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DILJA/216: Brechmitteleinsatz - Bundesgerichtshof hebt Freispruch für Polizeiarzt auf (SB)


Tod durch Brechmitteleinsatz juristisch nicht länger hinnehmbar

Der Bundesgerichtshof hebt den Freispruch eines Polizeiarztes auf


Der Begriff "Brechmitteleinsatz" stellt einen Euphemismus dar in Hinsicht auf seine Anwendung zu Ermittlungszwecken durch Polizei und Staatsanwaltschaft. In mehreren Bundesländern bzw. Stadtstaaten hat sich der Einsatz dieses Gewaltmittels - und um ein solches handelt es sich, sobald die Anwendung nicht mit dem Einverständnis des Betroffenen erfolgt, was bei polizeilichen Ermittlungen in aller Regel der Fall ist - eingebürgert, obwohl die Methode höchst umstritten und schon zu zwei Todesfällen geführt hat. In einem von beiden hat nun der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) in Leipzig eine richtungsweisende Entscheidung getroffen durch die Aufhebung eines vom Landgericht Bremen 2008 entschiedenen Freispruchs für den beteiligten Polizeiarzt. Diese höchstrichterliche Entscheidung führt nicht unmittelbar zu einer Verurteilung des wegen Körperverletzung mit Todesfolge angeklagten Mediziners, da der BGH das Verfahren zur weiteren Entscheidung an die zuständige Schwurgerichtskammer des Bremer Landgerichts zurückverwiesen hat.

Der zum Zeitpunkt des Todes des 35jährigen von der Polizei des Drogenhandels Verdächtigten C. aus Sierra Leone 41jährige Polizeiarzt hatte dem elf Tage später Verstorbenen am 27. Dezember 2004 auf Anordnung der Polizei über eine Magensonde Brechmittel und Wasser zugefügt, um von diesem verschluckte Kokainkügelchen als Beweismittel sicherstellen zu können. Dazu muß man wissen, daß dies die Methode des gewaltsam und gegen den Willen des Betroffenen durchgeführten sogenannten Brechmitteleinsatzes ist, da bei medizinisch induzierten Anwendungen ca. 30 bis 60 ml einer entsprechenden Lösung getrunken werden. Ist ein Beschuldigter - und für die Durchführung eines Brechmitteleinsatzes ist es nach polizeilicher Praxis, nicht jedoch der Rechtslage, ausreichend, daß ein Betroffener des Drogenhandels beschuldigt und von der Polizei verdächtigt wird, Drogenkügelchen verschluckt zu haben - nicht bereit, einen solchen Becher zu trinken, wird ihm, wie im Falle C. geschehen, durch die Nase eine Magensonde gelegt, um ihm den Sirup in Verbindung mit Wasser einzuflößen.

Diese Maßnahme wurde nicht ohne Grund uneingeschränkt, das heißt im vollen Umfang, durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in einer Entscheidung vom 11. Juli 2006 als eine unmenschliche und erniedrigende Handlung eingestuft, die gegen das absolute Folterverbot nach Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstößt. In diesem Fall hatte ein Betroffener, der die Prozedur überlebt hatte, gegen den Brechmitteleinsatz geklagt und Recht bekommen. Der Europäische Gerichtshof kam zu der Auffassung, daß diese Zwangsmaßnahme erhebliche gesundheitliche Risiken in sich berge und Angstzustände, Demütigungen und psychische Leiden bei den Betroffenen hervorrufe. Der Gerichtshof entschied auch, daß die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln gegen das Gebot eines fairen Verfahrens nach Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoße und daß die auf eine solche Weise sichergestellten Drogenfunde einem Verwertungsverbot unterliegen.

Der Argumentation der Befürworter des Brechmitteleinsatzes, die diesen, damit er den für Grundrechtseinschränkungen erforderlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht verletzt, für geeignet, erforderlich und angemessen erklären, wurde vom Europäischen Gerichtshof schon in Hinsicht auf die Erforderlichkeit eine Absage erteilt. Darunter ist zu verstehen, daß ein solcher Zwangseingriff, so er denn für die Sicherstellung von Beweismitteln geeignet ist, nur dann auch erforderlich ist, wenn kein milderes Mittel zum selben Ziel führen kann. Der Gerichtshof hat dies verneint und darauf abgestellt, daß die Kügelchen auf natürlichem Wege sichergestellt hätten werden können und darauf verwiesen, daß es in anderen Staaten gängige Praxis wäre, die Ergebnisse der natürlichen Darmtätigkeit abzuwarten. Dem ist allerdings hinzuzufügen, daß diese Methode mit nicht minder schwerwiegenden Grundrechtseinschränkungen verknüpft wäre, da der Betroffene zu diesem Zweck über einen längeren, womöglich Tage andauernden Zeitraum inhaftiert werden müßte, wofür es in Deutschland keine Rechtsgrundlage gibt.

In Hinsicht darauf, daß der Europäische Gerichtshof den Brechmitteleinsatz als Verstoß gegen das Folterverbot bewertet hat, weshalb ihm in jedem Fall die "Angemessenheit" fehlt, ist die Frage der Erforderlichkeit in bezug auf die Wahl zwischen zwei Beweissicherstellungsmethoden, die beide schwere und nicht zu rechtfertigende Grundrechtseinschränkungen darstellen, unerheblich. Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich oder vielmehr bezeichnend, daß das Landgericht Bremen am 4. Dezember 2008 den im Fall C. der Körperverletzung mit Todesfolge angeklagten Polizeiarzt überhaupt freigesprochen hat, da schwer vorstellbar ist, daß die urteilenden Richter die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes von 2006, mit der der Brechmitteleinsatz in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt gerügt und geächtet worden war, nicht gekannt haben könnten.

Das Bremer Landgericht hatte dem Angeklagten zugutegehalten, daß er seinerzeit mit der ihm zum ersten Mal gestellten Aufgabe vollkommen überfordert gewesen wäre. Dies ließen die BGH-Richter nicht gelten, da er als Mediziner Sorgfaltspflichten verletzt habe. "Er hätte als approbierter Arzt wissen müssen, dass er ohne Aufklärung eine solche Zwangsbehandlung nicht durchführen durfte", lautete die Begründung des Vorsitzenden Richters Clemens Basdorf [1]. Den weiteren Ablauf des für C. tödlichen Verlaufs schilderte der Bundesgerichtshof in seiner zu der am Dienstag gefällten Entscheidung herausgegebenen Pressemitteilung [2] wie folgt:

Dem des illegalen Drogenhandels verdächtigen - unerkannt am Herzen vorgeschädigten - gefesselten C. wurden durch den Angeklagten auf polizeiliche Anordnung hin Brechmittel und Wasser über eine Magensonde verabreicht, um verschluckte Kokainbehältnisse sicherzustellen. Im Zuge dessen verlor C. kurzzeitig das Bewusstsein. In Anwesenheit eines herbeigerufenen Notarztes setzte der Angeklagte die Zufuhr von Wasser nach Bergen eines ersten Kokainkügelchens fort. C. fiel ins Koma und verstarb an einer infolge eingeatmeten Wassers eingetretenen Sauerstoffunterversorgung des Gehirns am 7. Januar 2005 im Krankenhaus.

Nach den Feststellungen der von der Staatsanwaltschaft bestellten Gutachter erstickte C., weil Wasser und Brechmittel bei dieser Prozedur in seine Lunge geraten waren. Der 5. Strafsenat des BGH bezeichnete dies als einen "menschenunwürdigen" Umgang mit dem Festgenommenen und entschied, daß nicht nur gegen den zunächst freigesprochenen Polizeiarzt neu verhandelt werden müsse, sondern daß auch die übrigen Beteiligten - der hinzugezogene Notarzt sowie auch die beteiligten weiteren Polizeibeamten - "bisher unbehelligte Nebentäter" seien, so daß auch sie nun mit einem Strafverfahren rechnen müssen. Nach dem Tode von C. war der Brechmitteleinsatz in Bremen 2006 auf vermeintlich freiwillige Anwendungsfälle beschränkt worden. Ungeachtet der bisherigen Todesfälle, der von vielen Seiten erhobenen Kritik und nicht zuletzt auch der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte wird der Brechmitteleinsatz in Berlin, Hamburg, Hessen und Bremen - wenn auch hier nur "freiwillig" - noch immer angewandt.

Der tragische Tod des C. in Bremen hatte seinerzeit noch für Negativ-Schlagzeilen über die Grenzen des Stadtstaates hinaus gesorgt, weil der damalige Innensenator Thomas Röwekamp (CDU) auch den gewaltsam durchgeführten Brechmitteleinsatz zunächst noch zu rechtfertigen versucht hatte. Als der 35jährige, später verstorbene C. noch im Koma gelegen hatte infolge seiner massiven Mißhandlung durch die Polizei bzw. den Polizeiarzt, hatte Röwekamp noch erklärt, daß "Schwerstkriminelle", von denen, zumal C. bis dato lediglich ein Verdächtiger war, hier gar nicht die Rede sein kann, "mit körperlichen Nachteilen" rechnen müßten. Dies stellt nichts anderes als die kaum verhohlene Befürwortung von Folter dar und nährt den ohnehin schon bestehenden Verdacht, daß es sich bei dem berüchtigten Brechmitteleinsatz um eine von Polizei und/oder Staatsanwaltschaft verhängte "Sofortstrafe" gegen Dealer handelt.

Aus medizinischer Sicht ist sie in keinem Fall zu verantworten und zu rechtfertigen. Dr. med. Frank Ulrich Montgomery, Ehrenvorsitzender des Marburger Bundes und Vizepräsident der Bundesärztekammer, vertritt denn auch den Standpunkt, daß eine Gewaltanwendung wie die zwangsweise Einführung einer Magensonde mit den Regeln der ärztlichen Kunst niemals zu vereinbaren wäre. Dem Bundesgerichtshof blieb in dieser Sache kaum eine andere Wahl, als den zwangsweise durchgeführten Brechmitteleinsatz als menschenunwürdig zu bewerten, hätte er sich doch andernfalls den Vorwurf gefallen lassen müssen, die Anwendung von Folter rechtlich abzusegnen.

Anmerkungen

[1] Brechmittel-Prozess, Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung, 30.04.2010,
http://www.sueddeutsche.de/i5F38s/3332053/Brechmittel-Prozess.html

[2] Tod bei Brechmitteleinsatz: Freispruch aufgehoben, Mitteilung der Pressestelle des Bundesgerichtshofs Nr. 94/2010 vom 29.4.2010,
http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=pm&pm_nummer=0094/10

[3] BGH kippt Freispruch nach tödlichem Brechmitteleinsatz, AFP-Meldung, 29.04.2010,
http://www.google.com/hostednews/afp/article/ALeqM5h58zd6hfqW0DmfVJyaQXsUeCxHLA

[4] Brechmitteleinsatz (Zugriff am 30.04.2010),
http://www.kriminologie.uni-hamburg.de/wiki/index.php/Brechmitteleinsatz,

30. April 2010