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DILJA/219: Karzerisierung der Gesellschaft - Fußfessel statt nachträglicher Sicherungsverwahrung (SB)


Wird der Zugriff der Justiz auf noch breitere Füße gestellt?

Bundeskabinett beschließt Ausweitung der elektronischen Fußfessel gegen haftentlassene Menschen


Als "schallende Ohrfeige" hatte die innenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Linken, Ulla Jelpke, die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg am 18. Dezember vergangenen Jahres bezeichnet, mit der wie berichtet [1] die nachträglich verhängte Sicherungsverwahrung in der Bundesrepublik Deutschland unter bestimmten Aspekten für menschenrechtswidrig erklärt worden war. Ein 52jähriger hatte die zurückliegenden 23 Jahre im Gefängnis verbringen müssen, obwohl er im Jahre 1986 zu einer fünfjährigen Haftstrafe wegen versuchten Raubmordes, allerdings mit anschließender Sicherungsverwahrung, verurteilt worden war. Zum damaligen Zeitpunkt hatten die gesetzlichen Bestimmungen in der Bundesrepublik Deutschland zu diesem aus der NS-Zeit stammenden Rechtskonstrukt, durch das Menschen ohne eine ihnen nachgewiesene Straftat inhaftiert werden können, diese noch auf die Höchstdauer von zehn Jahren beschränkt.

Der Kläger vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hatte den bundesdeutschen Instanzenweg erfolglos beschritten, bevor seinen immer und immer wieder abgewiesenen Anträgen auf Beendigung der Sicherungsverwahrung durch die Straßburger Entscheidung stattgegeben wurde. Zur Begründung war allerdings nur der gerügte Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot zum Tragen gekommen, worunter zu verstehen ist, daß in diesem Fall die Verlängerung der Sicherungsverwahrung über das damalige und inzwischen aufgehobene Höchstmaß von zehn Jahren hinaus moniert wurde und nicht die Sicherungsverwahrung in ihrem Kerngehalt.

Eine politische Schlappe stellte die Richterschelte aus Straßburg für die bundesdeutsche Regierung gleichwohl dar, da schwarz auf weiß vom höchsten für Menschenrechtsfragen zuständigen Gericht Europas der bundesdeutschen Strafjustiz der Stempel "Menschenrechtsverletzer" aufgedrückt wurde. In der Öffentlichkeit wie auch in den staatstragenden Medien wurde über diesen Vorfall eher randläufig berichtet, von Empörung über das damit nachgewiesene Unrecht der bundesdeutschen Strafjustiz war weit und breit nichts zu vernehmen. Allem Anschein nach konnte und kann die Bundesregierung sich auf einen gesellschaftlichen Konsens stützen, der mit dem Resozialisierungsgedanken des Strafrechts nicht das mindeste gemein hat und der vielmehr auf archaischer Rache und obrigkeitsstaatlicher Herrschaftsanmaßung zu beruhen scheint und damit einer Repressionslogik folgt, die in einer rechtsstaatlichen Demokratie, gemessen und bewertet anhand ihrer erhobenen Eigenansprüche, keinen Platz haben dürfte.

Nun hat das Bundeskabinett am gestrigen Mittwoch, wie am Rande der Justizministerkonferenz in Hamburg bekannt wurde, die Einführung der Fußfessel gegen Haftentlassene beschlossen. Ein Gesetzentwurf aus dem Hause von Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die sich mit ihrem scheinbar liberalen Vorstoß durchaus in einen partiellen Konflikt mit ihren Unionskollegen begeben hat, geht nach wie vor von dem Konstrukt eines "gefährlichen Straftäters" aus. Eine Korrektur des aus der NS-Zeit stammenden Täterstrafrechts, das namentlich mit der Sicherungsverwahrung und damit durch die juristische Hintertür Einzug ins bundesdeutsche Strafrecht genommen hat, wird auf der Basis dieser Beschlußlage definitiv nicht stattfinden.

