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ZEITZEUGEN LINKS/020: Treu geblieben - niemanden vergessen ...    Rolf Becker im Gespräch (SB)


Grafik: copy; 2016 by Schattenblick


Gespräch mit Rolf Becker am 18. Oktober 2016 in Hamburg-St. Georg - Teil 11

Rolf Becker berichtet im elften Teil des Gesprächs von einer bemerkenswerten Petition zugunsten einer Haftentlassung Christian Klars und weiterer Gefangener der RAF wie auch der Haltung des Bundespräsidenten Horst Köhler in dieser Frage. Dann endlich kann er einen Tag mit Klar außerhalb des Gefängnisses verbringen - acht Monate später schließlich der erlösende Anruf ...


Im Gespräch - Foto: © 2016 by Schattenblick

Rolf Becker
Foto: © 2016 by Schattenblick


Rolf Becker: Nach dem Tod von Bundespräsident Johannes Rau, der sich nach seiner zitierten Erklärung nicht mehr für die Freilassung der noch Inhaftierten Mitglieder der RAF einsetzen konnte, lag die "Akte Christian Klar" auf dem Schreibtisch seines Nachfolgers im Amt, Horst Köhler. Aus unserer Sicht blieben jetzt nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder entschied sich der neue Bundespräsident trotz fortgesetzter, teilweise gesteigerter Kampagnen in den Medien anders als sein Vorgänger, oder wir mussten zumindest erreichen, dass die "Mindesthaftdauer" von 26 Jahren nicht überschritten wurde - entsprechend bemühten wir uns um Unterstützung.

Dazu aus nachstehender Petition von Mai 2005: "Sehr geehrter Herr Bundespräsident, wir Teilnehmer des antifaschistischen Widerstandes treten für die Freilassung der ehemaligen RAF-Mitglieder Christian Klar, Brigitte Mohnhaupt und Eva Haule ein. Viele von uns wissen aus eigener Erfahrung, was jahrelange Haft bedeutet. (...) Die RAF ist Geschichte. Die Gefangenen sagen seit Ende der 80er Jahre, dass sie nicht zum bewaffneten Kampf zurückkehren werden. Es besteht also keine Rückfallgefahr. Weitere Haft hätte den Charakter von Vergeltung und Rache, die nicht zum Justizsystem eines demokratischen Landes gehören."

Erstunterzeichnende dieses Briefes, deren Namen und Anmerkungen zu ihrer Person ich für unerlässlich halte hier zu dokumentieren: Ottomar Rothmann - ehemaliger politischer Häftling KZ Buchenwald Hftl.Nr. 6028; Wolfgang Szepansky, KZ Sachsenhausen, 5 Jahre Haft, Hftl.-Nr. 33524; Träger des Bundesverdienstkreuzes; Jutta Bergt-Pelz, Auschwitz-Häftlings-Nr. 41978; Alfred Fleischhacker, von Juli 1939 bis August 1947 in Großbritannien als rassisch Verfolgter, von 1943 bis Kriegsende als Freiwilliger in London, Fire Brigade nach V1-Angriffen der Nazi-Luftwaffe in London; Peter Gingold, Teilnahme an der französischen Resistance, Träger des französischen Befreiungsordens, der Widerstandsmedaille der Stadt Frankfurt/M und der Ossietzky-Medaille der internationalen Liga für Menschenrechte; Kurt Gutmann, ehemaliger Stabsfeldwebel im schottischen Hochlandregiment "Black Watch"; Kurt Hälker, ehemaliger Angehöriger der Resistance, der 1.französischen Armee der US-Streitkräfte; Werner Händler, KZ Sachsenhausen Häftling 12909; Edmund Hünigen, Slowakische Befreiungsfront; Werner Krisch, ehemaliger Häftling der KZ Auschwitz, Sachsenhausen, Buchenwald, Hftl.-Nr. 143116; Adam König, ehemaliger Häftling der KZ Sachsenhausen, Auschwitz, Mittelbau Dora, Bergen-Belsen; Lore Krüger, Travail Allemand der Resistance, Bewegung Freies Deutschland (USA); Werner Knapp, Angehöriger der tschechoslowakischen Auslandsarmee 1939-1945 auf alliierter Seite, Fronteinsatz in Frankreich gegen Hitlerdeutschland sowie 1944/45 an der 2.Front, Angehöriger eines Panzerregiments; Klaus Trostorff, KZ Buchenwald, Häftling Nr. 1819; Fritz Teppich, Republikanischer Spanienkämpfer vom 5.Sept.1936 bis 31.März 1939, dann Flucht, u.a. Lager Vernet. Im Nachkrieg Mitbegründer jüdischer Gruppierungen. Im Gedenken an meine vergaste Mutter, meinen bei Lagerevakuierung 1945 nahe Berlin NS-erschossenen jüngsten Bruder Helmut und zahlreiche weitere ermordete Angehörige. Edith Sparmann, 4 Jahre Haft, vom 1.11.1941 bis zur Befreiung 1945 FKL Ravensbrück mit der Nummer 8291; Barbara Retinann - FKL Ravensbrück Nr. 37301; Gerhard Zadek - ehemaliges Mitglied der jüdischen Widerstandsgruppe Herbert Baum; Georgia Peet, ehemaliger KZ-Häftling von Ravensbrück; Ernst Melis, 96 Jahre, 14 Jahre Emigration, Resistancekämpfer-Auszeichnung; Lisl Jäger, 1941 wegen Flugblättern gegen den Nazi-Krieg verhaftet, Häftling von Ravensbrück bis zur Befreiung; Gertrud Müller, KZ Ravensbrück, Häftl.Nr. 29125, 13 Monate Einzelhaft in Stuttgart, 6 Monate in Geislingen, 30. April 45 Befreiung in Allach.- "Ich finde es grausam, junge Menschen so viele Jahre zu inhaftieren. Das sind politische Urteile, die aufgehoben werden sollten."; Esther Bejarano, KZ Auschwitz und KZ Ravensbrück; Vorsitzende des Auschwitz-Komitees der Bundesrepublik Deutschland.

