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DILJA/232: "Containern" - Lebensmittelmitnahme aus dem Müll wird strafrechtlich verfolgt (SB)


Hungerszeiten - der Repressionsapparat macht mobil

Entuferte Strafverfolgung gegen Menschen, die weggeworfene Lebensmittel essen


In der Bundesrepublik Deutschland werden Menschen strafrechtlich verfolgt und wegen Diebstahls zu nicht unerheblichen Strafen verurteilt, weil sie weggeworfene Lebensmittel aus Mülltonnen oder -containern an sich genommen haben. Diesen Satz müßte man in vielen Ländern der Welt wohl zwei- bis dreimal lesen, bevor er verstanden oder vielmehr geglaubt werden kann, ist doch die Welternährungslage katastrophaler denn je. Einem Bericht des Evangelischen Entwicklungsdienstes (EED) vom 7. Juli 2010 zufolge ist die Zahl der weltweit hungernden Menschen schon im Jahr 2009 erstmals über die Grenze von einer Milliarde gestiegen. Am 16. Oktober, dem sogenannten Welternährungstag, wurden die sattsam bekannten Appelle, Erklärungs- und Bezichtigungsmuster in erhöhter Intensität publiziert; so war unter anderem zu lesen, daß in reichen Ländern wie der Bundesrepublik Deutschland 20 Millionen Tonnen Nahrungsmittel auf dem Müll landen würden.

Was läge näher, da auch hierzulande hunderttausende Menschen nicht genug zu essen haben, wovon die anwachsende Zahl der "Kunden" der bundesweit rund 850 "Tafeln", die schon im vergangenen Jahr die Marke von einer Million überschritten hat, ein möglicherweise noch unvollständiges Zeugnis ablegt, als die so dringend benötigten Lebensmittel aus dem Müll zurückzuholen? Für sehr viele Menschen, allein in Berlin wird ihre Zahl inoffiziellen Schätzungen zufolge auf 125.000 geschätzt, ist dies längst Realität. Umgangssprachlich hat sich der Begriff "containern" für einen weiteren Notbehelf neben den Lebensmitteltafeln, die Jahr für Jahr über 130.000 Tonnen ihnen von der Nahrungsmittelwirtschaft gespendete Lebensmittel zu einem symbolischen Preis an bedürftige Menschen abgeben, für die Entnahme weggeworfener Nahrungsmittel vorzugsweise aus Müllcontainern neben Supermärkten und Einkaufsketten eingebürgert.

Vielfach wird die Auffassung vertreten, daß das "Containern" in der Bundesrepublik Deutschland Diebstahl sei. Dies ist nicht unbedingt unzutreffend, werden doch viele Betroffene, so sie von der Polizei "erwischt" wurden, strafrechtlich verfolgt, unter Diebstahls- oder auch Hausfriedensbruchanklage gestellt und keineswegs selten sogar verurteilt. Wenn auch etliche Ermittlungsverfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt werden, bleibt doch die Tatsache bestehen, daß betroffene Menschen, die freiwillig und ohne eine echte Notlage die damit verbundene soziale Ächtung und die Gefahr einer ihnen drohenden Kriminalisierung kaum auf sich nehmen würden, mit der zunehmenden Härte eines Repressionsapparates konfrontiert sind, dessen Agieren kaum auf einem gesellschaftlichen Konsens beruhen dürfte.

Während die Strafbarkeit von Eigentumsdelikten im allgemeinen eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz aufweist, dürfte dies bei einem solchen Phänomen wie dem Containern und damit dem sichtbaren Ausdruck einer keineswegs marginalen Armuts- und Hungerentwicklung in einem so reichen Land wie Deutschland schon anders aussehen. Von diesem Empfinden oder auch der politischen Überzeugung, daß die Mitnahme weggeworfener Lebensmittel zum eigenen Verzehr schwerlich eine Straftat sein kann, wenn sich doch der gesellschaftliche Reichtum immer stärker in den Händen von immer weniger Menschen konzentriert und überdies durch eine systematisch betriebene Umverteilung von unten nach oben begünstigt bzw. erwirtschaftet wurde, einmal abgesehen, kann und muß allerdings auch der Satz, Containern ist in Deutschland Diebstahl, auch in juristischer Hinsicht mit einem Fragezeichen versehen werden.

Ganz so selbstverständlich und in rechtlicher Hinsicht unhinterfragbar ist diese Behauptung ungeachtet der seit Jahren praktizierten Strafverfolgung nämlich nicht. So wird nach § 242 StGB wegen Diebstahls bestraft, wer einem anderen eine fremde bewegliche Sache in der Absicht wegnimmt, sie sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen. Allerdings gilt auch [1]:

Gegenstand des Diebstahls können nur fremde bewegliche Sachen sein, nicht dem Täter gehörende oder herrenlose Sachen, z.B. weggeworfene Gegenstände, wilde Tiere oder Fische in Freiheit (die Erlegung jagdbarer Tiere ist Wilderei).

Sind Lebensmittel oder sonstige Waren, die in einen Müllcontainer geworfen werden, nicht "weggeworfene Gegenstände"? Juristisch gesehen sind unter herrenlosen Sachen solche zu verstehen ... [1]

an denen kein Eigentum besteht, sei es, daß es nie bestanden hat (wilde Tiere in Freiheit), erloschen ist (ausgebrochener Bienenschwarm) oder aufgegeben wurde (Eigentumsaufgabe). Herrenlose Sachen unterliegen der Aneignung.

Könnte nicht auch dies in diesen Fällen zutreffen? Ist nicht die rechtliche Bewertung, es würde sich bei der von dem vorherigen Eigentümer, beispielsweise einem Lebensmittel-Discounter, vorgenommenen Entsorgung der (abgelaufenen oder sonstwie unverkäuflich gewordenen) Nahrungsmittel in einen vor dem Geschäft stehenden Container um eine "Eigentumsaufgabe" handeln, überaus plausibel? Eigentumsaufgabe wird folgendermaßen definiert [1]:

Gibt der Eigentümer in der Absicht, auf das Eigentum zu verzichten, den Besitz einer beweglichen Sache auf (z.B. bewußtes Liegenlassen), so verliert er das Eigentum; die Sache wird herrenlos und unterliegt dem Aneignungsrecht (§ 959 BGB, sog. Dereliktion). Die Eigentumsaufgabe ist - anders als die Aneignung - ein Rechtsgeschäft, setzt also insbes. Geschäftsfähigkeit des Aufgebenden voraus.

Es liegt auf der Hand, daß sich die Strafermittlungsbehörden wie auch die herrschende Meinung der Strafgerichte dieser Auffassung nicht angeschlossen haben; andernfalls wäre es gar nicht erst zu polizeilichen Ermittlungen, Strafverfahren und Verurteilungen in solchen Fällen gekommen. An einer "herrenlosen Sache" könnte ein jeder, von bestimmten gesetzlichen Verboten, wie sie beispielsweise aus dem Naturschutzrecht hervorgehen, einmal abgesehen, völlig legal durch eine solche "Aneignung" das Eigentumsrecht erwerben (die sogenannte Okkupation, siehe § 958 BGB). Diejenigen Kräfte im Repressionsapparat, die dementgegengesetzt einen Diebstahl beim "Containern" annehmen und dementsprechend Verfolgungsmaßnahmen in Gang bringen, würden dies in rechtlicher Hinsicht wohl in etwa so wie in dem folgend zitierten Blog-Eintrag begründen [2]:

Würde man allerdings ein Übereignungsangebot an den Entsorger annehmen, wäre auch der im Container befindliche Müll noch eine fremde Sache, da sie (noch) im Eigentum des Einfüllenden, später im Eigentum des Entsorgers steht. Somit könnte man - gleich seines Wertes, auch objektiv wertlose Sachen sind geschützt - einen Diebstahl daran begehen.

Ob eine Eigentumsaufgabe vorliegt, bestimmt sich nach einer an der Verkehrsauffassung orientierten Auslegung. Ich würde bei Supermärkten keine Eigentumsaufgabe annehmen. Diese wollen üblicherweise nicht, dass man sich aus den Containern bedient. Entweder der Kunde soll Ware kaufen oder sich zumindest an eine Hilfestelle wenden. Erst recht will man keine "Müllwühler" am Laden, zumindest nicht tagsüber. Weiß man sogar von einem entsprechenden Willen des Supermarkt(leiters), ist die Sache noch eindeutiger: Dann wird das Pendel eindeutig zum Übereignungsangebot schlagen.

Hier wird immerhin noch deutlich gemacht, daß es zwei verschiedene und in ihren rechtlichen Konsequenzen für den Betroffenen höchst gegensätzliche Bewertungsoptionen gibt: die Eigentumsaufgabe, was bedeutet würde, daß der vorherige Eigentümer durch das Wegwerfen der Lebensmittel sein Eigentumsrecht fallengelassen hat mit der Folge, daß an diesen kein Diebstahl begangen werden kann, oder die Eigentumsübertragung, bei der die Eigentumsrechte vom vorherigen Eigentümer, sprich dem Laden, naht- und lückenlos an das Müllentsorgungsunternehmen übergehen mit der Konsequenz, daß dann eine Müllmitnahme aus dem Container als Diebstahl strafbar wäre. Häufig wird jedoch die Auffassung, daß es sich beim Containern um Diebstahl und nichts anderes als Diebstahl handeln könne, mit einer Absolutheit und Bestimmtheit vertreten, die rechtlich unbegründet ist und die Deutung nahelegt, daß hier mit den Mitteln der Strafjustiz "Politik" gemacht werden soll, "Ordnungspolitik", um genau zu sein gegen Menschen, die ob ihrer Armut auffällig geworden sind, weil sie sich und ihre Familien nicht anders als auf diese Weise ernähren können. So ist im Internet beispielsweise zu lesen [2]:

Rechtlich ist und bleibt der "Müll" Eigentum des Supermarktes und geht bei Abholung in den Besitz des Müllentsorgers über (sogenanntes Übereignungsangebot). Containern gilt deshalb juristisch als Diebstahl, selbst wenn die Müllcontainer öffentlich zugänglich sind. Dennoch sehen die Supermärkte in den meisten Fällen von einer Anzeige ab. Sollte es zum Verfahren kommen, wird dies in der Regel aus Mangel an "öffentlichem Interesse an einer Strafverfolgung" (nach § 153 StPO) eingestellt.

Letzteres ist nun gar nicht zutreffend, da in den jüngsten Verfahren, so beispielsweise in dem vor dem Amtsgericht Döbeln am 13. Oktober 2010 gegen zwei Angeklagte, die sich im April dieses Jahres abgelaufene Lebensmittel aus einem Supermarktcontainer genommen hatten, wegen Diebstahl eröffneten Prozeß, keine Anzeige des Geschäfts vorliegt und dennoch von der Staatsanwaltschaft, die ein "besonderes öffentliches Interesse" geltend macht, ermittelt und Anklage erhoben wurde. Die Annahme, daß die betroffenen Läden und Supermarktketten als angeblich Geschädigte ein generelles Strafverfolgungsinteresse hätten, ist rein spekulativ und erweckt den Anschein, als vorgeschobenes Argument seitens der Strafverfolgungsbehörden instrumentalisiert zu werden um zu begründen, was denkbar schlecht zu begründen ist. So erklärte beispielsweise Chrishard Deutscher, Unternehmenssprecher der EDEKA-Gruppe, daß "Containern" bei ihren Läden kein Thema sei und daß, wenn in ihren Märkten in Freiburg und Umgebung ab und zu so etwas zu sehen sei, dies für die Ladenkette "kein Anlaß zum Handeln" sei. Ähnliches soll auch von der REWE-Kette zu vernehmen sein. [2]

Dabei stehen, wohlbemerkt in rechtlicher Hinsicht, die beiden Deutungs- und Bewertungsoptionen - Eigentumsaufgabe oder -übertragung - keineswegs gleichrangig nebeneinander. Die Eigentumsaufgabe ist ein (einseitiges) Rechtsgeschäft, das insofern die Geschäftsfähigkeit des nun ehemaligen Eigentümers voraussetzt. Die Eigentumsübertragung hingegen setzt, so sie, wie in diesen Fällen, bewegliche Sachen betrifft, eine "Einigung zwischen dem Veräußerer und dem Erwerber über den Eigentumsübergang und die Übergabe der Sache, d.h. die Einräumung des unmittelbaren Besitzes" [1] voraus. Sie ist ein zweiseitiges Rechtsgeschäft und bedarf, abermals juristisch gesprochen, übereinstimmender Willenserklärungen der beiden Parteien.

Wenn sich also in den jeweiligen Fällen die Lebensmittelkette und das Müllentsorgungsunternehmen vertraglich darüber verständigt haben, daß der entsorgte Müll in das Eigentum des letzteren übergehen soll, und zwar vollständig, wäre insofern eine rechtliche Basis für eine Strafverfolgung hungernder Müll-Diebe gegeben. Wenn allerdings die (vorherigen bzw. ehemaligen) Eigentümer sich nicht oder nur in den seltensten Fällen überhaupt geschädigt sehen und auch keinen Strafantrag stellen, muß von einer von ihren mutmaßlichen Interessen losgelösten Strafverfolgungsabsicht der Behörden ausgegangen werden. Eine solche Repressionspraxis wäre, so paradox dies auch erscheinen mag, Vorgriff und Wegbereiter einer auch juristischen Mangelverwaltung, die nicht etwa auf die bestmögliche Versorgung auch der ärmsten Bevölkerungsschichten fokussiert wäre, sondern auf ihre vollständige und restriktive Kontrolle, und dies umso mehr und insbesondere dann, wenn sie dem ihnen zugedachten Hartz-IV- oder sonstigem Elendsschicksal entgegenzuwirken trachten.

Anmerkungen

[1] Rechtwörterbuch, Verlag C.H. Beck, München, 15. Auflage, 1999

[2] http://fudder.de/artikel/2010/07/15/containern-in-freiburg-lass- uns-muell-essen/

27. Oktober 2010