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PRESSE/1004: Buddhas Lehre vom Entstehen in Abhängigkeit (DMW)


Der Mittlere Weg - Nr. 2, Mai - August 2016
Zeitschrift des Buddhistischen Bundes Hannover e.V.

Buddhas Lehre vom Entstehen in Abhängigkeit

von Axel Rodeck


Die Seele in altindischer Vorstellung

Die Texte der Upanishaden, die das Ende der Veden ("Vedanta") bilden, gehen von der Existenz einer Seele (atman) aus, welche den Tod überdauert und sich immer wieder inkarniert. Es handelt sich dabei um eine feinstoffliche Substanz, eine "Monade" (griech. = "Einheit"), also nicht nur um etwas rein Geistiges. Diese Substanz enthält die Fähigkeit zur Speicherung von Wahrnehmungen und Empfindungen, sie speichert auch die Sinneseindrücke, die aus eigenen Handlungen resultieren, also das "Karma".

Die Seele und in ihrem Gefolge Bewusstsein und Karma verlassen nach dem Tod den Körper und steigen zum Mond auf, welcher eine Art Richterrolle hat. Ist sich die Seele (was nur bei einem Weisen zutrifft) ihrer Göttlichkeit bewußt, wählt sie den Weg der Unsterblichkeit, d.h. den "Weg der Götter". Andernfalls gelangt sie, was der Normalfall sein dürfte, auf den Weg der Wiedergeburten, d.h. den "Weg der Ahnen", bleibt also den zyklischen Gesetzen des individuellen Werdens unterworfen. In diesem Fall kehrt sie vom Mond auf die Erde zurück und geht in einen Körper ein, der ihrem "Karma" entspricht. Das neue Dasein hat nichts mit Strafe oder Belohnung zu tun. Es ist vielmehr die nach Befriedigung strebende Begierde, die im Augenblick des Todes das Gute wie auch das Böse hervorruft und die Seelenwanderung bestimmt.


Das Gesetz von Ursache und Wirkung

Es ist erforderlich, auf das vorstehend schon erwähnte "Karma" einzugehen. Auch Wiedergeburtslehren haben einen moralischen Sinn. Die indischen Denker haben es nicht einfach fraglos hingenommen, dass die Unterschiede zwischen den Menschen und ihre Ungleichheit gottgewollt sein sollen. Wie kommt man auch dazu, einer Gottheit alle Ungerechtigkeiten und physischen und psychischen Leiden der Menschen anlasten zu wollen. Die Unterstellung einer derartigen Boshaftigkeit ist geradezu beleidigend. Da also ein Drittverschulden ausscheidet, können die qualitativen Unterschiede nur von den Lebewesen selbst erworben worden sein, nämlich in früheren Existenzen. Was die Einzelseele in einem früheren Leben erlebt und erlitten hat, was sie getan und anderen angetan hat, wirkt sich im neuen Leben aus. Und was sie jetzt tut oder unterläßt, wird wiederum die Qualität des nächsten Daseins bestimmen. Dies Gesetz von Ursache und Wirkung nennt man das "Karmagesetz" (von der Verbwurzel "tun, handeln").

Die feinstoffliche Seelensubstanz wird durch das Karma, d.h. durch die Taten des Individuums, in positiver wie in negativer Hinsicht beeinflußt und verändert. Die im Laufe eines Lebens durch eigene Taten geschaffenen psychischen Qualitäten sind also bestimmend für die Existenzform, in die man sich im nächsten Leben inkarniert. Hieraus folgt keineswegs, daß die Karmalehre deterministisch zu verstehen ist. Die Taten legen zwar das Geburtsmilieu, die physische Gestalt und die geistigen Anlagen des neuen Wesens fest, lassen ihm jedoch die Entscheidungsfreiheit, durch heilsame Taten für eine bessere Wiedergeburt zu sorgen. So entstanden durch unterschiedliches Karma und ungezählte Wiedergeburten die heutigen Unterschiede der Menschen. Die Wiedergeburtslehre "gibt aber auch dem Menschen Hoffnung auf eine bessere Zukunft in künftigen Leben und eine starke Motivation, an sich selbst zu arbeiten, damit eine solche Besserung eintritt" (v. Stietencron). Die Lehre vom Karma ist jedoch genau so wenig beweisbar im wissenschaftlichen Sinn wie die der Wiedergeburten. Sie wurde dann vom Buddhismus als "selbstevidentes Dogma" (K. Mylius) übernommen.