Die Petition wie auch etliche weitere Briefe von Organisationen und Einzelpersonen mögen dazu beigetragen haben, dass sich der Bundespräsident trotz aller Vorbehalte aus Regierungsparteien und Medien zum Treffen mit dem Gefangenen entschloss. DER SPIEGEL, 30. Januar 2007, unter Bezug auf die Bildzeitung: "'Welcher Verbrecher bekommt schon Besuch vom Herrn Bundespräsidenten?', warnte der bayerische Ministerpräsident das Staatsoberhaupt. Es dürfe 'niemals der Eindruck entstehen, dass es bessere Verbrecher gibt', sagte Stoiber. Auch dürfe es 'ohne Reue und ohne eine ernst gemeinte Entschuldigung bei den Familien und Hinterbliebenen der Terroropfer' keine Gnade des Staats für Terroristen geben. Stoiber bezeichnete es zudem als 'schwer erträglich', wenn die Terroristen 'nach ihrer Freilassung durch die deutschen Talk Shows tingeln würden und ihre angeblich besseren Motive für ihre Verbrechen erläutern'". Seitens der CSU wurde offen über die Frage diskutiert, ob einem Präsidenten, der einen Terroristen begnadigt, eine zweite Amtszeit gegönnt sein solle.

Das Ergebnis des Treffens zwischen dem höchsten Repräsentanten der Bundesrepublik und dem Gefangenen am 4. Mai 2007 in den Räumen des Karlsruher Bundesgerichtshofs - weniger souverän als Günter Gaus, der den Weg in die langjährige Lebenswelt des Gefangenen, die JVA Bruchsal, nicht scheute - war entsprechend vorhersehbar. Köhler, der seine Bereitschaft den Langzeitinhaftierten freizulassen auch mit dem anberaumten Treffen deutlich gemacht hatte, benötigte nur drei Fragen, um es scheitern zu lassen: ob sich Christian noch als politischen Gefangenen verstünde, ob er bereit sei sämtliche Aktionen der RAF aufzuklären und ob er sich öffentlich - wie von Bildzeitung und anderen gefordert - entschuldigen werde.

Am 7. Mai 2007 erfolgte die offizielle Erklärung seines Amtes: "Der Bundespräsident hat entschieden, von einem Gnadenerweis für Herrn Christian Klar abzusehen. Der Gnadenentscheidung betreffend Herrn Christian Klar lagen u.a. Stellungnahmen der Bundesministerin der Justiz, des erkennenden Gerichts, der Generalbundesanwältin und der für den Strafvollzug verantwortlichen Justizvollzugsanstalt sowie ein kriminalprognostisches Gutachten zu Grunde. Der Bundespräsident führte darüber hinaus zahlreiche Gespräche, auch mit Hinterbliebenen der Opfer. Abschließend sprach der Bundespräsident am 4. Mai 2007 mit Herrn Klar."

Bemerkenswert, auch im Nachhinein, der spontane Kommentar des ehemaligen Vizepräsidenten beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, Ernst Gottfried Mahrenholz, in der Leipziger Volkszeitung vom 07.05.2007: "Was mich am meisten überrascht, dass vieltausendfache Judenmörder ohne eine solche öffentliche Debatte nach etwa 20 Jahren entlassen wurden. Manchmal früher, manchmal ein klein wenig später. Das war nie ein Problem. Auch nicht im Blick auf die Angehörigen. Jetzt, mit einem Male, wurde das ein Problem, weil ein Bundespräsident über die Begnadigung eines RAF-Täters nachdenkt."

Wie aufgrund seiner Entscheidung erwartet, wurde Köhler gut ein Jahr danach am 1. Juli 2009 für eine weitere Amtszeit wiedergewählt, die jedoch bereits ein Jahr später endete: am 31. Mai 2010 erklärte Köhler überraschend seinen sofortigen Rücktritt. Anlass war die parteiübergreifende und medienweite Kritik seiner Äußerung vom 22. Mai 2010, nach einem Besuch von Bundeswehreinheiten in Afghanistan, "dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen. Es wird wieder sozusagen Todesfälle geben. Nicht nur bei Soldaten..." Seine Bemerkung entsprach inhaltlich dem, was in den "Verteidigungspolitischen Richtlinien" seit 1992 niedergeschrieben ist, sein Fehler war es, das öffentlich zu machen. So erlebte er auf andere Weise, was der Gefangene, den er nicht freiließ, seit Jahren von gleicher Seite hatte hinnehmen müssen.

Für uns galt weiterhin als Ausgangspunkt aller Bemühungen: Leben und Überleben für den Gefangenen, weggeschlossen im 25. Jahr, ausgeschlossen von allem, was für uns Alltag ist. Zwar konnte er zeitweilig wieder, was ihm viele Jahre verwehrt war, Wolken ziehen sehen und Geräusche des Windes hören, aber leben? Bertolt Brecht, zitiert von Käthe Reichel, die sich für Christians Freilassung einsetzte, ihn später zu sich nach Buckow einlud und bis zu ihrem Tod unterstützte: "Glück ist Hilfe".

Die JVA Bruchsal hielt sich an die Beschlüsse der Vollzugskonferenz und lockerte die Haftbedingungen: begleitete Ausführungen, gemeinsame Besuche mit dem Betriebsratsvorsitzenden des Berliner Ensembles. Ein mich bis heute bewegendes Erlebnis: die Anfrage, ob ich in wenigen Tagen in Bruchsal sein könne, um einen Tag mit Christian Klar außerhalb des Gefängnisses zu verbringen - unbeaufsichtigt. Ich habe sofort zugesagt, dass ich am Vorabend ankommen, einen Mietwagen nehmen und am nächsten Morgen mit Christian irgendwohin rausfahren würde. Einzige Auflage: kein Wagen mit Karlsruher Nummer, keine Fahrt nach Karlsruhe, Vorsicht in Bruchsal, da die Beamten der JVA nicht über den Ausflug informiert seien und überreagieren könnten, falls sie einen Gefangenen außerhalb der Anstalt antreffen. Also einen Audi TDI gemietet, mit Münchner Kennzeichen.

Morgens kurz vor acht begrüßten Christian und ich uns im Vorraum der Anstalt. Wir erhalten Papiere, damit wir uns bei einer Kontrolle oder einem Verkehrsunfall ausweisen konnten. Dann der für mich immer noch kaum fassbare Moment, als sich die gigantische, elektrisch gesteuerte Eisentür öffnet und wir die ersten Schritte rausgehen, uns noch einmal umsehen, ob uns jemand folgt - nichts. Wir sind draußen. Nach fast 26 Jahren, seit dem 16. November 1982, sein erster Tag in Freiheit.

Ich habe den Wagen weit entfernt geparkt, so dass wir wahrnehmen können, ob uns jemand folgt. Niemand. Christian wundert sich über den großen Wagen, den ich auch aus Sicherheitsgründen gewählt habe. An der Navigation hat er besonderes Interesse, kommt auf Anhieb besser damit zurecht als ich. Über die Autobahn nach Pforzheim. Ein sonniger Tagesanfang. Bummel durch die Stadt. Christian wundert sich über das im Lauf der vergangenen 25 Jahre durch viele Neubauten veränderte Stadtbild. Einkaufen in einem großen Kaufhaus. Zurückhaltung meinerseits, er möchte alles selber machen, verbunden mit der Frage "erkennen die mich". Er wird von den Verkäuferinnen freundlich beraten, bewegt sich unter den anderen Kunden als ginge er täglich einkaufen. Neue Schuhe. Er bezahlt mit selbstverdientem Geld, ist erstaunt über die hohen Preise.

Frühstück aus der Hand vor einem kleinen Bäckerladen, danach weiter in Richtung Schwarzwald, Besuch von Christians Mutter in der Reha. Einlage am Tresen der Kaffeestube beim Abholen von Kaffee und Kuchen: die Bedienung möchte von mir ein Autogramm; mit Blick auf Christian: "Ich glaub, Sie hab ich auch schon irgendwann gesehen, weiß aber nicht mehr, wo". Antwort: "Schon gut, ich spiel nur ne kleinere Rolle."

Kurz vor Bad Herrenalb stellen wir den Wagen ab, begeben uns auf einen Waldweg, immer aufwärts, erst über steinige und überwachsene Pfade, dann weiter auf einem mit Sand und Kieseln befestigten Fahrweg. Der Himmel ist inzwischen bedeckt, später fängt es an zu nieseln. Der Blick wird freier. Leider können wir nicht ganz hinaus auf die Höhen, sondern müssen an rechtzeitige Rückkehr denken.

Wir halten Ausschau nach einem guten Restaurant - Christian wünscht sich ein italienisches. Leider sind in den Nachmittagsstunden die Esslokale geschlossen, auch in einem Ort nördlich von Bruchsal fragen wir vergeblich. So beschließen wir uns in Bruchsal etwas Essbares zu besorgen. Christian bleibt - dem Hinweis der JVA-Leitung entsprechend - im Wagen, ich laufe im Regen zu einem Dönerladen, hole Käserollen, eine türkische Pizza für Christian und ein Döner für mich, Ayran für uns beide. Prasselnder Regen hüllt den Wagen ein, aus dem Autoradio Musik. Wie auf einem ganz normalen Ausflug. Vor der JVA auf einem Parkplatz bleibt noch Zeit für ein Gespräch. Kurz vor 17 Uhr melden wir uns pünktlich zurück. Besorgte Fragen nach dem Verlauf des Tages, ob es irgendwelche Vorfälle gegeben habe, oder gar eine Begegnung mit der Polizei. Bereits am Vormittag hätten die Stuttgarter Nachrichten sich nach Christian erkundigt - es sei nicht auszuschließen, dass die Presse durch Mitarbeiter der JVA aufmerksam gemacht worden sei.

Zum Abschluss des Tages, nachdem ich mich von Christian verabschiedet hatte, Rundgang durch die Trakte mit den Zellen, mir von Besuchen anderer Anstalten vertraut: eisenvergitterte, etwa 1 Meter breite Umgänge, Sicherheitsnetze von Seite zu Seite zur Verhinderung von Suizidsprüngen. Eine Zelle: Größe etwa 3 x 2 Meter, gegenüber der Tür ein hochgesetztes, vergittertes Fenster im Querformat, das Tageslicht kaum ausreichend. Tisch, 2 Stühle, Regal, Schrank, Halterung für TV/PC. Christians Zelle ist verschlossen. Er wird jetzt wieder "drin" sein. Für wie lange noch?

Acht Monate später, am 19. Dezember 2008 sein Anruf: "Ich bin draußen!"

Ich habe Christian nie auch nur eine einzige Frage zu dem gestellt, was die RAF konkret gemacht hat. Ich wollte und will es nicht wissen, will nicht in eine Situation kommen, in der ich etwas aussagen oder verschweigen müsste. Für unsere Gewerkschaftsinitiative blieb - trennend und verbindend - als Klammer: gleicher Gegner, aber andere Methoden des Widerstands; Solidarität trotz aller Differenzen, zumal wenn es um Auseinandersetzungen geht, die in der bisherigen Geschichte der Bundesrepublik unter Einsatz des Lebens nur wenige geführt haben. Wir treffen uns regelmäßig. Nächste Tage wieder.

(wird fortgesetzt)

13. Juli 2017


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