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KORRESPONDENZEN/008: HJ-Generation im MfS - Eine Richtigstellung (SB)


HJ-Generation im MfS

Eine Richtigstellung von Dr. Helmut Müller-Enbergs zum Beitrag

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GEHEIM/234: Geheimdienste in Deutschland Ost und West nach 1945 (5)


In "Schattenblick" (v. 9. Mai 2008) skizziert Gotthold Schramm die antifaschistischen Wurzeln des MfS. In einer längeren Passage geht er auf die Integration von Funktionsträgern des Nationalsozialismus in die Nachkriegsgesellschaften ein. Darin flocht er eine Äußerung von mir ein, nach der ich versucht hätte, mit der "Aussage, die Gründerväter des MfS entstammten einer 'Hitlerjugendgeneration', das Vorgehen in Ost und West gleichzusetzen, ganz offensichtlich in der Absicht, eine Entlastung für die Praxis in der späteren BRD und eine Belastung der späteren DDR zu erreichen." Das vermeintlich für Gotthold Schramm Offensichtliche ist so offensichtlich nicht. Möglicherweise ist eben die Aussage nicht vollständig erfasst, missverstanden worden oder dokumentiert ein hinsichtlich des Begriffes HJ-Generation noch jungfräuliches Kenntnispotential. Folglich bedarf es zum einen der genauen Wiedergabe des Zitates, zum anderen als Erinnerungshilfe eine Erläuterung des Begriffs.

Zunächst das Zitat: "Die beiden Siegermächte von 1945, die Sowjetunion und Amerika, nutzten die braunen Kameraden, ob als inoffizielle Mitarbeiter, Militärs oder Techniker usw.", führe ich in dem Artikel "Wir wissen, wo wir irrten" im "Neuen Deutschland" in seiner Ausgabe vom 25. Oktober 2007 aus, auf den Gotthold Schramm Bezug nimmt. Und direkt weiter: "Das MfS füllte seine Reihen aus der HJ-Generation, die Organisation Gehlen aus dem hauptamtlichen Reservoir der NS-Dienste. 'Keine Frage', schrieben Eichner und Schramm, 'irgendwo mussten die Mitläufer und Aktivisten des Nazireiches bleiben, sie mussten in die Nachkriegsgesellschaft integriert werden'. Im Gegensatzpaar vom "alten Kameraden" und "Antifaschisten" stört freilich der Befund, dass auch das MfS für sein inoffizielles Netz aus diesem Milieu geschöpft hat." Unstreitig dürfte sein, dass das MfS seine Reihen aus der HJ-Generation aufgefüllt, wie ebenfalls nicht zu leugnen ist, dass sich die Organisation Gehlen aus dem hauptamtlichen Reservoir der NS-Dienste bedient hat. Nur: Von "Gründervätern" oder einem Gleichsetzen von MfS und Organisation Gehlen bzw. ihrer Mitarbeiter ist bei mir keinesfalls die Rede, weder intentional noch fahrlässig.

Schließlich zum Begriff der HJ-Generation (alternativ Flakhelfergeneration). Unter denen, die sich intensiver mit den Bürgern der DDR und ihrer Geschichte befassen, ist der Begriff eine Selbstverständlichkeit. Er meint oftmals, wie Prof. Dr. Gerd Dietrich (HU Berlin) formuliert, jene Altersgruppen im deutschsprachigen Raum, die zwischen 1919 und 1930 geboren wurden - nicht mehr, nicht weniger. Die HJ-Generation stellt seiner Meinung nach eine politische und politisierte Generation dar, wie sie in der deutschen Geschichte ihresgleichen sucht. Dr. Jens Gieseke beispielsweise - und mit ihm eine Reihe Autoren wie Helmut Zwahr (1993), Geoffrey A. Hosking und George Schöpflin (1997), Ralph Jessen (1999), Hans-Jürgen Lange (2000), Hagen Findeis (2002) und Alan McDougall (2004) - hat in seinen umfassenden Untersuchungen zur Geschichte des MfS darauf verwiesen, dass das Reservoir alter Kommunisten recht klein war und das MfS bereits 1952 über 8800 Hauptamtliche verfügt hat. Um den fortschreitenden Personalbedarf zu decken, musste ein stärkerer Rückgriff auf sehr junges Personal erfolgen, eben auf die HJ-Generation, unter der Gieseke diejenigen mit den Geburtsjahrgängen um 1930 versteht. Bei diesen Literaturbeispielen will ich es belassen und anmerken, das mit der gleichen Selbstverständlichkeit die Kollegen den Begriff HJ-Generation für eine bestimmte Alterskohorte beim MfS benutzen - ohne mit der Idee zu sympathisieren, diese mit den Hauptamtlichen der NS-Dienste gleichzusetzen.

Das Missverständnis ist allerdings symptomatisch: Es zeigt zuverlässig an, dass - wie in diesem Fall Gotthold Schramm - allein die eigenen und gut eingelaufenen Wahrnehmungsmuster zum Maßstab genommen werden, ohne zu hinterfragen, ob gemeint ist, was hineingelesen wird. In diesem konkreten Fall ist die Angelegenheit insoweit zusätzlich missglückt, als nicht einmal genau das gelesen wird, was geschrieben steht. Zur Diskussion gehört aber die Fähigkeit, das Gegenüber in der jeweiligen Sprache zu verstehen. Insoweit Wissenschaftler bei der Bewertung des MfS und seinen stummen Zeugen die tschekistische Sprache zu beherrschen haben, darf umgekehrt von den schreibenden Zeitzeugen erwartet werden, sich in die Begriffswelt ihrer Biographen einzuüben, oder - falls dies zu beschwerlich sein sollte - sich zumindest in einem solchen Fall auf keine öffentliche Debatte einzulassen. Besser ist es noch - schlicht zu fragen.


Literatur
Dietrich, Gerd: Karrieren im Schnellverfahren. Die HJ-Generation in der frühen DDR. In: hochschule ost 5(1996)2, S. 25-34.
Gieseke, Jens: Volkspolizei und Staatssicherheit. Zum inneren Sicherheitsapparat der DDR. In: Hans-Jürgen Lange (Hg.): Die Polizei der Gesellschaft. Opladen 2003, S. 93-122, hier 103.
Münkel, Daniela: Politische Generationen in der Bundesrepublik. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 56(2008)2, S. 139-153.


14. Januar 2008