Schattenblick →INFOPOOL →RECHT → REDAKTION

DER PROZESS/002: Medium, blutig und durch - Hexenbefragung (SB)


Vor allem undurchsichtig - das OPEC-Attentat



In den 1970er Jahren wirkte der konzeptionelle Anspruch der Revolutionären Zellen (RZ) auf das Initiieren massenhafter Revolten weitgehend spontaneistisch und zielte eher darauf ab, den gesellschaftskritischen Erkenntnisstand der Jahre 1967 und 1968 ins nächste Jahrzehnt herüberzuretten. Nach einer militanten Operation verschwanden die RZ wieder hinter ihrer bürgerlich-legalen Maske. Diese Guerillataktik in den Metropolen machte es den Ermittlungsbehörden nahezu unmöglich, in die Organisationsstruktur der RZ einzudringen oder V-Leute einzuschleusen. Fahndungsplakate oder -raster wie bei der RAF machten daher keinen Sinn. Die RZ hielten ihr Visier stets geschlossen und waren für den Staatsschutz daher ermittlungstechnisch nicht faßbar. So tappten Polizei und Landeskriminalämter bis 1975 völlig im Dunkeln.

Durch zwei spektakuläre Ereignisse in den Jahren 1975 und 1976 trat die RZ erstmals mit breitem Echo in die öffentliche Wahrnehmung. Am 21. Dezember 1975 überfiel ein sechsköpfiges Kommando unter der Führung des Venezolaners Illich Ramirez Sanchez, genannt "Carlos", die Ministerkonferenz der Organisation Erdölexportierender Länder (OPEC) in Wien. Neben drei Arabern, deren Herkunft und Namen bis heute nicht zweifelsfrei geklärt sind, sollen die 1995 verstorbene Gabriele Kröcher-Tiedemann, Gründungsmitglied der Bewegung 2. Juni, und Hans-Joachim Klein am pro-palästinensischen Kommandounternehmen beteiligt gewesen sein. Der gebürtige Frankfurter, der bei dem Überfall einen Bauchschuß erlitt, dank einer Notoperation im Wiener Allgemeinen Krankenhaus jedoch überlebte, wobei seine Identität erkennungsdienstlich festgestellt werden konnte, sollte später als Kronzeuge eine zentrale Rolle in den Prozessen gegen die RZ spielen. Nach heutiger Kenntnislage stand die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) hinter dem Attentat, die mit Teilen der militanten Linken in der BRD seinerzeit in engem Kontakt stand und diese zum Teil auch finanzierte.

Mit Maschinenpistolen, Gewehren und Revolvern sowie einer größeren Menge Sprengstoffs drang das Kommando ins erste Stockwerk der OPEC-Zentrale am Dr.-Karl-Lueger-Ring 10 ein. Im Flur und auch im Konferenzraum selbst kam es zu einem kurzen Schußwechsel, bei dem drei Personen ums Leben kamen und mehrere verletzt wurden. Bis heute ist der Verdacht aus Sicht der Ermittler nicht vollständig ausgeräumt, daß der österreichische Kriminalbeamte Anton Tichler vom Kommando-Mitglied Gabriele Kröcher-Tiedemann durch einen Schuß in den Rücken getötet wurde, als dieser mit dem Aufzug zu fliehen versuchte. Die Todesschützen der beiden anderen Opfer konnten nie einwandfrei ermittelt werden. Laut Zeugenaussagen soll Carlos das libyische Delegationsmitglied Jussuf Izmirli im Konferenzraum mit einer Maschinenpistolensalve niedergestreckt haben, während die Todesumstände des irakischen Leibwächters Ala Saced Al-Khafazi in der Empfangshalle des OPEC-Gebäudes weitgehend ungeklärt blieben. Klein, der bei späteren Vernehmungen vehement bestritt, eines der Mordopfer getötet zu haben, beschuldigte jedenfalls seine Mitstreiterin, sie sei, als Al-Khafazi mit erhobenen Armen rückwärts in Richtung Ausgang ging, ihm nachgelaufen und habe die Pistole auf seine Brust gesetzt. Angeblich soll der Iraker sie plötzlich umklammert haben und bei dem Gerangel sei, so zumindest Klein, der tödliche Schuß gefallen.

Da die kriminaltechnische Spurensicherung am Wiener Tatort fahrlässig arbeitete - bereits nach einer Stunde rückte die Putzkolonne an und verwischte dabei praktisch alle Spuren -, konnte kein gerichtsrelevantes Beweismaterial sichergestellt werden. In ihrem Verfahren 1990 vor dem Kölner Landgericht wurde Kröcher-Tiedemann jedenfalls vom Vorwurf der Tatbeteiligung und der Mordanklage in zwei Fällen aus Mangel an Beweisen freigesprochen, zumal seinerzeit vor Gericht nach Aussage des damaligen Innenministers Werner Maihofer unter Bezug auf Geheimdienstquellen fraglich war, ob die Angeklagte überhaupt am OPEC-Attentat teilgenommen hatte, da sie sich zur selben Zeit im Jemen aufgehalten haben soll.

In Wien konnte das Kommando, dessen Selbstbezeichnung "Arm der arabischen Revolution" lautete, durchsetzen, daß ihre Forderungen in französischer Sprache im Österreichischen Rundfunk verlesen wurden. Darin übten sie Kritik an der Friedenspolitik arabischer Staaten gegenüber Israel und erklärten den Iran zum Agenten des amerikanischen Imperialismus. Ferner forderten sie, das Massaker in den libanesischen Palästinenserlagern, die sowohl von christlichen Milizen der Phalange als auch von syrischen Truppen unter Beschuß genommen wurden, zu beenden, die arabische Einheit zu verwirklichen und die Erdölförderung zu verstaatlichen, damit die Einnahmen vor allem der reichen Ölmonarchien gezielt für die Entwicklung der arabischen Gesellschaften genutzt werden konnten. Der panarabische Charakter dieser Verlautbarung stützte später die These von der Komplizenschaft Libyens. Allerdings gab es seinerzeit noch andere Gruppierungen im Nahen Osten, die diesen politischen Zielen zugerechnet wurden. Darüber hinaus riefen die Entführer die arabische Welt dazu auf, die Solidarität mit dem palästinensischen Volk nicht beim Lippenbekenntnis zu belassen, sondern den Kampf der Palästinenser im Gaza-Streifen und Westjordanland gegen das israelische Joch mit allen Mitteln zu unterstützen.

Zweck der Operation, bei der schließlich alle elf Erdölminister sowie insgesamt 22 Delegationsmitglieder und deren Mitarbeiter mit einer DC-9 der Austrian Airlines am 22. Dezember nach Algier entführt wurden, war ursprünglich, die Hauptstädte aller OPEC-Länder nacheinander anzufliegen und die Minister im Austausch für politische Gefangene und hohes Lösegeld freizulassen. Dieser Plan konnte zwar nicht verwirklicht werden, aber dennoch setzten die Entführer alle Geiseln gegen die Zusicherung freien Geleits nach Libyen unbeschadet in Freiheit, wobei ein hoher Millionenbetrag geflossen sein dürfte. Als Drahtzieher hinter der Aktion wurde lange Zeit Libyens Staatschef Muammar al-Gaddafi vermutet, was jedoch nie hinlänglich bewiesen werden konnte. Dieser habe, so jedenfalls Klein, das Attentat auf die Wiener Konferenz logistisch, finanziell und mit der Lieferung von Waffen unterstützt, um die Erdölpreise in seinem Sinne zu manipulieren. Unklar ist bis heute, ob die Erdölminister des Iran und von Saudi-Arabien, Wschamschid Amusegar und Saki Jamami, tatsächlich, wie Klein behauptete, von den Entführern hingerichtet werden sollten.

Obwohl die Aktion in Wien weder von der RZ organisiert worden war noch sich explizit mit ihrem Verständnis eines sozialrevolutionären Kampfes deckte, geriet die linke Szene in Frankfurt danach verstärkt ins Fadenkreuz der Ermittler. Nach eigenen Angaben hatte Klein, der ursprünglich der Frankfurter Spontitruppe Revolutionärer Kampf (RK) um die späteren Politiker Josef Fischer, Daniel Cohn-Bendit und Tom Koenigs angehörte, sich im Sommer 1975 in Frankfurt einer autonomen Gruppe der Revolutionären Zellen angeschlossen und war bei einem konspirativen Treffen in einem Waldstück bei Frankfurt für die geplante Geiselnahme in Wien rekrutiert worden. Obwohl Klein zunächst behauptet hatte, von den RZ-Aktivisten Rudolf Schindler und Brigitte Kuhlmann zum Treffen begleitet worden zu sein, nannte er in den Vernehmungen nach seiner Festnahme im September 1998 gegenüber BKA-Beamten auch den Namen von Sonja Suder und bezichtigte sie der logistischen Mitwirkung am OPEC-Überfall.