Das Gesetz gewordene Unrecht, einen Menschen ohne konkreten Strafvorwurf und -nachweis zu inhaftieren, noch dazu auf unbestimmte Zeit und unter höchst fadenscheinigen Voraussetzungen, wird durch den jüngsten Gesetzentwurf keineswegs abgeschafft. Sinnfälligerweise sprach die Bundesministerin am Rande der Justizministerkonferenz in Hamburg denn auch davon, daß es sich bei ihrem Gesetzentwurf um ein "widerspruchsfreies Modell" handeln würde. Sprachlogisch läßt sich daraus das Bemühen ableiten, nicht in der Substanz Abhilfe schaffen zu wollen in Hinsicht auf einen rechtlichen Zustand, der der Überprüfung durch Straßburg offensichtlich nicht standgehalten hat, sondern allein die bisherige Praxis so zu modifizieren, daß in Zukunft keine "Widersprüche" mehr zu einer doch irgendwie ehrverletzenden Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland führen können.

Da die Vorabbezichtigung von durch Sachverständige als "gefährlich" bewerteten Menschen, die wegen eines gegen sie ergangenen Urteils inhaftiert wurden und über die Zeit der gegen sie verhängten Strafhaft hinaus eingesperrt werden sollen, ihrem Kern nach nur auf Vermutungen, angenommenen Wahrscheinlichkeiten und Mutmaßungen beruhen kann, stellt die Sicherungsverwahrung in jedem Fall eine Menschenrechtsverletzung der Betroffenen dar. Niemand, auch nicht die scheinbar seriösesten Sachverständigen, können das zukünftige Verhalten und Handeln eines Menschen voraussagen. Da die Gutachter jedoch in sozialer und womöglich sogar rechtlich relevanter Weise für ihre Einschätzungen, die die Justiz wiederum zur Grundlage ihrer Entscheidungen macht, belangt werden, sind sie in ihrem eigenen Interesse nahezu gezwungen, Negativprognosen abzugeben, da sie, sollten sie die Devise "Im Zweifel für den Bezichtigten" berücksichtigen, persönliche Konsequenzen zu fürchten haben.

Nun wurde in der Presse als Ergebnis der Justizministerkonferenz die Behauptung verbreitet, die Sicherungsverwahrung, zumindest die nachträglich verhängte, sollte abgeschafft werden. Dem Vernehmen nach habe sich die Bundesjustizministerin in diesem Punkt gegen die Widerstände ihrer Unionskollegen aus den Länderministerien durchgesetzt. Doch stellt dies tatsächlich einen Fortschritt in punkto Wahrung der Menschenrechte dar? Dies steht zu bezweifeln, da der Gesetzentwurf die Einführung der Fußfessel für Menschen, die zu gefährlichen Straftätern erklärt wurden, als vermeintliche Alternative zu der in Straßburg gerügten Sicherungsverwahrung vorsieht. Damit wird einer Karzerisierung der gesamten Gesellschaft der Weg geebnet, beinhaltet dies doch neben den Gesichtspunkten der Rache und Unterwerfung der Betroffenen eine Ausweitung des Zugriffs der Justiz, der damit auf noch breitere Füße gestellt werden würde.

Mit nennenswerten Widerständen seitens der parlamentarischen Opposition ist nach gegenwärtigem Kenntnisstand nicht zu rechnen. Die Bündnisgrünen signalisierten bereits ihre generelle Bereitschaft, die Einführung der Fußfessel mitzutragen, indem sie in einer Presseerklärung ihres rechtspolitischen Sprechers Jerzy Montag diese lediglich von weiteren, ihrer Meinung nach noch zu erfüllenden Bedingungen abhängig machte [2]:

Als Mittel der Führungsaufsicht ist die vorgesehene elektronische Fußfessel ein fauler Kompromiss. Er bedeutet das Einknicken der FDP vor populistischen Forderungen der Union.

Unklar ist, wie damit Straftaten verhindert werden sollen. Unklar ist auch, wie mögliche Auflagenverstöße behandelt werden, die sich durch digitale Auswertung ergeben. Wie soll in Städten die Bewegung der Betroffenen in der Nähe sensibler Orte, etwa Spielplätze bei pädophilen Tätern, kontrolliert und sanktioniert werden? Welche Reichweite hat die Kontrolle?

