Schattenblick →INFOPOOL →RECHT → FAKTEN

STRAFRECHT/356: Machtzuwachs und Kontrollverlust (H1 - Uni Bielefeld)


H1 - Das Magazin der Universität Bielefeld - Ausgabe 04.2008

Machtzuwachs und Kontrollverlust
Durch die westfälisch-lippische Universitätsgesellschaft ausgezeichnete Dissertation

Von Michael Böddeker


Vorratsdatenspeicherung, Online-Durchsuchung von Computern, Videoüberwachung, Rasterfahndung - die Polizei hat bei ihren Ermittlungen heutzutage mehr Möglichkeiten als je zuvor. Doch werden ihre Ermittlungsbefugnisse noch ausreichend kontrolliert? Dr. Silke Hüls von der Fakultät für Rechtswissenschaft hat sich in ihrer ausgezeichneten Dissertation ("Polizeiliche und staatsanwaltschaftliche Ermittlungstätigkeit / Machtzuwachs und Kontrollverlust") mit dem Thema beschäftigt.


Blickt man zurück in die Geschichte des Rechtswesens, ist unser moderner Strafprozess ein gewaltiger Fortschritt, findet Silke Hüls. "Zu Zeiten der Inquisition gab es eine Machthäufung beim Richter. Er war Staatsanwalt und Verteidiger in einer Person und konnte somit auswählen, welche Beweise er an das Gericht weiterleitete. Zudem waren die Verhandlungen nicht öffentlich", beschreibt Hüls die Prozessführung zu früheren Zeiten. Erst im 19. Jahrhundert wurde die Staatsanwaltschaft eingeführt. "Die Grundlagen der reformierten Strafprozessordnung von 1878 gelten auch heute noch", sagt die Juristin. "Aber etwa seit den 1970er Jahren gibt es Reformen, die die Abwicklung von Verfahren beschleunigen sollen."

Inzwischen werden drei Viertel aller Strafverfahren eingestellt, bevor es überhaupt zu einer öffentlichen Hauptverhandlung kommt. "Dahinter steckte ursprünglich auch der Gedanke der Entkriminalisierung; im Vordergrund steht aber die Entlastung der Rechtspflege", erklärt Hüls. So ist bei einfachen Diebstählen, die problemlos aufzuklären sind, oft keine öffentliche Verhandlung nötig. Aber auch bei komplexen Fällen, die sich über Jahre hinziehen könnten, werden Verfahren oft gegen eine Geldzahlung eingestellt. Bekanntes Beispiel ist das Verfahren Klaus Esser und Josef Ackermann im Rahmen der sogenannten Mannesmann-Affäre. Das Problem dabei: "Die Öffentlichkeit erfährt von dem Verfahren kaum etwas", so Hüls. Eine weitere Veränderung betrifft die Ermittlungstätigkeit. Eigentlich sollte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen der Polizei leiten und überwachen. Tatsächlich aber besteht laut Hüls ein Informationsdefizit: "Staatsanwälte haben keine technische oder kriminalistische Ausbildung und kennen sich mit den neuesten Ermittlungsmethoden oft nicht so gut aus wie die Polizei." Auch fehle bei der Staatsanwaltschaft oft das Bewusstsein für die Kontrolle der Ermittlungen. "Ein Staatsanwalt hat mir gesagt, er sehe da keine Notwendigkeit. Man vertraue auf die Arbeit der Polizei", beschreibt Hüls die Situation.

Dabei hat die Polizei heute mehr Möglichkeiten denn je: Riesige Datenmengen stehen zur Auswertung bereit. Über Verbindungsdaten der Telefone und die Nutzung der Kreditkarte können beispielsweise Bewegungsprofile erstellt werden. "Wenn in einem Fall ermittelt wird, werden manchmal die Verbindungen aller Handynutzer überprüft, die sich zum Tatzeitpunkt in der entsprechenden Funkzelle befanden", veranschaulicht Hüls. "So geraten auch viele unbeteiligte Bürger in die Ermittlungen." Die Rechtsordnung könne auf diese Weise ins Gegenteil verkehrt werden: Man findet sich - ausgelöst durch völlig neutrales Verhalten wie das Telefonieren mit einem Handy oder die Anwesenheit an einem bestimmten Ort - in einer Verteidigungsposition wieder. Kompliziert wird die Verteidigung dadurch, dass zunächst ungewiss ist, welche Daten den Strafverfolgungsbehörden bekannt sind.

Bestimmte Ermittlungsmaßnahmen, die besonders in Grundrechte der Bürger eingreifen, stehen unter einem sogenannten Richtervorbehalt - das heißt, diese Ermittlungsmaßnahmen müssen durch einen Richter angeordnet werden. "Tatsächlich aber ist der Richtervorbehalt oft ein Feigenblatt. Es gibt sogenannte 'Eilkompetenzen' der Staatsanwaltschaft und zum Teil auch der Polizei, die ausufernd genutzt werden", sagt Hüls. Mit dem Zusammenwachsen der Europäischen Union tut sich ein weiteres Problem auf: "Die Behörden Europol und Eurojust sammeln europaweit Daten, die letztendlich auch den nationalen Strafverfolgungsbehörden zur Strafverfolgung zur Verfügung stehen. Allerdings sind hier kaum Kontrollmechanismen, wie etwa eine Staatsanwaltschaft, vorgesehen", so Hüls. Zwar soll laut dem Vertrag von Lissabon das Europäische Parlament als Kontrollinstanz wirken, aber das ist Hüls zufolge "nicht mehr als eine nette Idee und sehr unpraktisch".

In der breiten Öffentlichkeit werden diese besorgniserregenden Entwicklungen nicht kritisch genug beachtet, findet Hüls. Es fehle die Wertschätzung für grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien. "Der Wunsch nach Waffengleichheit zwischen Staat und Straftätern kann nie Wirklichkeit werden", betont sie. Die Gesetzgebung hinke der modernen Technik hinterher - was technisch machbar ist, wird auch erst mal eingesetzt. Sobald dann Erfolge da sind, wird der Ruf laut, die neuen Ermittlungsmethoden zu legalisieren. Aus die Angst vor Terror wünschen sich die Bürger mehr Schutz - und die Strafverfolgungsbehörden werden zunehmend präventiv tätig. "Die Erfahrungen mit früheren Unrechtsstaaten in Deutschland scheinen zu verblassen", sagt die Rechtswissenschaftlerin.

Lässt sich dieser Wandel aufhalten? Hüls ist skeptisch, hat aber einige Vorschläge: "Statt teure neue Technik einzuführen, sollte besser die Anzahl der Richter und Staatsanwälte erhöht werden. Und bei Erweiterungen der Ermittlungskompetenzen sollte der Aspekt der Kontrolle immer direkt mitbedacht werden."


*


Quelle:
H1 - Das Magazin der Universität Bielefeld
Ausgabe 04.2008, S. 18-19
Herausgeber: Pressestelle der Universität Bielefeld
Redaktionsadresse und Kontakt:
Universitätshauptgebäude, Universitätsstraße 25
33615 Bielefeld
Telefon: 0521/106-41 46, Fax: 0521/106-29 64
E-Mail: h1@uni-bielefeld.de
Internet: www.uni-bielefeld.de/presse


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Januar 2009