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DILJA/217: Israelische Piraterie faktisch straffrei - Anmerkungen zum Legalismus (SB)


Ungeachtet weltweiter Proteste bringt die israelische Marine mit der "Rachel Corrie" auch das letzte Schiff der "Free Gaza"-Flottille auf

Aktivisten postulieren einen Gegensatz zwischen "Macht" und "Recht"


Angesichts des brutalen Überfalls der israelischen Marine auf einen Konvoi von Hilfsschiffen der "Free Gaza"-Bewegung in den frühen Morgenstunden des 31. Mai 2010, dem mindestens neun Menschen zum Opfer fielen, wird vielfach die Frage nach der rechtlichen Bewertung dieses Vorgehens gestellt sowie nach dem Verhältnis zwischen "Macht" und "Recht". Der US-amerikanische Rechtsprofessor Richard Falk, der derzeit aufgrund seiner Tätigkeit als Sonderberichterstatter für die besetzten palästinensischen Gebiete im UN-Menschenrechtsrat besonders intensiv mit dem palästinensisch-israelischen Konflikt sowie der Situation im Gazastreifen befaßt ist, bezog dazu gegenüber einem US-amerikanischen Fernsehsender klar Stellung.

Der nachträglich angeführten Behauptung Israels, die eigenen Soldaten hätten in Ausübung ihres Selbstverteidigungsrechts gehandelt, erteilte Falk eine klare Absage. Einzig die auf den in internationalen Gewässern angegriffenen Schiffen befindlichen Menschen hätten ein Selbstverteidigungsrecht gehabt, so der Jurist, der den israelischen Überfall als "eine schockierende Mißachtung des Völkerrechts" und eine "nackte Aggression" bezeichnete und im übrigen daran erinnerte, daß die Blockade des Gazastreifens, die ja Grund und Anlaß der gesamten Hilfsaktion bildete, ihrerseits rechtswidrig sei, weil sie gegen Art. 32 der Vierten Genfer Konvention, die die Kollektivbestrafung einer Zivilbevölkerung untersagt, verstoße. Mit dieser Rechtsauffassung steht Falk selbstverständlich nicht alleine da, wenngleich sie nur von all jenen Interessierten und - in welcher Weise auch immer - an dem Konflikt Beteiligten in Anspruch genommen wird, die bereit sind, zumindest in diesem Punkt das Vorgehen Israels zu kritisieren.

Falk warf den "etablierten Regierungen" vor, durch ihr "unmoralisches Verhalten", womit er allem Anschein nach die Weigerung der westlichen Staaten meinte, auf Israel ernsthaften Druck auszuüben, um der Forderung nach der Aufhebung der Blockade des Gazastreifens zur Durchsetzung zu verhelfen, die jetzige Entwicklung mitverursacht zu haben. Diese Haltung haben die westlichen Staaten auch nach dem von vielen außereuropäischen Regierungen als schweres Verbrechen bewerteten Überfall beibehalten. Ungeachtet der internationalen Proteste sowie der verstärkt aufgeworfenen Forderung nach einer Beendigung der völkerrechtswidrigen Gaza-Blockade mißachtete Israel am heutigen Samstag abermals internationales Seegewohnheitsrecht.

Die "Rachel Corrie", das letzte Schiff der kleinen "Free Gaza"- Flottille, ein 1200-Tonnen-Frachter mit Baumaterial, Papier und weiteren Gütern für die im Gazastreifen eingeschlossenen Menschen, wurde durch die israelische Marine aufgebracht und gezwungen, gegen den Willen seiner Besatzung den israelischen Hafen Ashdod anzulaufen. Die Passagiere der "Rachel Corrie", unter ihnen die irische Friedensnobelpreisträgerin von 1976, Mairead Maguire, sowie der frühere Leiter des UN-Hilfsprogramms Öl für Lebensmittel für den Irak, Denis Halliday, haben sich der drohenden Gewalt der israelischen Streitkräfte gebeugt. Da die israelische Armee erst wenige Tage zuvor in aller Weltöffentlichkeit deutlich gemacht hatte, daß nichts und niemand sie daran hindern könne, sogar in internationalen Gewässern bei der Enterung ziviler Schiffe von ihren Schußwaffen Gebrauch zu machen, hätte jedes andere Verhalten der Menschen an Bord der "Rachel Corrie" diese in akute Lebensgefahr gebracht.