Solange sich das Ministerium zu den offenen Fragen nicht erklärt, bleiben wir bei unserer Einschätzung: Es bestehen ganz erhebliche Bedenken, ob es sich bei der Fußfessel mit GPS-Ortung um ein rechtsstaatlich hinnehmbares und zielführendes Instrument handelt. Solange diese Bedenken nicht ausgeräumt werden können, darf sie auf keinen Fall eingeführt werden.

Allzu hohe Erwartungen an mehr Sicherheit können nur enttäuscht werden. Die Fußfessel als Mittel der Führungsaufsicht ist kein Sicherheits-Navi für die Bürgerinnen und Bürger, sondern lediglich ein digitaler Klotz am Bein der Ex-Häftlinge.

Die Fußfessel ist in keinem Fall einfach nur "ein digitaler Klotz am Bein der Ex-Häftlinge", sondern bedeutet eine Ausdehnung freiheitsentziehender Maßnahmen über die Grenzen bisheriger Gefängiszellen hinaus mitten hinein in die Gesellschaft, in die Familien der Betroffenen und in das allgemeine Zusammenleben der Menschen. Doch auch die Stellungnahme der Linkspartei läßt einiges an Klarheit und Kompromißlosigkeit vermissen. So heißt es in ihrer, von Halina Wawzyniak zu diesem Thema verfaßten Presseerklärung [3]:

Das Urteil des Europäischen Menschrechtsgerichtshofs zur Sicherungsverwahrung als Begründung für die Einführung der elektronischen Fußfessel heranzuziehen, ist inakzeptabel. Die elektronische Fußfessel kommt als 'leichtere Alternative' zur Sicherungsverwahrung daher, ist am Ende aber nichts anderes als die Totalüberwachung des verurteilten Straftäters. Das ist mit dem im Grundgesetz verankerten Schutz der Menschenwürde kaum vereinbar.

Es geht vielmehr darum, die Ursachen kriminellen Verhaltens zu bekämpfen und endlich den Strafvollzug und das System der Bewährungshilfe auf ihre eigentliche gesetzliche Aufgabe auszurichten: die Resozialisierung.

Mit dem Schutz der Menschenwürde ist die elektronische Ankettung von angeblichen Gefährdern, weil ihnen wie den zuvor in Sicherungsverwahrung verbrachten Menschen unterstellt und zum Vorwurf gemacht wird, in Zukunft eine (weitere) Straftat begehen zu können, nicht zu vereinbaren. Mit dem kleinen Wörtlichen "kaum" macht die Linksfraktion deutlich, daß hier auch mit ihr unter bestimmten Umständen zu verhandeln ist. Dem Menschenrechtsanliegen, das seiner Natur nach nur total, vollständig und uneingeschränkt verfolgt und durchgesetzt werden kann, erweist auch sie damit einen Bärendienst, wiewohl ihr zugutezuhalten ist, an den inzwischen wohl durchlöcherten einstigen Konsens erinnert zu haben, der in der Aufbauzeit der Bundesrepublik zu einem strikt am Resozialisierungsgedanken orientierten Strafrecht geführt hat und der, hätte er gehalten, was er versprach, weder eine Entwicklung der Sicherungsverwahrung noch die Einführung der Fußfessel hätte zulassen können.

Anmerkungen

[1] Siehe dazu im Schattenblick -> INFOPOOL -> RECHT -> MEINUNGEN vom 10.12.2009:
DILJA/209: "Sicherungsverwahrung" - Präventivhaft von Straßburger Gericht gerügt (SB)

[2] Sicherungsverwahrung: Fußfessel ist ein fauler Kompromiss, Pressemitteilung der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 23. Juni 2010, Nr. 0731,
siehe im Schattenblick -> INFOPOOL -> PARLAMENT -> BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
RECHT/598: Sicherungsverwahrung - Fußfessel ist ein fauler Kompromiß

[3] Fußfesseln sind keine Lösung, Presseerklärung der Linken im Bundestag vom 23. Juni 2010,
siehe im Schattenblick -> INFOPOOL -> PARLAMENT -> DIE LINKE
RECHT/294: Fußfesseln sind keine Lösung

24. Juni 2010