Buddhas Leugnung einer Seelenwanderung

Gautama hatte lange vor seiner Erleuchtung, als Schüler des Uddaka Ramaputta, die Seelenwanderungslehre der Upanishaden studiert. Da er die upanishadische Idee der Wiedergeburten in seine neue Lehre übernahm, hätte es eigentlich nahe gelegen auch anzuerkennen, dass die Seele den Tod überdauert und sich immer wieder inkarniert. Stattdessen lehrte er genau das Gegenteil und vertrat die sonst nur von den Materialisten gehegte Auffassung, eine ewige Seele sei in den Wesen nicht zu finden. Zu dieser Erkenntnis kam er durch eine Analyse der fünf "Skandhas", jener besonderen Exemplare aus der Vielzahl der Daseinsfaktoren (dharmas), die die empirische Persönlichkeit bilden. Es handelt sich um den Körper als physischen Daseinsfaktor sowie die nichtphysischen Daseinsfaktoren Empfindung, Wahrnehmung, Geistesregungen und Bewußtsein. Alle diese fünf Daseinsfaktoren sind vergänglich und unterliegen dem Zerfall, wenn auch in unterschiedlichen Zeiträumen. Folglich gibt es im Menschen kein den Tod überdauerndes Etwas, die Person ist ohne Seele ("anatta").

Hinsichtlich der Wiedergeburtslehre unterscheidet sich der Buddhismus also vom Hinduismus darin, dass er gemäß dem Prinzip der Vergänglichkeit alles Irdischen die Existenz von ewigen, zur Wiedergeburt gelangenden Geistmonaden leugnet.


Kausalität und Konditionismus

Es schien ein Widerspruch zu sein, dass der Buddha einerseits die Wiedergeburtslehre vertrat, andererseits aber die Existenz einer Seele leugnete. Hieraus ergab sich die Frage, wer denn dann das Subjekt der Wiedergeburt sei, was es denn sei, was wiedergeboren würde. Buddhas geniale Antwort lautete, die Wiedergeburtenkette werde nicht hergestellt durch ein sich durch die Existenzen ziehendes Etwas, sondern durch einen Konditionismus der Daseinsformen: Jede Wiedergeburt bedingt eine weitere.

Das Kausalitätskonzept der buddhistischen Philosophie geht also nicht von einer bloßen Kausalität (lat. causa = Ursache) aus, sondern von einem Konditionismus (lat. conditio = Bedingung), d.h. es sind mehrere Glieder vorhanden, die alle zusammen Voraussetzung für den Eintritt des Erfolges sind. Weil aber einerseits auch (westliches) Kausalitätsdenken eine Vielzahl von Ursachen nicht ausschließt und andererseits auch das buddhistische Denken durchaus die für ein Geschehen wichtigsten Bedingungen als besondere "wirkende Ursachen" heraushebt, ist die Unterscheidung im praktischen Alltagsleben gar nicht so bedeutsam.

