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PRESSE/603: Die "Selbst"-Erfindung (Der Mittlere Weg)


Der Mittlere Weg - Nr. 2, Mai - August 2007
Nachrichten des Buddhistischen Bundes Hannover e.V.

Die "Selbst"-Erfindung
West-östlicher Weg zur Erkenntnis?

Von Axel Rodeck


Leute - wie die Zeit vergeht! Es ist nun schon mehr als 20 Jahre her, dass westliche Wissenschaftler sich mit den biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens befassten und dabei erstaunliche Übereinstimmungen mit viele Jahrhunderte alten buddhistischen Erfahrungen feststellten. Die Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela fanden heraus, dass lebende Systeme - also auch der Mensch - die Freiheit haben, sich ihre Welt selbst zu schaffen, statt nur auf Vorgegebenes zu reagieren: Das Subjekt ist somit entscheidend an der Schöpfung seiner nur scheinbar objektiven Wirklichkeit beteiligt. Es besteht ein andauernder Fluss von Reflexionen, den wir "Bewusstsein" nennen und mit unserer Identität assoziieren.

Später (1991) versuchten Varela und andere Koautoren mit ihrem Buch "Der Mittlere Weg der Erkenntnis" einen "Brückenschlag zwischen wissenschaftlicher Theorie und menschlicher Erfahrung", wobei sie sich dem Buddhismus zuwandten. Denn dessen Prinzip der Ichlosigkeit entspreche dem (neurobiologischen) Konzept einer uneinheitlichen oder dezentralen Kognitionsinstanz. Insbesondere die Madhyamaka-Philosophie stimme mit den Ansätzen der modernen Kognitionstheorie weitgehend überein. (Eine Rezension dieses Buches war übrigens, wie nicht ohne Anflug von Nostalgie am Rande bemerkt werden soll, in Heft 1/1996 der erste von inzwischen 58 Beiträgen des Verfassers für den "Mittleren Weg".)

Natürlich sind derartige Parallelen zwischen Buddhismus und Wissenschaft immer sehr kritisch zu betrachten. Es wird von Buddhisten eingewendet, mit der Parallelisierung naturwissenschaftlicher und buddhistischer Aussagen (wie etwa E. Conzes Identifikation von "Atomen" und "Dharmas") würden wichtige Elemente buddhistischer Philosophie mit naturwissenschaftlichen Modellen gleichgesetzt. Dem Verständnis ursprünglicher Intentionen der Lehren aus Asien, so kritisiert beispielsweise Volker Zotz, sei es "abträglich, wenn man sie durch die Brille westlicher Systeme liest". Auch Fritz Schäfer geht mit den "Verfechtern eines modernen Diesseitsbuddhismus" hart ins Gericht und rügt, sie nähmen die detaillierten Aussagen des Erhabenen nicht genügend ernst. Der Heilsweg sei selbst textkundigen und meditationserfahrenen Jüngern verschlossen, wenn sie glaubten, die "erhabene Lehre vom Inneren" bezüglich der Außenwelt um die heutigen exakten Wissenschaften ergänzen zu müssen.

Aber auch umgekehrt begegnen wir den Einwänden von Naturwissenschaftlern. Der international anerkannte Mainzer Philosoph Thomas Metzinger, mit dessen Aufsehen erregenden Feststellungen zur Neurowissenschaft wir uns folgend noch ausführlich beschäftigen werden, bezeichnet die Thesen von gegenseitiger Ost-West-Befruchtung und Synthese von Religion und Wissenschaft als "selbstverliebten Eso-Kitsch" und "trivialen Stuß, der einem Bedürfnis nach der Romantisierung fremder Kulturen entspringt." In der Realität fernöstlicher Klöster finde man "keine lebendige Spiritualität, sondern tiefsten Aberglauben wie im bayerischen Katholizismus: Was soll der Blödsinn mit Weihrauch, Glöckchen, roten Roben und Gebetsmühlen?" (Kleiner Hinweis: Metzinger widmet sich seit 30 Jahren der Meditation!)

Gleichwohl ist nicht zu leugnen, dass der Buddhismus mit seiner Psychologie und Philosophie mehr als jede andere Religion Menschen mit einem naturwissenschaftlichen Weltbild anzieht. Und, wie der derzeitige Dalai Lama schreibt, "sollte die Wissenschaft nachweisen können, dass bestimmte Behauptungen des Buddhismus falsch sind, so müssen wir (Buddhisten) die Erkenntnis der Wissenschaft annehmen und überholte Anschauungen revidieren." Deshalb ist es sicherlich legitim und nützlich, die buddhistische Erkenntnis vom Nichtvorhandensein einer Seele, von der Illusion eines "Selbst", mit den zum selben Ergebnis fahrenden Erkenntnissen der modernen Wissenschaft, insbesondere der Hirnforschung, zu vergleichen. Die Außenbetrachtung des Bewußtseins durch westliche Naturwissenschaft und die Betonung der Innenperspektive durch den Buddhismus brauchen sich nicht auszuschließen. Wenn einer der Wege oder beide gemeinsam dazu verhelfen, dem Menschen seine Blindheit zu nehmen, soll es uns nur recht sein.


Die buddhistische Lehre vom Leidenden

Fundament allen buddhistischen Denkens ist die Edle Wahrheit vom Leiden, von der Leidhaftigkeit des Daseins. Daraus ergibt sich die Frage, wer es denn ist, der da leidet, wer das Subjekt des Leidens, also wer "Leidender" ist. Diese Frage ist identisch mit der Frage nach dem Subjekt der Wiedergeburt, also wer oder was im Kreislauf des Daseins immer (wieder)geboren wird. Dies war nach Ansicht der Brahmanen - ebenso wie bei den monotheistischen Religionen - ein durchaus reales Etwas, ein Kern der Persönlichkeit, der als Seele, Selbst oder Ich (Skt: atman, Pali: atta) bezeichnet wird.

In seiner Lehre vom "Nicht-Ich" (anatta) wies der Buddha die Behauptung, es gebe eine den Tod überdauernde, sich ewig durch die Wiedergeburten ziehende Entität, als unhaltbar zurück. Er legte dar, dass weder im Körper (rupa) noch in den nichtphysischen Bestandteilen, aus denen wir als empirische Persönlichkeiten bestehen (nama), ein dauerhafter Kein zu finden ist. All diese Bestandteile sind vergänglich und erfüllen daher nicht die an eine Seele zu stellende Anforderung, den Tod zu überdauern und sich neu zu inkarnieren. Hierzu sollen in Hinblick auf die diesbezüglichen Aufsätze in diesem Heft, auf deren Inhalt verwiesen wird, keine weiteren Ausführungen gemacht werden.

Keineswegs bestritt der Buddha jedoch die Existenz einer Psyche im Sinne von emotionalen Regungen mit dem sich daraus ergebenden Ich-Gefühl. Dieses flüchtige Gebilde lässt sich zwar nicht unter den strengen Seelenbegriff subsumieren, jedoch wird man es als Summe der mit dem Organismus eng verbundenen Gefühle dem Seelenbegriff der Psychologie zuordnen können. Denn heute ist nur noch in der Theologenfachsprache die "Seele" dogmatisch mit "Ewigkeit" verbunden, während der allgemeine Sprachgebrauch auch die Gesamtheit der Bewußtseinsvorgänge und Empfindungen während der Lebenszeit als "Seele" bezeichnet. Es ist daher ratsam, hier zur Unterscheidung statt von einer Seele nur von einem "Ich" oder "Selbst" zu sprechen, was aber in der Sache nichts ändert. Denn auch hier gilt, dass bei einer Zerlegung in physische und mentale Bestandteile in der empirischen Person nichts gefunden werden kann, was über den Tod hinaus Bestand hat.

Wie der Buddha mit den Ausdrucksmöglichkeiten seiner Zeit darlegt, ist auch dieses "Selbst" oder "Ich" ein Wahn. Buddhas Betrachtung geht von den Wahrnehmungssorganen aus: Da ist zunächst das "Auge" als Sehorgan. Dieses hat Kontakt mit als "Formen" bezeichneten sichtbaren Objekten. Aus diesem Kontakt von Auge und Formen entsteht dann das "Sehbewusstsein". Das Zusammentreffen der drei Faktoren Auge, Formen und Sehbewußtsein ist "Berührung". Aus der Berührung als Voraussetzung entsteht eine "Empfindung", die wiederum eine "Wahrnehmung" zur Folge hat.

Entsprechend gehen aus dem Kontakt des Ohres mit Tönen das Hörbewusstsein, der Nase mit Gerüchen das Riechbewusstsein, der Zunge mit Geschmäcken das Schmeckbewusstsein, des Körpers mit Tastobjekten das Tastbewusstsein und schließlich - da im Buddhismus das Denken zu den Sinnen gezählt wird - des Denkorgans mit den Denkobjekten das Denkbewusstsein. All das wird Gegenstand unserer Wahrnehmung und führt dazu, dass wir in ihm ein getreues Abbild der Außenwelt zu erhalten glauben. Wir erfassen die Welt also keineswegs so, wie sie (möglicherweise) ist, sondern wie wir uns sie nach den empfangenen Eindrücken vorstellen.

Die Welt findet somit nach buddhistischer Erkenntnis - die, wie wir sehen werden, sich mit den Erkenntnissen der neueren Wissenschaft deckt - im Kopf des Lebewesens statt. Sie wird erst im Spiegel eines reflektierenden Bewusstseins zur persönlichen Realität. Der Mensch schafft sich im Geiste nicht nur seine Welt, sondern auch sich selbst. Unsere Ausgangsfrage, wer denn dann überhaupt der "Leidende" ist, beantwortet der Scholastiker Buddhaghosa (5. Jh. n. Chr.) wie folgt:

Nur Leiden gibt's, doch keinen Leider,
keinen Täter gibt's, doch die Tat,
Verlöschen gibt's, keinen Verloschenen,
keinen Geher gibt's, doch den Pfad.


Wie das Ich entsteht

Wie wir heute wissen, entsteht im Alter von ungefähr zwei Jahren im Gehirn das "Ich" als neues Prinzip, es führt zum Vergleichen des eigenen Erscheinungsbildes mit den Bildern von "anderen" und damit zum "Selbst-Bewußtsein". Im aktiven Wortschatz des Kindes tauchen jetzt die Vokabeln des Selbstbezuges (ich, du, eigener Name usw.) auf. Das auf das eigene Leben gerichtete autobiographische Gedächtnis beginnt sich zu formieren und damit endet die Phase des Lebens, an die wir als Erwachsene keine Erinnerung mehr haben ("Kindliche Amnesie").

Das Entstehen dieses "Gedächtnisses" ist von besonderer Bedeutung. Denn erst die Erinnerung an sein vergangenes Leben macht das Ich einmalig und verleiht ihm eine Geschichte; das autobiographische Gedächtnis gibt uns eine Gewissheit für unsere Stellung in Gesellschaft und Welt. Die Neurowissenschaftler gehen davon aus, dass das Gedächtnis aus einem konkreten, über das gesamte Gehirn verteilten Netzwerk besteht. Es beruht in seiner Funktion auf dessen fortwährender Veränderung, im Gehirn finden nämlich pausenlose Umbauprozesse statt, die auf den in jedem Augenblick gemachten Erfahrungen beruhen. Die Sinne übersetzen die einströmenden Daten zunächst in elektrische Signale, diese Erregungen breiten sich entlang der Nervenfasern aus und gelangen in das Gehirn: Von allem, was in der Welt und um uns herum vorgeht, erfährt das Gehirn nur in Form elektrischer Entladungen!

Im Gehirn wird auch die "Zeit" erfunden: Das Gedächtnis gliedert den endlosen Strom der Ereignisse und teilt die Handlungen der Person in eine Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. Weil die Evolution das Gedächtnis zum Überleben geschaffen hat und nicht zur Erkenntnis ("Gedächtnis" haben schon einfachste Lebewesen wie Bakterien, es ist weitaus länger in der Welt als der homo sapiens) muß ihm grundsätzlich misstraut werden. Denn es ist nicht geeignet, die "Vergangenheit" objektiv richtig zu speichern, sondern es ist wechselhaft und formt diejenige Version der Vergangenheit, die der Problemlösung in der Gegenwart am besten dient. Bei allen Zeugenaussagen über zurückliegende Sachverhalte ist also Vorsicht geboten. (Das durfte auch für die Aussagen der Jünger von Religionsstiftern gelten!)

Neurowissenschaftler widersprechen der verbreiteten Vorstellung, dass der Kern der Persönlichkeit angeboren sei und dann stabil bleibe. Am "Ich" kann vielmehr ständig gearbeitet werden und erst mit ca. 50 Jahren stabilisiert sich die Persönlichkeit und verfestigen sich die Charakterzüge endgültig. Diese Persönlichkeit entsteht in einem komplexen Zusammenwirken von Erbgut und Umwelt, wobei sich beide gegenseitig beeinflussen - etwa die Hälfte des "Schicksals" ist genetisch bestimmt.


Die Illusion, jemand zu sein

Wie wir sahen, hat die Evolution das Selbst-Bewusstsein offenbar geschaffen, weil es Vorteile bringt: Die "Ich-Sager" erhalten einen Platz in der Gesellschaft und begründen zusammen als soziale Wesen die Kultur. Jeder Mensch hat dabei das Gefühl, er selbst zu sein, er hat das Bewusstsein seiner selbst (sog. "Phänomenales Selbstmodell"). Alle Zustände, die wir im Alltag erleben, alle Erfahrungen und Erinnerungen werden zum Inhalt dieses phänomenalen Bewusstseins. Sie werden als "eigene" Zustände erlebt. Gleich ob die Inhalte von äußeren Sinnen (z.B. Gerüche, Schmerzen) oder von inneren Sinnen (z.B. Gedanken, Absichten) kommen, sie bilden miteinander verwoben den Strom des Bewusstseins, der erst abreißt, wenn wir schlafen oder sterben oder auf andere Weise dass Bewusstsein verlieren.

Aus dem Blickwinkel eines Dritten (z.B. Wissenschaftlers) ist unmöglich festzustellen, wie aus den elektrischen Aktivitäten des Gehirns eines anderen das Ich als subjektive Wahrnehmung entsteht. Es bleibt nach wie vor ein Rätsel, wie physikalische Prozesse im Gehirn subjektive Erfahrungen erzeugen, wie etwa das Gehirn aus dem Empfang einer Wellenlänge von 700 Nanometern die Empfindung der Farbe "Rot" macht. "Farben" gibt es "objektiv" nicht, sondern sie entstehen erst in der Wahrnehmung und Verarbeitung von Wellenlängen sichtbaren Lichts. Das Gehirn kennt ebenso kein "Glück" oder "Schmerz", sondern nur Nervenmuster, die für Glück oder Schmerz stehen. Ohne das subjektive Gefühl von Schmerz würde es also in der Welt keinen Schmerz geben!

Bei all dem ist der Mensch fest davon überzeugt, dass sein Ich der wahrgenommenen Außenwelt gegenübersteht. Die Illusion von einem Ich ist uns nicht bewusst, da wir automatisch davon ausgehen, dass unser Kontakt mit der Wirklichkeit direkt und unmittelbar ist. Denn unser Selbstmodell ist von der Evolution so konstruiert, dass es nur sehr schwer hinterfragbar ist. Der "Film des Erlebens" mit Millionen von Eindrücken läuft permanent in uns und führt zu der Vorstellung, in jedem Augenblick die Wirklichkeit zu erleben. Dabei analysiert das Gehirn die physikalischen Informationen separat in weit über das gesamte Organ verteilten Orten, ein Zentrum als "Kommandozentrale" existiert jedoch nicht: Das "Ich" oder die "Seele" sind im Körper nicht zu finden. Es gibt im Gehirn kein Zentrum, in dem alle Informationen zusammenlaufen, sondern viele räumlich und zeitlich getrennt arbeitende Module tragen gleichberechtigt zum Bewusstsein bei ("Gedanken ohne Denker"). "Geist" ist schlicht das, was die 100 Milliarden Nervenzellen des Gehirns machen.

Der schon erwähnte Mainzer Philosoph Thomas Metzinger wertet die neuen neurobiologischen Erkenntnisse aus und stellt fest: Kein Mensch war oder hatte je ein Selbst. Es ist eine hartnäckige Illusion des (zum anthropozentrischen Mittelpunktswahn neigenden) Menschen zu meinen, dass es in ihm einen Kern gibt, um den sich die Welt dreht. Das Ich ist eine Illusion, was es gibt, ist lediglich das erlebte Ichgefühl mit den ständig wechselnden Inhalten. Das Gehirn arbeitet nicht mit der Wirklichkeit, sondern einem Modell davon, welches aus dem komplexen Aktivierungsmuster der Neuronen entsteht. Dieses Modell lässt sich zwar in verschiedene Untereinheiten gliedern, jedoch entspricht ihm im gesamten Gehirn keine materielle Substanz und kein Atom. "Das Gefühl des Selbst entkeimt dem ständig im Körper generierten Strom von Mitteilungen seiner inneren Sensoren". Weil das Gehirn als unser Wahrnehmungsapparat seine eigenen Modelle von der Wirklichkeit nicht mehr als solche erkennt, entsteht durch diese Verwechslung ein "Ich" und durch die fortwährende Verwechslung wird aus dem "Niemand" ein "Jemand".


Mystik und Wissenschaft

Es gibt Leiden, aber keinen Leider - sagt Buddhaghosa. Es gibt Gedanken, aber keinen Denker - sagt Metzinger. Wer will hier einen Parallelismus leugnen. Die Übereinstimmung von Buddhas Nicht-Ich-Lehre (anatta) mit den Erkenntnissen der Neurobiologie ist nicht zu übersehen. Dabei ist der Buddha sowohl durch rationale Analyse als auch durch mystische Schau zu der Erkenntnis gekommen, dass das sog. "Selbst" nichts anderes ist als ein Bündel körperlicher und geistiger Bestandteile, die von der Begierde in Bewegung gehalten werden. Offensichtlich kann der Mensch also die Nichtexistenz des Ich auch aus eigener Anschauung unmittelbar erfahren, ohne neurobiologische Befunde und komplizierte philosophische Analysen.

Die seit Jahrtausenden bewährte östliche Methode hierzu ist die Meditation, mit der Geübte außergewöhnliche Hirnzustände erreichen. Von tibetischen Mönchen wurden meditativ Gammawellen erzeugt, rhythmische Hirnströme mit Frequenzen um 40 Hertz, was dazu führt, dass das Bewusstsein nicht mehr Subjekt und Objekt unterscheidet. Meditierende können so eine Einheitserfahrung machen, in der sich das Ich wie in einer mystischen Erfahrung auflöst. Unser rationales "Wachbewusstsein" ist offenbar nur ein besonderer Typ von Bewußtsein und unterscheidet sich erheblich von mystischen Bewusstseinszuständen.

Kehren wir jetzt zu den eingangs erwähnten Bedenkenträgern des wissenschaftlichen wie des buddhistischen Lagers zurück. Metzinger hält es für unwahrscheinlich, dass die Denker des Ostens bei der Außenbetrachtung des Bewußtseins mit dem westlichen Erkenntnisstand der Philosophie des Geistes mithalten können. Ebenso unwahrscheinlich sei es aber, wenn westliche Physiker krampfhaft Analogien zwischen quantenmechanischen Prozessen und fernöstlichen Weisheiten zögen. Die Stärke der buddhistischen Psychologie und Philosophie liege in der Betrachtung der Innenperspektive des menschlichen Geistes, an diese komme man mit den objektiven, replizierbaren Methoden der westlichen Wissenschaft nicht heran. Und auf der anderen Seite warnt Fritz Schäfer die "Buddhismus-Sympathisanten", die Buddhas Lehre bezüglich der "Außenwelt" durch die Wissenschaft ersetzen wollen, sie würden damit ihre Chance zur Erlösung vertun.

Trotz all dieser Bedenken ist gerade erst wieder ein Buch über "Buddhismus und Quantenphysik" erschienen und die Rezensentin in einer buddhistischen Zeitschrift lobt, es zeige die Nähe von Buddhismus und einem der modernsten Bereiche der Wissenschaft.

Jedenfalls kann es nicht schaden und ist es bei Angehörigen des westlichen Kulturkreises sogar angebracht, wenn Buddha Gautamas - für seine Lehre fundamentalen - Erkenntnisse des Fehlens einer (ewigen) Seele (anatta) und der Flüchtigkeit des jederzeitigen Ich-Gefühls aus einem anderen Blickwinkel verifiziert werden. Es gibt aus beiden Sichtweisen kein Ich, aber das Ichgefühl ist unbestritten und sowohl buddhistische Erfahrungen als auch wissenschaftliche Untersuchungen deuten darauf hin, dass Meditation oder ein anderes adäquates Training des Geistes diesen in seiner Erkenntnis weiter bringen kann.

Gehen wir ihn doch, den west-östlichen Weg der Erkenntnis.


LITERATUR:
Werner Siefer/Christian Weber:
ICH - Wie wir uns selbst erfinden. Campus Verlag 2006


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Quelle:
Der Mittlere Weg - majjhima-patipada
39. Jahrgang, Mai - August 2007/2551, Nr. 2, Seite 29-33
Herausgeber: Buddhistischer Bund Hannover e.V.
Drostestr. 8, 30161 Hannover,
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E-mail: info@buddha-hannover.de
Internet: www.buddha-hannover.de

"Der Mittlere Weg - majjhima-patipada" erscheint
nach Bedarf und ist für Mitglieder kostenlos.


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Mai 2007