Schattenblick → INFOPOOL → REDAKTION → REPORT


ZEITZEUGEN LINKS/017: Treu geblieben - linkshuman und solidarisch ...    Rolf Becker im Gespräch (SB)


Grafik: © 2016 by Schattenblick

Gespräch mit Rolf Becker am 18. Oktober 2016 in Hamburg-St. Georg - Teil 8

Rolf Becker berichtet im achten Teil des Gesprächs von den Gründen und Umständen seines Eintretens für politische Gefangene und des Kampfs um bessere Haftbedingungen. Zur Sprache kommen dabei unter anderem eine bemerkenswerte Resolution auf dem Gründungskongress der IG Medien 1989 wie auch die Besuche bei den drei RAF-Gefangenen in Lübeck.


Im Gespräch - Foto: © 2016 by Schattenblick

Rolf Becker
Foto: © 2016 by Schattenblick


Schattenblick: Du hattest auch keine Berührungsängste bei der Betreuung von Gefangenen der RAF. Was hat dich dazu bewogen, beispielsweise Betreuer von Christian Klar [1] zu werden?

Rolf Becker: Aus der Erinnerung und anhand von Dokumenten: Der Tod von Holger Meins [2] am 9. November 1974 bewegte auch uns in den Gewerkschaften. Grundsätzlich vertraten wir den Standpunkt der Arbeiterbewegung, dass die Befreiung der Unterdrückten nur durch die Bewegung der Massen selbst erfolgen, sich nicht, isoliert von der Arbeiterklasse nach den Vorstellungen einer Gruppe wie der Roten-Armee-Fraktion richten kann. Wir mussten wahrnehmen, dass nicht nur Regierung und Medien, sondern auch Gewerkschaftsführungen die Anschläge der RAF zum Anlass nahmen, mehr "Innere Sicherheit" zu fordern und zur "Verteidigung des Rechtsstaates" aufzurufen, die Arbeitenden also zu spalten, um keinen Widerstand gegen die absehbaren sozialen Einschnitte infolge der damals beginnenden und sich bis heute steigernden Wirtschaftskrise aufkommen zu lassen.

Für uns galt, was beispielsweise Eugen Leviné [3] nach der Niederschlagung der Münchner Räterepublik 1919 vor Gericht erklärt hatte: "Die proletarische Revolution bedarf für ihre Ziele keines Terrors, sie hasst und verabscheut den Menschenmord. Sie bedarf dieser Kampfmittel nicht, weil sie nicht Individuen, sondern Institutionen bekämpft, wie sie nicht mit naiven Illusionen in die Arena tritt, deren Enttäuschung sie blutig zu rächen hätte. Sie ist kein verzweifelter Versuch einer Minderheit, die Welt mit Gewalt nach ihrem Ideal zu modeln, sondern die Aktion der großen Millionenmasse des Volkes, die berufen ist, die geschichtliche Mission zu erfüllen."

Zugleich achteten wir die Tatsache, dass Holger Meins in der Auseinandersetzung mit einem Gegner in den Tod gegangen war, der auch unser Gegner ist. Wir waren ebenso wenig wie die RAF bereit, die herrschende Klasse und ihre Institutionen von ihrer historischen Verantwortung für die bestehenden Zustände freizusprechen. Uns empörte, was Karl Carstens, damals noch CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender, 1974 während des Hungerstreiks von Holger Meins gegen die Bedingungen seiner Einzelhaft wenige Wochen vor dessen Tod in einer Sendung des ZDF erklärt hatte: "Ich glaube, wir müssen uns fragen, ob es richtig ist, einen Untersuchungshäftling, der bei klarem Verstande sich durch Hungern selbst das Leben nehmen will, mit Gewalt daran zu hindern." 1979 wurde er Bundespräsident.

Und uns empörten die Bedingungen der Einzelhaft. Monatelange Einzelhaft, bei Erwartung jahrelanger Fortsetzung, ist Entzug der Grundlagen menschlicher Existenz, Auslöschen der Inhaftierten als gesellschaftliche Wesen. Gefangenen, die nicht bereit sind sich selbst aufzugeben, bleibt nur Widerstand und Fortsetzung ihres Befreiungskampfes hinter Mauern. Für Holger Meins endete er tödlich.