Ganz anders jedoch, wenn die Untersuchung der Ursachen aus geistlichen Motiven erfolgt. Hier gilt es, die Betrachtung eines Ereignisses als Gelegenheit zur Loslösung von dem Bedingten zu nutzen. Deshalb ist dann die Vielheit der Bedingungen zu untersuchen, die zu einem Ereignis führen, also der gesamte, meist gewaltig große Bedingungsstrom:

Wird beispielsweise ein Kind von einem Auto angefahren und verletzt, dann sind kausal für die Verletzung die Bewegung des Autos und der Zusammenstoß mit dem Kind. Nach buddhistischer Betrachtung umfasst die Bedingungskette auch den Kauf und die Produktion des Autos, die Gewinnung der Rohstoffe für seine Herstellung und des Benzins für die Unglücksfahrt, die Eltern, die den Unglücksfahrer zeugten und die des Kindes, die dieses zur Unfallzeit zum Einkaufen schickten usw. usw. Jedes Ereignis tritt also in Abhängigkeit von einem weiten Netzwerk von Bedingungen auf, welches letztlich das ganze Universum umspannt. Es endet dann beim Urknall, denn ohne diesen wäre nicht der Kosmos entstanden, in dem sich der Unfall ereignete.

Nach dem Gesetz von der Vielfalt der Bedingungen hat somit kein Ereignis nur eine einzige Ursache, sondern es ist stets das Zusammenwirken einer Vielzahl von Bedingungen beteiligt. Ist die Summe der Vorbedingungen unvollständig, fehlt auch nur eine einzige davon, so kann keine Wirkung erfolgen. Dies Gesetz gilt natürlich auch für das Ereignis (den Unfall?) der Geburt. Diese beruht nicht auf der Wanderung einer unzerstörbaren, ewigen Geistmonade, sondern auf einer Ursachenkette von zwölf Gliedern, deren Entdeckung als höchste Einsicht und philosophische Meisterleistung des Buddha angesehen wird. Es handelt sich um die Erkenntnis der Entstehung in Abhängigkeit (pratityasamutpada), den sog. "Konditionalnexus".


Entstehung in Abhängigkeit (Konditionalnexus)

Die Formel vom Konditionalnexus gehört wohl zum ältesten Bestand buddhistischer Dogmatik und hat zwölf Glieder, von denen jedes eine Gruppe von Dharmas darstellt. Zwar weist die heutige Textforschung nach, daß es sich bei den zwölf Gliedern um eine spätere scholastische Ergänzung der früher aus acht Gliedern bestehenden Kette handelt, wir wollen jedoch ohne akademische Mäkelei den Nexus (Verbindung) in der anschaulichen, farbenprächtigen Fülle seiner zwölf Glieder betrachten. Die Glieder der Kette sind so angelegt, daß jedes Glied in funktioneller Abhängigkeit von den vorhergehenden Gliedern ins Dasein tritt.

Allerdings ist es nicht so, dass in diesem Leben schon alle Bedingungen für das nächste Leben vorliegen, sondern die zwölf Kettenglieder erstrecken sich über einen Zeitraum von drei Leben. Sowohl die spätbuddhistischen Dogmatiker als auch die heutigen Interpreten nehmen an, dass die ersten beiden Glieder diejenigen Dharmas namhaft machen, welche in einer vergangenen Existenz die Voraussetzungen für die Entstehung der Lebewesen in der gegenwärtigen Existenz bilden. Die Glieder 3 bis 10 schildern dann das sukzessive Werden eines neuen Individuums (3 bis 5) und der an ihm entstehenden Kräfte als Vorbedingungen für die Wiedergeburt in der zukünftigen Daseinsform (6 bis 10). Die beiden letzten Glieder 11 und 12 geben charakteristische Momente der zukünftigen Existenz an, welche die Folgen von früherer Karmaproduktion sind.

