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DILJA/223: Kein Platz für Schutzsuchende - Flüchtlingssuizid in Abschiebegefängnis (SB)


Deutschland - ein reiches Land wehrt schutzsuchende Menschen ab

Flüchtlingssuizid wirft Schlaglicht auf unmenschliche Abschiebepraxis


Der Tod des 58jährigen Armeniers Slawik K. ist nach allen Regeln der juristischen Kunst als Suizid zu bewerten. Er erhängte sich mit Hilfe des Kabels eines Wasserkochers am Kreuz eines Fenstergitters und wurde am vergangenen Freitag gegen 22.30 Uhr leblos aufgefunden. Die Beweggründe, die ihn zu dieser Tat, allem Anschein nach aus purer Verzweiflung, getrieben haben mögen, können jedoch nicht benannt werden, ohne auf seine besondere Situation einzugehen. Slawik K. war ein Abschiebehäftling. Er befand sich zum Zeitpunkt seines Todes in der Justizvollzugsanstalt Langenhagen, wohin er fünf Tage zuvor, am 28. Juni 2010, verbracht worden war. Ihm wurde nichts anderes zur Last gelegt, als einer vom Landkreis Harburg gegen ihn ergangenen Aufforderung zur Ausreise nicht nachgekommen zu sein. Daraufhin hatte eine Richterin angeordnet, ihn in die in Niedersachsen für Abschiebungen vorgesehene JVA Langenhagen zu bringen. Am morgigen Mittwoch wäre der Armenier in ein Flugzeug gesetzt und in sein Heimatland abgeschoben worden.

Herr K. hatte zuvor im in der Nähe Hamburgs gelegenen Landkreis Harburg mit seiner Frau und ihrem gemeinsamen Sohn gelebt. Nach Angaben einer Sprecherin des Landkreises prüfe die Behörde derzeit noch, ob auch die Ehefrau abgeschoben werden müsse. Nicht einmal der tragische, erst wenige Tage zurückliegende Tod ihres Mannes scheint für den Landkreis Grund genug zu sein, um ihr durch die Gewährung einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung in dieser schwierigen und extrem belastenden Situation zumindest die Sicherheit zu verschaffen, hierbleiben zu können und nicht von ihrem Sohn, der eine solche Aufenthaltsgenehmigung besitzt, gegen ihren Willen getrennt werden zu können. Artikel 6 des Grundgesetzes, demzufolge "Ehe und Familie unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung [stehen]", scheint demnach nicht uneingeschränkt für alle Menschen zu gelten.

Einzig die Grünen im niedersächsischen Landtag haben den tragischen Tod des Armeniers zum Anlaß genommen, um in diesem Bundesland eine Reform der Abschiebepraxis zu fordern. Ihre migrationspolitische Sprecherin, Filiz Polat, erklärte am Montag in Hannover, dieser tragische Fall mache deutlich, daß die Landesregierung endlich handeln müsse. Die Grünen bezeichneten diese Selbsttötung als ein Indiz für die "inhumane Abschiebepolitik" Niedersachsens. Doch mit dieser Kritik stießen die Grünen bei der Landesregierung auf Granit. So erklärte ein Sprecher des Justizministeriums gegenüber dpa, daß die "persönlichen Umstände des Suizids noch gar nicht geklärt" seien, wehrte jedoch zugleich die anläßlich dieses "tragischen Todesfalls" erhobenen Vorwürfe als unbegründet zurück. Das Justizministerium ließ, wie um die Kritik an den Haftbedingungen zu entkräften, wissen, daß die Zellen von Abschiebehäftlingen ganz normal ausgestattet seien, solange keine Hinweise auf eine Selbstmordgefahr vorlägen.

Dies sei bei Herrn K. demnach nicht der Fall gewesen. "Würden wir jeden Gegenstand entfernen, der sich zum Suizid eignet, also Bettwäsche, Schnürsenkel oder Elektrogeräte wie den Wasserkocher, wären die Haftbedingungen nicht mehr menschenwürdig", erklärte der Sprecher des niedersächsischen Justizministeriums desweiteren ganz so, als wäre zu der nach elf Jahren verfügten Ausreise, die im zweiten Schritt per Inhaftierung bis zur Stunde des erzwungenen Abflugs durchgesetzt werden sollte, keine weitere Alternative denkbar gewesen. Der Versuch, in diesem Zusammenhang mit dem Begriff der Menschenwürde zu pokern, um die gegen Herrn K. wie gegen sehr viele weitere, in diesem Land offensichtlich unerwünschte Menschen verhängte Ausreiseverfügung mit anschließender Abschiebehaft als "menschenwürdig" erscheinen zu lassen, nur weil die unter Gesichtspunkten der Suizidprophylaxe verschärften Haftbedingungen demgegenüber "nicht mehr menschenwürdig" seien, wirft ein bezeichnendes Licht auf die beileibe nicht nur in diesem Bundesland gängige Abschiebepolitik.

Daß der Tod des Herrn K., der alles andere als ein "Freitod" war, kein Einzelfall und schon gar kein Einzelschicksal war, geht aus einer im März dieses Jahres aktualisierten Dokumentation zum Thema "Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen" [1] hervor. Hält sich das niedersächsische Justizministerium noch zugute, daß dies der erste Suizid eines Abschiebehäftlings in der JVA Langenhagen seit Dezember 2000 gewesen sei, zeichnet sich in den vielen, vielen Einzelfallschilderungen und Zahlen dieser Broschüre ein erschreckendes Bild ab von einer Realität der Bundesrepublik Deutschland, die auf ein nur sehr schwach ausgeprägtes Interesse seitens ihrer im Bereich der Meinungsbildung dominierenden Medien stößt. So haben sich in der Zeit zwischen dem 1.1.1993 und dem 31.12.2009 der Dokumentation zufolge 154 Flüchtlinge angesichts der ihnen drohenden Abschiebung getötet oder starben bei dem Versuch, vor der Abschiebung zu fliehen. 858 Menschen verletzten sich aus Angst vor oder Protest gegen die drohende Abschiebung oder versuchten, sich selbst zu töten. Von ihnen befanden sich 509 wie Herr K. in Abschiebehaft.

Fünf Flüchtlinge starben während der Abschiebung, weitere 384 wurden währenddessen durch Zwangsmaßnahmen oder Mißhandlungen verletzt. 31 Menschen kamen in ihrem Herkunftsland nach erfolgter Abschiebung zu Tode, 488 wurden von der Polizei oder dem Militär nach der Ankunft mißhandelt oder gefoltert oder kamen in Folge einer schweren Erkrankung in Lebensgefahr. Diese Aufzählung ließe sich noch weiter fortführen, doch schon diese dürren Zahlen lassen erahnen, mit welch systematisierter Grausamkeit und administrativer Erbarmungslosigkeit Menschen außer Landes geschafft werden, die nach den hier allem Anschein nach zwar nicht offiziell, so doch de facto vorherrschenden Kriterien als unerwünscht bewertet werden mit Folgen, die jedem Anspruch, als eine der führenden Nationen der sogenannten Internationalen Gemeinschaft auch in Sachen Menschenrechte ein gehöriges Wort mitreden zu können, sobald es um die Bezichtigung und mögliche Sanktionierung unliebsamer Staaten geht, Hohn spricht.

[1] Dokumentation "Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen (1993-2009)", 17. aktualisierte Auflage, 23.03.2010,
http://www.sn-news.de/germany/dokumentation-ueber-bundesdeutsche-fluechtlingspolitik-und-ihre-toedlichen-folgen/40

6. Juli 2010