Nach der Landung in Algier verlor sich Kleins Spur im Nahen Osten. Offenbar hatte er sich von Carlos getrennt und zugleich vom bewaffneten Kampf losgesagt. Insbesondere aus Furcht, von seinen einstigen Kampfgefährten zur Rechenschaft gezogen zu werden und weil er wegen seiner internen Kenntnisse des internationalen Terrorismus eine ständige Bedrohung für sie darstellte, tauchte Klein schließlich in Frankreich unter. Am 26. April 1977 machte er wieder von sich reden, als er von Mailand aus einen Brief an das Spiegel-Büro in Rom verschickte. Darin beigelegt war sein Revolver samt Munition, den er zwei Jahre zuvor in Wien benutzt hatte. In dem fünfeinhalbseitigen Schreiben erklärte er seine Abkehr vom Terrorismus mit der Begründung, er sei wieder zum "vernünftig politisch denkenden und handelnden Menschen" [3] geworden. Zugleich verriet er im Schriftstück angebliche Mordpläne der Revolutionären Zellen gegen die Vorsteher der jüdischen Gemeinden in West-Berlin und Frankfurt, Heinz Galinski und Ignaz Lipinsky. Allerdings wurden RZ-Mitglieder nie wegen dieser Mordabsichten angeklagt, nicht nur weil Kleins Angaben nicht verifizierbar waren, sondern die RZ in ihrem antifaschistischen Selbstbild erklärtermaßen weder eine antisemitische noch überhaupt gegen Juden gerichtete Strategie verfolgte.

Transparent mit der Aufschrift: Revolutionärer Widerstand ist nicht verhandelbar -Quelle: www.verdammtlangquer.org

Wer wirklich kämpft, macht keine Kompromisse
Quelle: www.verdammtlangquer.org

Für jemanden, der aus Sicherheitsgründen in die Anonymität abgetaucht war und sich eigentlich so unauffällig wie möglich verhalten sollte, entwickelte Klein in der Folge eine ausgesprochene Redseligkeit. Sein Drang, der Welt seine Läuterung mitzuteilen, entlud sich jedenfalls 1979 in der Veröffentlichung seines Buches "Rückkehr in die Menschlichkeit - Appell eines ausgestiegenen Terroristen", in dem er über Personen und Hintergründe der Wiener Geiselnahme auspackte. Mag sein, daß er sich schon damals dem BKA durch die Freizügigkeit seiner Berichte als Kronzeuge anempfehlen wollte.

Die OPEC-Aktion fiel wie die Entführung einer Air-France-Maschine 1976 nach Entebbe in die Frühphase der RZ. Bei dem deutsch-palästinensischen Kommandounternehmen starben die beiden Gründungsmitglieder Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann. Nach diesem Desaster setzte in der RZ eine prinzipielle Richtungsdiskussion ein. Sollte man weiterhin am Konzept des Internationalismus festhalten und mit Befreiungsbewegungen im Ausland wie der PFLP kooperieren, obwohl man sich dadurch auf das unkalkulierbare Terrain von Geheimdienststrukturen, Berufsguerilleros wie Carlos und Diktatoren vom Schlage eines Idi Amin begab? Oder sollte man den Interventionen in laufende linke Kampagnen mit direktem Bezug zu sozialrevolutionären Diskussionen in der BRD den Vorrang geben, zumal hier Planung und Verlaufskontrolle in den eigenen Händen lagen, Tote vermieden wurden und der Erkennntnisgewinn für eine linke Positionierung nicht durch undurchsichtige Verflechtungen mit im Hintergrund agierenden Geheimdienststellen und autoritären arabischen Staaten verwischt wurde?