Greifen wir uns also aus der unendlichen Folge von Leben an beliebiger Stelle eine Dreiergruppe von Leben heraus, um die Kettenglieder zu betrachten:

1. Es empfiehlt sich, im ersten der drei Leben mit der Bedingung Unwissenheit als erstem Kettenglied zu beginnen, weil das Nichtwissen oder die "Verblendung" allen anderen Bedingungen zugrunde liegt. Unwissend ist, wer nicht die Ursache allen Leidens kennt, also nicht mit den "Vier Edlen Wahrheiten" vertraut ist. Aus der Voraussetzung Unwissenheit entstehen

2. Tatabsichten, also formbildende Geisteskräfte, mit denen wir unsere Zukunft gestalten. Die Tatabsichten können gut, schlecht oder neutral sein und führen zur Bildung eines entsprechenden hochwirksamen energetischen Kraftfelds, welches in die Umgebung einwirkt. Die Tatabsichten sind die Voraussetzung für die Entstehung von (die Brücke zur nächsten Existenz schlagendem)

- hier Übergang in die gegenwärtige Existenz! -

3. Bewusstsein, welches ebenfalls gut, schlecht oder neutral wird. Nach dem Tod eines Wesens geht also dessen Bewusstsein in einen entsprechenden Mutterschoß ein und setzt in diesem wiederum die Entstehung von

4. Name und Körper in Gang, bildet also die neue empirische Person. Wohlgemerkt geht das Bewußtsein nur in den Mutterschoß ein und nicht etwa in die sich dort bildende neue Person. Es "wirkt lediglich wie ein Katalysator, der einen chemischen Prozess auslöst, im Endprodukt dieses Prozesses aber nicht mehr enthalten ist" (H.W. Schumann).

In der wiedergeborenen Person ist also keinerlei irgendwie geartete Entität aus der Vorexistenz vorhanden und sie entwickelt auch ein eigenes Bewusstsein, welches nicht mit dem der Vorexistenz identisch ist. Sie wird lediglich durch die Vorexistenz geprägt, d.h. die Vorexistenz konditioniert die Nachexistenz. Aus der Voraussetzung "Name und Körper" entstehen dann

5. die Sechs Sinne als Wahrnehmungsorgane des neuen Wesens, durch welche es mit der Außenwelt in Verbindung treten kann, was wiederum zu

6. Berührungen mit der Außenwelt führt, aus denen

7. Empfindungen erwachsen. Diese reifen beim mehr oder weniger ungezügelten Menschen aus zur

8. Gier (auch "Durst" genannt), nämlich dem Verlangen nach Erzielung von Lust und Vermeidung von Unlust. Die Gier bindet die Wesen in den Samsara, und nur, wenn wir sie zügeln, haben wir die Möglichkeit, in den Kreislauf der Wiedergeburten positiv einzugreifen. Denn die Gier führt zum

9. Ergreifen der Sinneswelt, vergleichbar dem Ergreifen des Brennstoffs durch die Flamme, womit wir unsere Chance schon wieder verpasst haben. Denn das Ergreifen hat beim Tode einen neuen Mutterschoß zum Gegenstand, in welchem das

10. Werden eines neuen Wesens in Gang gesetzt wird. Folge ist

- hier Übergang in künftige Existenz! -

11. die Geburt in ein neues leidvolles Dasein mit der Gewissheit von

12. Alter und Tod.

Vereinfacht lässt sich das System der Bedingten Entstehung auf einen Vorgang mit drei Elementen zurückführen: Die Leidenschaften des Menschen bewirken seine Taten und diese wiederum führen das Ergebnis herbei. Wie v. Glasenapp sagt, stellt die Formel vom Konditionalnexus den bewundernswerten Versuch dar, mit den Mitteln des noch ganz in dinglicher Anschauungsweise verhafteten archaischen Denkens ein Problem zu lösen, das bis heute die Weisen aller Völker beschäftigt hat. Einen zwingenden Beweis für die Wahrheit von der Wiedergeburt könne diese Lehre jedoch genau so wenig geben wie andere Seelentheorien.

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Quelle:
Der Mittlere Weg - majjhima-patipada
48. Jahrgang, Mai - August 2016, Nr. 2, Seite 6-10
Herausgeber: Buddhistischer Bund Hannover e.V.
Drostestr. 8, 30161 Hannover,
Tel. und Fax: 05 11/3 94 17 56
E-mail: info@buddha-hannover.de
Internet: www.buddha-hannover.de
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Juni 2016

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