Aus Sicht der israelischen Armee ist die heutige Aktion zufriedenstellend verlaufen. Eine Armeesprecherin wollte die Tatsache, daß bei dem Überfall auf die "Rachel Corrie" keine Menschen verletzt oder getötet wurden, als Erfolg und Beweis der friedlichen Absichten Israels verstanden wissen. Dabei wurde das Recht der Schiffsbesatzung, sich einer gewaltsamen Übernahme zu erwehren und sich gegen einen derartigen Akt der Piraterie zur Wehr zu setzen, gebrochen durch die Gewalt bzw. Androhung der Gewalt, die allein schon in der Annäherung der israelischen Kriegssschiffe liegt. Da diese vor wenigen Tagen auf hoher See getan haben, was sie getan haben, ohne daß die sogenannte internationale Gemeinschaft auf diesen massiven Rechtsbruch reagiert und Israel, in welcher Form auch immer, sanktioniert hätte, wurde ein Zustand der faktischen Rechtlosigkeit geschaffen in Hinsicht auf die Schiffe der israelischen Marine.

Die Berichte der Überlebenden vom 31. Mai tragen dazu bei, alle Welt wissen zu lassen, daß die "israelische Straflosigkeit", die, wie der UN-Sonderberichterstatter für die palästinensichen Gebiete, Richard Falk, es ausdrückte, Israel sich nur erlauben könne, weil die USA diese Straflosigkeit verteidigten, über die Küstengewässer Israels hinaus faktisch ausgeweitet wurde und auch dann aufrechterhalten wird, wenn es sich bei den Todesopfern um Staatsangehörige westlicher Staaten handelt. Wie inzwischen bekannt geworden ist, handelt es sich bei den neun Toten, die alle durch Schußverletzungen ums Leben kamen, um acht türkische Bürger und einen US-amerikanischen Staatsangehörigen. Bezeichnenderweise wurden in Washington ungeachtet des Todes eines US-Amerikaners keine Vorwürfe gegen Israel erhoben, einzig die türkische Regierung behält sich neben ihren Protesten auch strafrechtliche Schritte gegen die israelischen Verantwortlichen vor.

Haneen Zoubi, eine palästinensische Israelin und Abgeordnete des israelischen Parlaments, ist mit an Bord der Hilfsflottille gewesen. Vermutlich aufgrund ihrer Immunität als Parlamentarierin wurde sie recht bald freigelassen. Auf einer Pressekonferenz in Nazareth schilderte sie anschließend, daß seitens der unbewaffneten Passagiere keinerlei Provokationen oder Widerstandshandlungen ausgegangen seien, daß israelische Kriegsschiffe jedoch das Feuer auf die "Mavi Marmara", das Flaggschiff der Gaza-Flottille, eröffnet hätten, noch bevor sich die ersten israelischen Elitesoldaten abgeseilt hätten. Wenige Minuten nach Beginn des Überfalls seien drei Leichnahme getöteter Passagiere auf das Oberdeck gebracht worden. Zwei von ihnen wiesen Schußwunden am Kopf auf, die für die Knesset-Abgeordnete nach Exekutionen aussahen. Ihren Angaben zufolge starben zwei weitere Passagiere an ihren Schußverletzungen, weil die Israelis ihnen medizinische Hilfe so lange verweigerten, bis sie verbluteten.

Die palästinensische Israelin stellte auf der Pressekonferenz ihre Auffassung zu der Frage, welchen Zweck die israelische Armee mit dieser Operation verfolgt habe, folgendermaßen dar: "Sie wollten viele Tote, um uns einzuschüchtern und um eine Botschaft zu senden, dass in Zukunft keine Hilfskonvois versuchen sollten, die Belagerung von Gaza zu durchbrechen." [1] Gemessen an dem Mut, die die Begleiter und Passagiere der "Rachel Corrie" aufbrachten, ist dieser Zweck nicht erfüllt worden; desweiteren hat die "Free Gaza"-Bewegung bereits angekündigt, in Zukunft weitere und noch mehr Schiffe auf den Weg zu bringen, um die gegen den Gazastreifen verhängte Blockade zu durchbrechen.

Ein weiterer "Free Gaza"-Aktivist, Kevin Ovenden von Viva Palestina, der sich während des Überfalls an Bord der "Mavi Marmara" befunden hatte, teilt die Auffassung Zoubis und erklärte, daß das israelische Militär mit tödlicher Gewalt angegriffen habe, um die Bewegung zur Beendigung der Gaza-Blockade sowie die Solidaritätsbewegung für Palästina insgesamt zu terrorisieren und einzuschüchtern. Der schwedische Krimi-Autor Henning Mankell, der ebenfalls an Bord eines der Schiffe gewesen ist, wurde nach seiner Rückkehr auf einer in Berlin abgehaltenen Pressekonferenz unter anderem gefragt, was er erwartet hätte, was passieren würde und ob die Gewalt für ihn überraschend gekommen sei. Darauf gab Mankell zur Antwort [2]:

Ich erwartete, daß die Israelis die Marine benutzen würden, um den Konvoi zu stoppen. Ich dachte, sie würden das dort tun, wo sie das Recht dazu haben. Und ich dachte, sie seien schlau genug, keine Gewalt gegen Menschen einzusetzen, sondern gegen die Schiffe. Sie hätten sehr leicht auf das Ruder oder den Propeller zielen können, und die Schiffe wären nicht mehr in der Lage gewesen, weiterzufahren. Dann hätten sie die Schiffe wegschleppen können und fertig. Das wäre passiert, wenn sie etwas schlauer gewesen wären. Jedenfalls hätte ich das getan, wenn ich Marineoffizier in Israel wäre. Aber einen friedlichen Konvoi anzugreifen, so auszurasten und so tief zu sinken, Mord zu begehen. Jedenfalls denke ich, daß es das ist, was sie auf diesem Schiff getan haben. Wir werden das noch herausfinden. Ich verstehe nicht, warum sie so große Gewalt angewendet haben und in dieser Weise. Das war das Dümmste, was sie tun konnten.

Wäre es der israelischen Armee, wie Mankell unterstellt, allein darum gegangen, die Weiterfahrt der Schiffe und insbesondere deren Ankunft im Gazastreifen zu verhindern, hätte sie sicherlich von den von ihm angedeuteten Mitteln Gebrauch machen können. Zu befürchten steht jedoch, daß die israelische Regierung keineswegs "das Dümmste" getan hat, was sie in einer solchen Situation hätte tun können, sondern daß sie ganz bewußt und in voller Absicht und möglichweise sogar in Abstimmung mit den engsten Verbündeten diesen eklatanten Rechtsbruch begangen hat, um ihren Sonderstatus vor und in aller Welt deutlich zu machen. Der Philosoph Georg Meggle, Mitglied der Nahostkommission von Pax Christi, hat in einer am 2. Juni 2010 auf dem Augustusplatz in Leipzig gehaltenen Rede die folgenschweren Ereignisse ausgedeutet als einen Konflikt, in dem "Macht" gegen "Recht" stünde [3]:

Die radikale Grundsatzfrage ist diese: Was zählt mehr: Macht oder Recht? Konkreter: Was zählt mehr: Militärische Macht oder Internationales Recht?

Wir haben in der Nacht des 31. Mai wiederum gesehen, worauf Israel schwört. Und doch hoffen wir alle, dass die andere Alternative letztendlich die stärkere ist. Sicher ist jedenfalls: Es wird keinen Frieden geben ohne Recht und Gerechtigkeit. Und insofern Frieden die Basis für Sicherheit ist, heißt das: Es wird keine Sicherheit für Israel geben ohne Recht und Gerechtigkeit auch für Palästina.

Israel sieht das schon lange völlig anders. Es sieht sich im permanenten Ausnahmezustand, reklamiert für sich den "übergesetzlichen Notstand", stellt sich selbst bewusst außerhalb des internationalen Rechts, ja, letztlich über jedes Völkerrecht. Israel beruft sich auf das Recht auf Selbstverteidigung, deutet dieses Recht im Sinne absoluter Handlungsfreiheit - und macht von dieser Freiheit auch, wie der Überfall auf die Free-Gaza-Schiffe zeigt, freizügigst Gebrauch.

Nichts fürchtet Israel mehr als dass ihm diese außergesetzliche Freizügigkeit, diese unbegrenzte Immunität, eines Tages genommen werden könnte.

Mit dieser Deutung bewegt sich Meggle im Rahmen legalistischer Grundpositionen, indem er einen fundamentalen Gegensatz zwischen internationalem Recht und militärischer Gewalt postuliert. Die unangenehme und angesichts des jüngsten Massakers naheliegende Frage, ob sich solche Grundannahmen mit der tatsächlichen Entwicklung im Nahostkonflikt überhaupt noch in Deckung bringen lassen, klammert er wohlweislich aus. Hätte das Recht die gewaltverhindernde oder doch zumindest -einschränkende Wirkung, die ihm zugesprochen bzw. von ihm erwartet wird, hätte diese Schutzwirkung doch wohl verhindern müssen, was in den frühen Morgenstunden des 31. Mai 2010 im östlichen Mittelmeer geschah.

Wäre das internationale Recht, diese Vermutung drängt sich auf, nicht seinerseits ein Appendix einer Machtposition, die auf einer militärisch und keineswegs rechtlich begründeten Vormachtstellung basiert, hätten im Anschluß Mechanismen der internationalen Friedensordnung, wie sie durch die Institutionen der Vereinten Nationen repräsentiert werden, greifen müssen, um dem gebrochenen Recht wieder Geltung zu verschaffen. Da nichts dergleichen geschehen ist und namentlich der Weltsicherheitsrat als das einzige Gremium, das autorisiert gewesen wäre, Sanktionen gegen den Staat Israel zu verhängen, in seiner nach einer zwölfstündigen Dringlichkeitssitzung erlassenen Resolution nicht einmal einen konkreten Vorwurf gegen Israel erhob, ist dessen faktische Straffreiheit durch die jüngsten Ereignisse sogar noch auf eine qualitativ höhere Stufe gestellt worden.

Anmerkungen

[1] Die schrecklichen Erlebnisse einer palästinensischen Knesseth-Abgeordneten auf Hilfsschiff, von Jonathan Cook, 02.06.2010
Englischer Originaltext: Israeli MP tells of her terror on aid ship, The National, 02.06.10, http://www.jkcook.net/Articles3/0490.htm#Top


[2] "Ich war dort". Augenzeugenbericht. Wie der schwedische Schriftsteller Henning Mankell den israelischen Angriff auf die Gaza-Hilfsflotte erlebt hat - und wie ihn Journalisten in Berlin befragen, junge Welt, 5.6.2010, S. 10

[3] Militärische Macht oder Internationales Recht? Statement zu den Toten auf den Schiffen der Bewegung für ein freies Gaza, von Georg Meggle, Online-Magazin Telepolis, 03.06.2010

5. Juni 2010