Wenige Wochen nach seinem Tod zog ich in die Wohngemeinschaft ein, der er angehört hatte, Mainzer Straße 4a, Berlin-Wilmersdorf. Nicht in sein Zimmer, das hatte ein Freund von ihm übernommen. Ich wusste zunächst nicht mal, dass er dort gewohnt hatte. Das wurde mir allerdings schon bald nach meinem Einzug klar, als bei einer nächtlichen Razzia der Polizei mein Adressbuch für einige Wochen einbehalten wurde. Meine kurzzeitige Ahnungslosigkeit hatte einen einfachen Grund: Holger Meins gehörte zu den Studierenden der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin - zusammen mit Harun Farocki [4] und Hartmut Bitomsky [5], die ich 1971 als Mitwirkender in ihrem Film "Eine Sache, die sich versteht" kennengelernt hatte. Aus diesem Kreis, zu dem auch Studenten von Walter Höllerer [6] an der TU gehörten, kam 1974, als ich an der Volksbühne (West) arbeitete, der Hinweis auf das freie Zimmer. Hinweis zugleich auf die Tatsache, dass der Widerstand, der sich nach der Niederschlagung der 68er Bewegung radikalisierte, bis in bürgerliche Schichten reichte. Und in die Gewerkschaften:

Hamburg, 15. April 1989, Gründungskongress der IG Medien, 12 Jahre nach dem "Deutschen Herbst": als kleine Gruppe Delegierter aus dem NDR stellten wir folgenden Antrag: "Die Delegierten des 1. Gewerkschaftstages der Industriegewerkschaft Medien - Druck und Papier, Publizistik und Kunst fordern die Bundesregierung und alle Verantwortlichen in Bund und Ländern auf, den hungerstreikenden RAF-Gefangenen schnellstens ein verhandlungsfähiges Angebot zu deren Forderungen auf Zusammenlegung zu unterbreiten. Begründung: Auch RAF-Gefangene sind Menschen.

Isolationshaft bzw. Sonderhaftbedingungen führen zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen, zu Persönlichkeitsverfall und sind überdies resozialisierungsfeindlich. Bisher scheiterten alle Versuche der RAF-Gefangenen humanere Haftbedingungen zu erreichen. Unter ihren spezifischen Haftbedingungen sehen sie in der konsequenten Nahrungsverweigerung die letzte Möglichkeit. Es ist ein verzweifelter Versuch, auch als Gefangene ein menschenwürdiges Dasein zu führen. Dieser Versuch darf nicht tödlich ausgehen.

Zwei Gefangene hungern bereits seit über 9 Wochen. Nach Bewertungen aus medizinischer Sicht befinden sie sich in akuter Lebensgefahr. Um die von Tag zu Tag 'realistischer werdende Todesspirale' aufzulösen und damit sich die Erfahrungen des Hungerstreiks von 1981 nicht wiederholen, ist schnellstens Handeln seitens der politisch Verantwortlichen notwendig. Jede weitere Verzögerung gefährdet Menschenleben. 'Der Staat hat in unserem Land, auch geschichtlich gesehen, noch allerhand an Menschlichkeit nachzuholen' (Klaus Bölling, 6. April 1989)."

Die Annahme des Antrags wurde von der Antragskommission zunächst abgelehnt. Als sich genügend Delegierte fanden, die ihn mit ihrer Unterschrift unterstützten, musste dennoch darüber abgestimmt werden. Ergebnis: der Antrag wurde ohne Gegenstimmen verabschiedet.

Gestützt auf diese einstimmige Entschließung wurde wenig später vom Hamburger Ortsverein der IG Medien der "Arbeitskreis für politische Gefangene" gegründet - gestützt auch auf das politische Mandat der Gewerkschaft, eingeschränkt nur durch das nach wie vor nicht überwundene Verbot des politischen Streiks. Unsere Kritik an den Aktionen der RAF war angesichts der staatlichen Maßnahmen gegen die Inhaftierten - Kontaktverbot, Isolation - kein Anlass uns nicht weiterhin solidarisch zu verhalten, Verbesserung ihrer Haftbedingungen und ihre Freilassung zu fordern. Das staatliche Vorgehen war Anlass uns einzusetzen für die Wahrung der Menschenrechte in unserem Land. Hinzu kam, dass uns unser Versäumnis bewusst war, nicht umgehend nach Niederschlagung der 68er Bewegung Kontakt zu ihren sich radikalisierenden Teilen aufgenommen zu haben. Auch wenn fraglich bleibt, ob die Stellungnahme einer gewerkschaftlichen Minderheit die Eskalation verhindert hätte - sie unterblieb, und damit auch eine geschichtlich notwendige Antwort.