Letzterer Standpunkt gewann schließlich die Oberhand. Seit Entebbe soll es keine von der RZ ausgehende Zusammenarbeit mit ausländischen Befreiungsbewegungen mehr gegeben haben. Faktisch kam es 1976 zur ideologischen Spaltung der RZ in einen Inlandsflügel und eine Gruppe von internationalen Revolutionären, die sich in der Hauptsache um den Abenteurer Carlos scharten und ihre Aufträge für arabische Geheimdienste und Drittweltpotentaten mit einer Blutspur des Schreckens signierten. Dieser Zweig verlor jedoch im Laufe der Jahre mehr und mehr an Bedeutung, bis die RZ spätestens im Dezember 1987, als das RZ-Mitglied Gerhard Heinrich Albartus offenbar von einem palästinensischen Tribunal zum Tode verurteilt und per Kopfschuß hingerichtet wurde, ihre letzten Kontakte mit im Ausland operierenden nationalen Befreiungsbewegungen kappte.

Nach diesen beiden Ereignissen intensivierten die bundesdeutschen Behörden den Fahndungsdruck gegen die RZ, mußten sich jedoch eingestehen, daß ihre Ermittlungsakten kaum hinreichendes Belastungsmaterial hergaben, um Haftbefehle zu rechtfertigen. Vor allem der streng konspirative Charakter der RZ, ihre Abschottung gegen das weitläufige Umfeld aus Sympathisanten und Mitläufern aller Art sowie ihre dezentrale Organisationsstruktur vereitelten alle Versuche zur Enttarnung dieser Keimzellen des Widerstands. Den Fahndungsbehörden fehlten schlichtweg Namen von Verdächtigen, die sie mit Anschlägen in Verbindung hätten bringen können. So wartete die Polizei auf einen glücklichen Zufall.

Einen Teilerfolg konnten die Behörden dennoch verbuchen. Albartus und Enno Schwall hatten am 4. Januar 1977 eine Brandbombe im Kino Gloria-Palast in Aachen plaziert, weil dort der Film "Unternehmen Entebbe" gezeigt wurde. Der im selben Jahr der Entführung in Israel unter dem Originaltitel "Victory At Entebbe" produzierte Streifen von Regisseur Marvin J. Chomsky war in der radikalen Linken der BRD als Hetzfilm verschrien. Der Zeitzünder versagte jedoch. Allerdings ging die Bombe später beim Versuch der Polizei, sie zu entschärfen, in die Luft. Tags darauf wurden Albartus und Schwall verhaftet und vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf wegen Mitgliedschaft in einer Revolutionären Zelle zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.


Am Beispiel Hermann Feiling - Ermittlungsbehörde im Ausnahmezustand

Eine Detonation in Heidelberg brachte die Ermittler in Sachen RZ schließlich auf eine heiße Spur. Der Kalender schrieb den 23. Juni 1978. Der Student Hermann Feiling hatte eine Fahrkarte nach München in seiner Tasche und einen verwegenen Plan im Kopf. Als Postbote verkleidet wollte er ein Sprengstoffpaket beim argentinischen Generalkonsulat in der bayerischen Landeshauptstadt abliefern. Niemand sollte dabei verletzt, nur ein lauter Knall erzeugt werden, um die Gleichgültigkeit einer Welt zu erschüttern, die nicht wahrnehmen wollte, daß in argentinischen Folterkammern Tausende unschuldiger Menschen gequält und ermordet wurden.

Daheim in seiner Studentenstube überprüfte Feiling noch einmal die Elektronik der Sprengvorrichtung. Der selbstgebaute Sprengsatz lag auf seinem Schoß. Eine unachtsame Bewegung, und dann passierte es. Ein greller Blitz zuckte über ihn hinweg und riß sein Bewußtsein in eine tiefe Dunkelheit hinab. Daß er die Explosion überlebte, war ein reines Wunder. Als er wieder zu sich kam, war immer noch dunkle Nacht um ihn herum. Die Ärzte der Universitätsklinik Heidelberg hatten ihm beide Augäpfel entnommen. Mehr noch: Sie mußten ihm auch beide Beine knapp unterhalb des Beckens amputieren. Brandwunden bedeckten einen Körper, der an einem dünnen Faden zwischen Leben und Tod hing.

In dieser hochtraumatisierten Situation, in die sich kein Mensch auch nur ansatzweise hineinzudenken vermag, in der allmählichen Bewußtwerdung seiner Versehrtheit weder psychologisch betreut noch angemessen von Freunden umsorgt, wurde Feiling gleich am Tag nach der Operation und in den nächsten viereinhalb Monaten am Krankenbett und später in der Sanitätsstation der Landespolizeischule in Oldenburg und der Polizeikaserne Münster hermetisch von der Außenwelt abgeschirmt und zunächst von Beamten der Landeskriminalämter Stuttgart und Wiesbaden, später auch von der Bundesanwaltschaft verhört. Unter Einwirkung starker morphinhaltiger Schmerzmittel und Psychopharmaka als auch in der völligen Isolation einer Kontaktsperre - Bekannte und Freunde, die ihn besuchten wollten, und selbst ein Anwalt seines Vertrauens wurden abgewiesen oder zum Teil über mehrere Monate inhaftiert, lediglich seinen Eltern gestattete man gelegentliche Besuche - unterwarf man ihn einer langen Reihe von Verhören und erpresserischen Nötigungen. In seiner jeder Art der Manipulation verfallenen Orientierungsnot war er seinen Bewachern vollständig ausgeliefert. Sie hielten ihn, obwohl zu keiner Zeit ein Haftbefehl gegen ihn verkündet wurde, da er im juristischen Sinne weder haft- noch vernehmungsfähig war, in Isolationsverwahrung, wiewohl von Flucht- oder Verdunkelungsgefahr in seinem Fall und Zustand kaum ausgegangen werden konnte. Um den Druck auf ihn zu erhöhen, wurde ihm nach eigenen Angaben angedroht, im Falle mangelnder Kooperationsbereitschaft dringend notwendige Rehabilitationsmaßnahmen wie die Prothesenanpassung und seine Überweisung in ein öffentliches Krankenhaus auszusetzen.

Obwohl er in einem existentiellen Trauma aus Angst, Ohnmacht und hochgradiger Bewußtseinseintrübung außerstande war, faktisch mitzubekommen, was um ihn herum geschah, bei den Vernehmungen nur gelegentlich ein Tonband mitlief und seine Aussagen von Kriminalbeamten zumeist aus dem Gedächtnis heraus protokolliert wurden, sammelte sich in dieser Zeit seines Martyriums eine Akte von fast 1300 Seiten Umfang an. Schon nach den ersten Verhören wurden seine Verlobte Sybille Straub und seine Bekannte Silvia Herzinger verhaftet. Ihnen wurde Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Vorbereitung und Verabredung zur versuchten Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion sowie versuchte gemeinschaftliche Sachbeschädigung und Brandstiftung vorgeworfen. Insgesamt wurden aufgrund dieser Vernehmungsprotokolle sechs Personen belastet, zumindest strafrechtliche Verfahren gegen sie antizipiert, so auch gegen Suder und Gauger.

Die Bundesanwaltschaft stand seinerzeit unter erheblichem Rechtfertigungsdruck. Seit dem Deutschen Herbst des Jahres 1977, als die entführte Landshut in Mogadischu vom einem GSG-9-Sonderkommando gestürmt wurde und Tags darauf die erste Generation der RAF in Stammheim nach offizieller Lesart kollektiven Selbstmord beging, hatte das BKA keine weiteren Fahndungserfolge mehr vorweisen können. Die unfreiwillige Sprengstoffexplosion in Heidelberg bot der obersten Ermittlungsbehörde die Möglichkeit, mit einer neuen Terrorismusrezeption an die Öffentlichkeit zu gehen. Daß dabei Teile der Vernehmungsprotokolle gezielt an die Presse lanciert wurden, um das Gespenst eines subversiven Terrornetzwerks aus der Gruft zu erwecken, das als Nachfolgeorganisation der RAF die bundesdeutsche Gesellschaft und den Rechtsstaat gleichermaßen gefährdete, sollte offenbar die Legitimationsgrundlage dafür schaffen, jede Form der Staatskritik unter terroristischen Generalverdacht zu stellen und ihre Klandestinität in die Nähe des Organisationsstraftatbestands zu rücken. So stilisierte Bundesanwalt Kurt Rebmann Feilings Unglück denn auch zu einem entscheidenden Schlag gegen die Revolutionären Zellen, über deren Ziele und organisatorischen Strukturen nun die wildesten Spekulationen in Umlauf gebracht wurden.

Solidaritätstransparent für Sonja und Christian - Quelle: www.verdammtlangquer.org

... schreibe es an jede Häuserwand
Quelle: www.verdammtlangquer.org

Trotz seiner verzweifelten Lage konnte Feiling Tonbandkassetten aus seinem Polizeigewahrsam herausschmuggeln lassen, in denen er auf seine zwanghaft und manipulativ von ihm abgepreßten Aussagen aufmerksam machte. Weder könnte er sich an deren Zustandekommen erinnern noch ihren Inhalt bestätigen, da er nicht einmal wisse, ob sie überhaupt von ihm stammten. Er bekräftigte, daß er diese Aussagen bei klarem Bewußtsein und unter freier Willensbekundung in dieser Form nie und nimmer gemacht hätte. Das Verfahren gegen ihn wurde später eingestellt. In seiner Prozeßerklärung im September 1980 erklärte Feiling, daß den "Fahndern mein lebensgefährlicher Zustand, die Traumatisierung nach der Erblindung, meine völlige Hilf- und Orientierungslosigkeit gerade richtig (kam). 1.300 Seiten Vernehmungsprotokolle, die von mir stammen sollen, sind Ergebnis dieser Situation. Da werden dann auch Personen aus meiner damaligen fantastischen Traumwelt in RZ-Zusammenhänge gebracht, bzw. es werden Personen belastet, die ich nie kannte." [4]

Ungeachtet dessen, daß er seine Aussagen im Prozeß widerrief, wurde Sybille Straub 1982 zu einer 15monatigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt, während Sylvia Herzinger einen Freispruch erhielt. Die rechtswidrig erpreßten und nach Gesetzeslage einem Verwertungsverbot nach § 136a StPO unterliegenden Vernehmungsprotokolle führten im Prozeß gegen Gerd Albartus und Enno Schwall unter der Begründung, Feiling habe mit seinem Widerruf nur alte Kampfgenossen decken wollen, zu Verurteilungen von vier Jahren und neun Monaten bzw. sechs Jahren. Obwohl inzwischen, belegt durch wissenschaftliche Gutachten, außer Frage steht, daß Feilungs Aussagen das Resultat von Verhörmethoden unter Ausnutzung einer posttraumatischen Extremsituation waren, stützten sie seinerzeit dennoch etliche Haftbefehle und werden noch heute als belastendes Beweismaterial im Verfahren gegen Suder und Gauger zugelassen.

Es ist keineswegs abwegig, daß Ermittlungsbehörden und Justiz es darauf angelegt hatten, die Wehrlosigkeit Feilings in einer Weise zu instrumentalisieren, die extralegalen Vernehmungsmethoden unter dem Deckblatt der Terrorismusabwehr einen legitimatorischen Anstrich verschaffen sollte. Auf jeden Fall wurden durch ermessensmißbräuchliche Auslegung exekutiver Befugnisse erwirkte Geständnisse, Verhörprotokolle und Tatvorwürfe in den Nimbus unabdingbarer Polizeiarbeit gestellt und erfuhren so eine Dynamik, die bis heute fortdauert.

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, daß die Akte Feiling jede nur zu berechtigt gegen sie erhobene Kritik überstand, solange ihr kriminaltechnischer Nutzen behauptet und für die Erweiterung des ermittlungsstrategischen Instrumentariums polizeilicher und nachrichtendienstlicher Möglichkeiten gesorgt wurde. Dazu gehörten unter anderem der Lauschangriff, die Überwachung der Telefonie und Telekommunikation, die Kronzeugenregelung, die einen politische Gesinnung kriminalisierenden Organisationsstraftatbestand nach Paragraph 129 a und 129 b schuf, und, wie im Fall Feiling, die strafprozessuale Verfolgung von Personen, die durch illegale Verhörpraktiken belastet wurden. Von zentraler Bedeutung war hierbei die Kronzeugenregelung, die es Ermittlungsbehörden erlaubte, in Gewahrsam genommene Verdächtige im Austausch gegen prozeßdienliche Informationen und der Preisgabe von Personen aus dem Umfeld linker Widerstandsgruppen Hafterleichterungen bzw. Straferlasse anzubieten und sie als Zeugen der Anklagevertretung für ein Gerichtsverfahren zu präparieren.


Fußnoten:

[3] http://www.freilassung.de/div/texte/rz/zorn/Zorn20.htm

[4] http://www.freilassung.de/div/texte/rz/zorn/Zorn61.htm

27. April 2013