 1961 den Stand eines modernen Sozialleistungsgesetzes erreicht. Bei Inkrafttreten des SGB VIII, so der 14. KJB, bestanden zehn explizite (Rechts-) Ansprüche, seit dem Jahr 2012 sind es doppelt so viele. Bereits damit geht eine weitere Zunahme öffentlicher Verantwortung einher. Zugleich sind damit aber auch Kinder- und Bürgerrechte gestärkt und Chancen für die Wahrnehmung von privater Verantwortung erweitert worden. Die gekennzeichneten Entwicklungen spiegeln insgesamt eindrucksvoll wider, in welch umfassender Weise das Ausmaß an öffentlicher Verantwortung für ein gelingendes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen aufgrund von Bundesgesetzgebung in den vergangenen 20 Jahren zugenommen hat.

Gleichwohl werden in Teil D des 14. KJB (»Wege zu einer aktiven Gestaltung des Aufwachsens«) Vorschläge für weitere Rechtsänderungen unterbreitet, unter anderem in folgender Hinsicht: eine Schärfung der Gesetzgebungskompetenz des Bundes (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 sowie Art. 72 Abs. 2 GG), ein Abbau von »Kooperationsverboten« im Bildungsbereich sowie eine Harmonisierung der wesentlichen Rahmenbedingungen für das Schulwesen, um die dort bestehenden erheblichen Unterschiede in den 16 Bundesländern und die damit verbundenen Ungerechtigkeiten abzubauen und den Schulwechsel über Landesgrenzen hinaus zu erleichtern. Ein weiterer Vorschlag ist, die Schnittstellen zwischen dem SGB VIII und anderen Gesetzen zu harmonisieren mit dem Ziel, die Kooperation zu verbessern und Kooperationsverpflichtungen auch außerhalb des SGB VIII zu verankern, vor allem in Bezug auf Schule, Ausbildung und Arbeitsmarkt sowie Gesundheitswesen. Darüber hinaus fordert der 14. KJB die Zusammenführung der Eingliederungshilfe für alle körperlich, seelisch und geistig behinderten jungen Menschen im SGB VIII (die sogenannte große Lösung) und die schrittweise Verbesserung der Inklusion. Außerdem sollten die Rechte der Kinder gestärkt werden, insbesondere durch die Einfügung von Kinderrechten in das Grundgesetz. Die Sachverständigenkommission für den 14. KJB hat sich mit dieser Frage besonders intensiv auseinandergesetzt und die für und gegen eine Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz sprechenden Argumente sorgfältig abgewogen. Der 14. KJB spricht sich im Endeffekt aus rechtlichen ebenso wie aus kinderpolitischen Gründen für die Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz aus, und zwar vorrangig im Zusammenhang mit Artikel 2 GG (Persönlichkeitsrechte), um nicht (wie im Falle einer Ausbringung im Zusammenhang mit Artikel 6 GG) das Verhältnis von Elternrechten, Kinderrechten und Schutzpflichten des Staates zu verkomplizieren. Weitere Vorschläge sind der Aufbau von Beratungs- und Schlichtungsstellen (Ombudsschaften) sowie die Entwicklung eines breit angelegten Kinder- und Jugendgesetzbuchs. Laut dem 14. KJB sollten darin zunächst diejenigen Gesetze zusammengeführt werden, die inhaltlich »verwandt« sind, also das SGB VIII, das Adoptionsvermittlungsgesetz, das Unterhaltsvorschussgesetz, das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz, das Jugendschutzgesetz und das Jugendfreiwilligendienstegesetz. In einem zweiten Schritt könnten das Bundesausbildungsförderungsgesetz und das Berufsbildungsgesetz, in einem dritten das Jugendgerichtsgesetz folgen, in weiteren Schritten möglicherweise weitere Gesetze in Bundeskompetenz beziehungsweise Teile von solchen. Die einschlägigen Gesetze würden dadurch zunächst für junge Menschen umfassend sichtbar und im Zusammenhang verständlich. Insbesondere müsste ein solches Gesetzeswerk primär aus der Perspektive von jungen Menschen und von deren Interessenlagen her konzipiert werden. Durch die Neuerungen würde schließlich auch ein wichtiger Beitrag in Richtung stärker gebündelter Wahrnehmung von öffentlicher Verantwortung für das Aufwachsen geleistet werden - ganz im Sinne einer einheitlichen, zusammenhängenden und von den jungen Menschen her gedachten und konzipierten Politik des Aufwachsens (Rauschenbach 2009).


Der Vorschlag, Kinderrechte in das Grundgesetz aufzunehmen, ist umstritten

Einige Vorschläge der Sachverständigenkommission zur Fortentwicklung der rechtlichen Grundlagen der Kinder- und Jugendhilfe kommen aktuellen Überlegungen in Fachpraxis und Politik nahe. Auch dort wird gefordert, in der nächsten Legislaturperiode des Deutschen Bundestages die »große Lösung« mit einer einheitlichen Zuständigkeit im SGB VIII für alle behinderten jungen Menschen zu realisieren. Im Unterschied dazu ist »Kinderrechte ins Grundgesetz« eine seit Beginn der 1990er-Jahre immer wieder vorgetragene, wenn auch nicht unstrittige Forderung - auf nationaler und internationaler Ebene, bis hin zu jüngsten Initiativen im fachpolitischen Raum (Aktionsbündnis Kinderrechte - Deutsches Kinderhilfswerk, Deutscher Kinderschutzbund, UNICEF Deutschland, in Kooperation mit der Deutschen Liga für das Kind, vom Herbst 2012). Andere Vorschläge, zum Beispiel die Einrichtung von Beratungs- und Schlichtungsstellen (Ombudsschaften) bedürfen noch der vertieften Diskussion. Mit Blick auf die Schaffung eines umfassend angelegten Kinder- und Jugendgesetzbuches, die zweifellos eine langfristige Aufgabe darstellt, bedarf es noch sehr viel Überzeugungsarbeit und eines langen Atems. Und schließlich: Sollte es den Ländern nicht gelingen, in nächster Zeit auf dem Wege des kooperativen Föderalismus zu einer Harmonisierung der wesentlichen Grundlagen und Rahmenbedingungen für das Schulwesen zu gelangen, wird die Forderung nach Bundeskompetenzen auch im Schulwesen nicht mehr zu überhören sein.

Schließlich besteht weiterer rechtlicher Änderungsbedarf mit Blick auf Aspekte, die im 14. KJB nicht angesprochen werden: etwa bei der Zuordnung des Rechtsanspruchs auf Hilfe zur Erziehung gemäß § 27 Abs. 1 SGB VIII zu den Kindern und Jugendlichen selbst und nicht (nur) zu den Personensorgeberechtigten. Wünschenswert wären zudem zusätzliche Rechtsansprüche etwa in den Feldern »Förderung der Erziehung in der Familie« sowie in der Jugendsozialarbeit. Außerdem sollte, wie bei der Entgeltfinanzierung, auch im Bereich der Subventionsfinanzierung nach § 74 Abs. 1 SGB VIII ein Rechtsanspruch von Trägern der freien Jugendhilfe auf Förderung dem Grunde nach eingeführt werden. Dadurch könnte eine nachhaltige Stärkung der freien Jugendhilfe gelingen, die für das Gesamtsystem der Kinder- und Jugendhilfe ebenso wie des Kinder- und Jugendhilferechts elementar wichtig und unverzichtbar ist. Und damit schließt sich der Kreis: Kinder- und Jugendhilfe und Kinder- und Jugendhilferecht sind auf das Engste miteinander verbunden und ineinander verwoben - und das wird auch in Zukunft so sein.


DER AUTOR

Prof. Dr. jur. Dr. phil. Reinhard Joachim Wabnitz, Ministerialdirektor a. D., war Vorsitzender der Sachverständigenkommission für den 14. Kinder- und Jugendbericht. Er ist Professor für Rechtswissenschaft, insbesondere Familien- und Jugendhilferecht, am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule RheinMain in Wiesbaden.
Kontakt: Reinhard.Wabnitz@hs-rm.de


LITERATUR

DEUTSCHER BUNDESTAG (2013): Der 14. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen und Bestrebungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Deutscher Bundestag, Drucksache 17/12200. Im Internet verfügbar unter
http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/122/1712200.pdf
(Zugriff: 27.2.2013)

RAUSCHENBACH, THOMAS (2009): Zukunftschance Bildung - Familie, Jugendhilfe und Schule in neuer Allianz. Weinheim/München

WABNITZ, REINHARD JOACHIM (2005): Rechtsansprüche gegenüber Trägern der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII). Berlin

WABNITZ, REINHARD JOACHIM (2009a): Vom KJHG zum Kinderförderungsgesetz. Die Geschichte des Achten Buches Sozialgesetzbuch von 1991 bis 2008. Berlin

DJI Impulse 1/2013 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2013 - Nr. 101, S. 10-12
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DJI Impulse erscheint viermal im Jahr.
Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
abonniert oder unter vontz@dji.de schriftlich angefordert werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Juli 2013