"Wände werden Türen" - wir wollten dazu beitragen. Irmgard Möller [7], Hanna Krabbe [8] und Christine Kuby [9] waren im nahegelegenen Lübeck-Lauerhof inhaftiert. Wir bemühten uns um eine Besuchserlaubnis beim damaligen Justizminister Schleswig-Holsteins, Dr. Klaus Klingner [10], der bereit war sie uns zu erteilen, aber darauf hinwies, er müsse unsere persönlichen Daten nach Karlsruhe an den Verfassungsschutz weitergeben. Auch wenn es sich um eine gewerkschaftliche Initiative handele, würden wir aufgrund unsres Antrages die nächsten Jahre überwacht. Kein Problem - die von ihm vorgeschlagene Bedenkzeit schlugen wir aus. Wir haben die drei mehrfach besucht, die Besuchsbedingungen wurden von Mal zu Mal gelockert, zuletzt konnten wir mit Aldi-Tüten unkontrolliert passieren. Dr. Klingner und Dr. Maelicke [11], Beauftragter des Vollzugswesens, hatten offenbar ein Zeichen gegeben, mit uns großzügig zu verfahren. Wir hatten Dr. Maelicke das Buch über Irmgard Möller "Die schönste Jugend ist gefangen" mitgebracht - er dazu beim nächsten Gespräch: wie sie habe er vor Jahren in Freiburg an den Protesten anlässlich der Hausbesetzungen teilgenommen; er frage sich, was verhindert habe, dass sie an seiner Stelle und er an ihrer im Gefängnis von Lübeck-Lauerhof säße.

Es gab eine große Veranstaltung in der Petri-Kirche zu Lübeck, genutzt für kulturelle und religiöse Veranstaltungen sowie Kunstausstellungen vor etwa 700 Leuten für die Freilassung der drei Inhaftierten. Irmgard Möller hatte sie zunächst nicht gewollt, sich aber überzeugen lassen, dass das Angelegenheit der sie Unterstützenden sei. Bald darauf kam sie frei, wenig später auch Hanna Krabbe und Christine Kuby.

(wird fortgesetzt)


Fußnoten:


[1] Christian Klar (geb. 1952) gehörte der zweiten Generation der RAF an. Er wurde 1982 verhaftet und in zwei Gerichtsverfahren zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Seine mögliche Begnadigung sorgte in den 2000er Jahren für eine heftige öffentliche Debatte. Am 19. Dezember 2008 wurde er vorzeitig aus der Haft entlassen.

[2] Holger Meins (1941-1974) gehörte der RAF an und starb 1974 in Haft während eines Hungerstreiks in der JVA Wittlich.

[3] Eugen Leviné (1883-1919) war ein Revolutionär und KPD-Politiker. Als solcher hatte er prägenden Einfluss auf die zweite Phase der Münchner Räterepublik im April 1919.

[4] Harun Farocki (1944-2014) war ein deutscher Filmemacher, Autor und Hochschuldozent für Film. Er gehörte zu den wichtigen Essayfilmern und hat mehr als 90 Filme realisiert.

[5] Hartmut Bitomsky (geb. 1942) ist ein deutscher Filmemacher und Filmproduzent. Er war von 2006 bis 2009 der Direktor der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb).

[6] Walter Friedrich Höllerer (1922-2003) war ein deutscher Schriftsteller, Literaturkritiker und Literaturwissenschaftler.

[7] Irmgard Möller gehörte der RAF an und war die einzige Überlebende der sogenannten Todesnacht von Stammheim am 18. Oktober 1977, in der führende Mitglieder der ersten Generation der RAF in der JVA Stuttgart umkamen. Sie überlebte schwerverletzt, wurde 1979 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt und war von 1972 bis zu ihrer Entlassung 1994 in Haft.

[8] Hanna Krabbe (geb. 1945) gehörte der RAF an. Sie wurde zu lebenslanger Haft verurteilt und 1996 begnadigt.

[9] Christine Kuby (geb. 1957) gehörte der RAF an. Sie wurde 1979 zu lebenslanger Haft verurteilt und 1995 entlassen.

[10] Klaus Klingner (geb. 1935) war als SPD-Politiker von 1988 bis 1996 Justizminister des Landes Schleswig-Holstein.

[11] Bernd Maelicke (geb. 1941) ist ein deutscher Jurist und Sozialwissenschaftler und seit 2005 Direktor des Deutschen Instituts für Sozialwirtschaft (DISW) und Honorarprofessor an der Leuphana Universität Lüneburg. Von 1990 bis 2005 leitete er als Ministerialdirigent im Ministerium für Justiz, Europa, Jugend und Frauen in Schleswig-Holstein die Abteilung "Strafvollzug, Soziale Dienste der Justiz, Straffälligenhilfe, Gnadenwesen".


8. Juni 2017


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang