Buddhistische Monatsblätter Nr. 1/2015, Januar - April 2015
Zeitschrift der Buddhistischen Gesellschaft Hamburg e.V.
Samatha und Vipassana - Finger, die zum Mond zeigen
von Sister Cittapala
Was sind die Unterschiede zwischen Ruhe- und Einsichtsmeditation? - Und wie können sie sich gegenseitig unterstützen und uns helfen, Befreiung zu verwirklichen?
Die Teilnehmer des Oktober-Retreats zum Thema "Samatha und
Vipassana" haben mich gebeten, einen Artikel für die Monatsblätter zu
schreiben, in dem die Anleitungen, die ich während dieses
Wochenendes gegeben habe, noch einmal zusammengefasst werden -
als Gedächtnisstütze für ihre weitere Praxis. Das freut mich, zeigt es
doch ein wirkliches Interesse, die Praxis nach einem solchen
angeleiteten Wochenende selbständig weiterzuführen. Und vielleicht
interessiert das ja auch andere Leser?
Vorausschicken möchte ich eine allgemeine Bemerkung: Es gibt viele nützliche Meditationsmethoden und -techniken. Dabei sollte man aber nicht vergessen, dass die Beherrschung solcher Methoden kein Endziel sein kann. Meditationsmethoden sind Werkzeuge, die uns helfen können, ans Ziel zu kommen - zur Befreiung des Herzens von allem Anhaften und Leid, von allen Illusionen und Verblendungen. Im Buddhismus wird das Ziel der Praxis mit Worten wie Erleuchtung oder Nibbana bezeichnet. Mein Lehrer, Ajahn Sumedho, hat uns daran erinnert, dass wir an diesen Methoden, so hilfreich sie im Moment auch sein mögen, nicht anhaften sollen. Methoden seien wie der Finger, der zum Mond zeigt. Wenn wir mit unserer Sichtweise am "Finger" anhaften, können wir den "Mond" nicht sehen.
Samatha (Beruhigungs-Meditation) ist eine Methode, in der man sich übt, den Geist zu fokussieren (oder zu konzentrieren), und wenn das gelingt, kann es sehr angenehm und friedlich sein. Vipassana (Einsichts-Meditation) hat das Ziel, Weisheit zu entwickeln. Samatha und Vipassana werden oft so dargestellt, als ob sie Gegensätze und getrennt voneinander seien. Und es bestehen sehr unterschiedliche und oft vehemente Meinungen darüber, auf welche Art und mit welcher Dauer diese jeweils zu praktizieren sind. Das kann verwirrend sein.
Ajahn Thiradhammo, ein Lehrer der thailändischen Waldtradition, erzählt die Geschichte, wie er als junger Mönch mit der Almosenschale durch Nordost-Thailand wanderte, um die berühmten Meditationslehrer, die damals noch in dieser Region lebten, zu fragen, wie lange man eigentlich Samatha-Meditation zur Beruhigung des Geistes üben müsse, bevor man mit Vipassana anfangen könne. Er bekam verschiedene Antworten: Einige Lehrer bestanden darauf, dass man zuerst die ersten vier Jhanas (meditativen Vertiefungen) gemeistert haben müsse; dann würden Einsichten so gut wie automatisch aufsteigen. Andere meinten, dass die ersten zwei Jhanas genügten. Wieder andere warnten davor, überhaupt in die Jhanas hineinzugehen, und empfahlen stattdessen, nur bis zur angrenzenden Sammlung zu üben und diese dann zu benutzen, um den Geist zu Einsicht bringenden Fragestellungen zu führen. Es gab sogar Lehrer, die meinten, dass momentane Konzentration der beste Zustand zum Erlangen von Einsicht sei und man sich nicht um weitere Sammlung bemühen sollte. Ajahn Thiradhammo musste zugeben, dass er am Ende verwirrter war als vorher. Dann traf er Ajahn Chah und fragte ihn dieselbe Frage: "Wieviel Ruhe-Meditation ist nötig, um mit Einsichtsmeditation anzufangen?" Ajahn Chahs Antwort: "Gerade genug". Das brachte Ajahn Thiradhammos Geist zum Stillstand. Und plötzlich wurde ihm klar, dass dies die hilfreichste Antwort war: Die Antworten der meisten anderen Lehrer beruhten auf ihren eigenen Erfahrungen und Fähigkeiten, den Geist zur Sammlung zu führen. Die, denen das selbst leicht fiel, hielten es daher für selbstverständlich, dass man die Jhanas schnell erreichen und durchlaufen kann; andere hatten mehr Schwierigkeiten damit oder konnten sehen, dass viele Praktizierende durch lange Samatha-Praxis nur entmutigt werden, weil ihr Geist einfach nicht zur Ruhe kommen kann, und dass sie daher mit der Einsichtsfähigkeit des noch relativ unruhigen Geistes anfangen müssen. Mit Ajahn Chah hatte er offensichtlich einen Lehrer gefunden, der sich auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten der Praktizierenden einstellen konnte und beweglicher in seiner Art der Meditationsanleitung war. Und so fasste er Vertrauen und blieb zum weiteren Training bei ihm.
Welches Verhältnis besteht nun zwischen Ruhe- und Einsichts-Meditation? Ajahn Amaro, ein Schüler Ajahn Chahs und Ajahn Sumedhos und jetziger Abt des buddhistischen Klosters Amaravati in England, beschreibt in seinem Buch "Den inneren Frieden finden" (Finding the Missing Peace), Samatha und Vipassana als die beiden "Ebenen" der Meditation, die beide ihre eigenen Techniken haben:
"Der Buddha hat zwei Ebenen oder Schichten der Meditationspraxis unterschieden. In der ersten ... bereitet man eine Grundlage aus Ruhe, Gelassenheit und Fokus. Die zweite Ebene, die für das Herz auf tiefste Weise befreiend ist, ist die Entwicklung von Weisheit, eines echten Verständnisses dafür, wie die Dinge sind - was wir wirklich sind, wie wir existieren und ins Universum passen."
Es hilft, "wenn man diese Ebenen als Teile eines natürlichen Kontinuums versteht und nicht als Eigenschaften, die keine Beziehung zueinander haben und voneinander getrennt sind. Es ist zutreffender, sie als eine einzige, grundlegende Wirklichkeit mit unterschiedlichen Phasen oder Merkmalen zu beschreiben, so wie eine Blüte an einem Apfelbaum und ein Biss in den vollreifen Apfel. Es scheint so, als seien sie unterschiedlich, so wie die Blüte nicht dasselbe ist wie der Apfel, doch in gewisser Weise sind sie Elemente desselben Vorgangs. Einsicht wird auf Grundlage von Ruhe entwickelt, weil man nur dann, wenn der Geist ruhig und gefestigt ist, anfangen kann, das besondere Meditationsobjekt, welches als Anker benutzt worden ist, loszulassen und sich der Erfahrungsstruktur des gegenwärtigen Augenblicks zuzuwenden."
(Alle Zitate in diesem Artikel stammen aus dem genannten Buch. Da es gerade ins Deutsche übersetzt wird und noch nicht gedruckt vorliegt, gibt es bei diesen Zitaten noch keine Seitenangabe. - Wahrscheinlich wird es 2016 bei Amaravati Publications erscheinen.)
Wenn man z.B. den Atem als Meditationsobjekt benutzt, seine Aufmerksamkeit also auf die Empfindungen des Ein- und Aus-Atmens fokussiert, wird sich der Geist nach einiger Zeit beruhigen und das Denken langsam in den Hintergrund treten. Man kann dann beständiger beim Atem bleiben, ohne dass die Aufmerksamkeit ins Denken oder zu anderen Sinnesobjekten abgleitet. Wenn man nicht die volle Sammlung anstrebt, ist dies bereits der Moment, in dem man sich der Einsichtsmeditation zuwenden kann:
"Dann kann man das Meditationsobjekt loslassen und anfangen, die natürlichen Fähigkeiten der Weisheit oder des Wissen zu gebrauchen. Man lässt den Erfahrungs-Inhalt auf immer tiefere Weise los und lernt, den Erfahrungs-Vorgang zu beobachten."
Wenn man über Meditationstechniken zur Beruhigung des Geistes spricht, sollte man nicht vergessen, dass der Buddha die Wichtigkeit von Dâna und Sîla als Quelle der geistigen Beruhigung betont hat. - Dâna ist die Übung von Großzügigkeit im Spenden und im sonstigen Leben, und Sîla das tugendhafte Verhalten entsprechend der 5 ethischen Regeln, die der Buddha seinen Anhängern gegeben hat. Samadhi, geistige Sammlung, ruht auf dieser Grundlage von Dâna und Sîla. Für Menschen, die dies nicht wissen oder nicht befolgen, ist Meditation selten eine befriedigende Angelegenheit. Andererseits sollte man aber nicht glauben, dass Meditation nur für solche Menschen sei, die schon völlig selbstlos sind und diese ethischen Regeln immer zu 100% einhalten können. Meditation ist ein Übungsweg, der uns bewusster und feinfühliger für die Vorgänge in Körper und Geist und auch für die Folgen unserer Handlungen machen kann und damit zu Weisheit und Beruhigung führt. Wer versteht, was Kamma ist, wird vor allen unheilsamen Handlungen zurückschrecken und heilsame Handlungen kultivieren. Um diesen Zusammenhang zu verdeutlichen, nehmen wir am Anfang jedes Retreats förmlich die 5 Sîlas. Auch ist jeder Teilnehmer bereit, während des Retreats zu helfen, und wird gebeten, etwas zum gemeinsamen Essen mitzubringen, das so zu einem freudigen und verbindenden Ereignis wird.
Bei einem Meditations-Retreat, zu dem nicht nur erfahrene Meditierende, sondern auch Anfänger kommen, ist es hilfreich, die Anleitung zu Beginn in kleineren und "machbaren" Schritten zu geben. Nicht nur Anfänger begrüßen eine solche Unterstützung, um die ersten Schritte und Techniken gut kennenlernen und einüben zu können! Dann kann jeder sein eigenes "Tempo" finden und für sich selbst ausprobieren, wie man den Fokus langsam auf ein begrenztes Meditationsobjekt einengen und dann wieder zum offenen, alles umfassenden Gewahrsam weiten kann und wie man die Aufmerksamkeit immer wieder zum Atem zurückbringt, wenn man merkt, dass sie von Gedanken angezogen und davongetragen wurde. Jeder kann selbst erfahren, wann sein Geist beruhigt und die Aufmerksamkeit konstant genug ist, um mit der Einsichts-Meditation zu beginnen - was "genug" für ihn persönlich bedeutet...
Im Folgenden stelle ich einige der Techniken und Übungen dar, die ich beim Anleiten des Samatha- und Vipassana-Retreats empfohlen habe.
Der Körper hilft uns, die Achtsamkeit in der Gegenwart zu verankern, denn er ist hier und jetzt. Anstatt die Aufmerksamkeit gleich auf ein begrenztes Meditationsobjekt zu richten, können folgende Schritte hilfreich sein:
Meistens wird für die Samatha-Meditation empfohlen, den Fokus der Aufmerksamkeit für längere Zeit auf nur ein Meditationsobjekt zu richten, und zwar auf den Atem - auf eine Stelle, an der wir den Atem deutlich spüren können. An dieser Stelle lassen wir die Aufmerksamkeit ruhen und folgen einem Atemzug zur Zeit, von Anfang bis Ende, und bleiben so ganz im gegenwärtigen Moment.
Ich wünsche allen, die dies lesen, eine einsichtsvolle und befreiende Praxis.
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Quelle:
Buddhistische Monatsblätter Nr. 1/2015, Januar - April 2015, Seite 3-13
Zeitschrift der Buddhistischen Gesellschaft Hamburg e.V.
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Die Buddhistischen Monatsblätter erscheinen im Januar, Mai und September.
Der Bezug ist gratis.
veröffentlicht im Schattenblick zum 31. März 2016
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