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PRESSE/638: Emotionales Nicht-Anhaften (Buddhistische Monatsblätter)


Buddhistische Montsblätter Nr. 4/2007, Oktober-Dezember
Buddhistische Gesellschaft Hamburg e.V.

Die Praxis emotionalen Nicht-Anhaftens

Von Matthias Nyanacitta Scharlipp


Von der Mittleren Lehre des Buddha aus betrachtet kann die Befreiung von unerfüllendem und leidvollem Erleben (dukkha) nur dadurch erreicht werden, dass der Mensch allmählich über verzerrende Anschauungen, unvernünftige Überzeugungen und realitätsabgelöste Idealbildungen hinauswächst. Denn die vollkommen erwachte Daseinserfahrung des Buddha lautet: Wir können das beengende Schneckenhaus eines besitzergreifenden Selbstverständnisses ablegen und von allen begehrlichen Antriebskräften frei sein!

Diese Ebene des Höchsten Guten (paramattha) jenseits aller begrenzenden Begriffe und Konzepte wird manchmal auch das Unbedingte oder Transzendente genannt, und es wird beschrieben als eine vollkommene Harmonie und Balance positiver Geisteskräfte, in der alle Einflüsse und Auswüchse (asava) von heftigem Verlangen, unweisem Reagieren und Unwissen erloschen und restlos aufgegeben sind.

In den buddhistischen Schriften wird darüber berichtet, dass es in diesem erwachten Zustand vollkommener Balance und Gelöstheit kein leidvolles Erleben mehr gibt. Das Erreichen dieses Seinszustands ist das höchste Ziel auf dem Mittleren Weg des Buddha, der einen ausgewogenen Übungsweg und "Kanal" schafft, in dem die hilfreichen Aspekte des menschlichen Potenzials ihre Funktion am besten ausüben können, um die Ursachen von Konflikten zu überwinden, das Verständnis der Wirklichkeit zu fördern und dem eigenen sowie dem Leben anderer eine tiefe Würde zu geben.

Solange jedoch noch ein isoliertes Eigenbewusstsein mit seiner Trennung vom Leben als einem ganzheitlichen Vorgang fortbesteht, solange ist auch ein gewisses Maß an Unerfülltheit und leidvollem Erleben unausweichlich, dem wir, worauf Analayo hinweist, durch eine auf fünffache Weise ich-zentrierte Daseinsbefragung, immer wieder Nahrung geben:

- Wo bin ich? (körperliche Form)
- Wie bin ich? (Gefühlsqualität)
- Was bin ich? (Wahrnehmung)
- Warum (re-)agiere ich? (Willensregung)
- Wodurch erfahre ich? (Bewusstsein)

Trotzdem ist es möglich, dieses Karussell der Vereinnahmung durch Identifikation zu klären, indem wir lernen, das gesamte Spektrum unseres qualitativen Erlebens mit Hilfe der Achtsamkeitsschulung unvoreingenommen zu begutachten und uns in Nicht-Anhaften zu üben.

Ein wichtiger Aspekt dabei ist, das Haften an den angenehmen Seiten des Lebens allmählich zu verringern und auch zu vermeiden, in das gegenteilige Extrem zu verfallen, indem wir im Erleben der Dinge versinken, die wir nicht mögen. Einer der Zwecke des buddhistischen Geistestrainings ist also zu lernen, von unseren Erfahrungen des Angenehmen und Unangenehmen befreienden Abstand zu nehmen und sie leidenschaftsloser und ohne übermäßige emotionale Verstrickung zu betrachten, sich also nicht von ihnen mitreißen und beherrschen zu lassen. Denn "das Böse beginnt oft mit Gefühlsduselei. Sie zerstört moralische Überzeugungen und ist der Feind der Vernunft, der Künderin der Würde des Menschen" (Robert Spaemann). Ein solcher Freiheitsgewinn kann sehr viel leichter auf den Weg gebracht werden, wenn wir uns über die Natur von Emotionen im Klaren sind: Emotionen motivieren uns. Betrachten wir einmal die Menschen, die wir kennen, dann können wir leicht sehen, wie oft sie von ihren Stimmungen und Emotionen beherrscht werden. Emotionen sind sehr machtvolle geistige Energien und nicht leicht lenkbar: Mal sind wir vergnügt, ein andermal betrübt - und so geschieht es recht oft im täglichen Leben. Emotional investieren wir am meisten im Umgang mit unseren Mitmenschen, denn unsere Emotionen sind oft Reaktionen und Antworten auf die Begegnung mit ihnen. Um uns weiterzuentwickeln und emotional reifer zu werden, müssen wir uns dieser emotionalen "Wetterlagen" bewusst werden. Es ist also hilfreich, wenn wir auf unsere Emotionen und etwaige Stimmungswechsel gut acht geben.

Wo immer wir emotionale Erfüllung suchen, woran immer wir unser Glück gerade hängen mögen, in einer sich ständig wandelnden Welt ist es letztlich ein Objekt des Anhaftens und damit eine Krücke, die irgendwann von der Vergänglichkeit aller bedingten Erscheinungen weggezogen wird. Dies betrifft nicht nur die äußere Welt der Sinnesobjekte, sondern auch die innere Welt der Ideen, Vorstellungen und Meinungen, denn das Hängen an diesen Geistobjekten ist eine ebenso starke Bindung wie das Haften an äußeren Dingen. All dieses Anhaften, Ergreifen, Festhalten oder Sehnen vergrößert auf Dauer nur unseren Schmerz über den eines Tages unausweichlich eintretenden Verlust. Je stärker wir daran hängen, umso härter und ungerechter erscheint uns später die Leerstelle, wenn sich Verlust ereignet. Heftiges Verlangen (Begehren) entsteht nur dann, wenn wir uns von den Gefühlsqualitäten des Angenehmen oder Unangenehmen beherrschen lassen.

Doch ist, wie Nyanaponika anschaulich darlegt, die unmittelbar auf einen Sinneskontakt folgende Gefühlsqualität in ihrer ursprünglichen Natur zunächst völlig wertfrei, da sie die Einwirkung eines Objekts auf das Bewusstsein lediglich als angenehm, unangenehm oder neutral vermerkt. Erst wenn dann in der Folge emotionale und willentliche Beimischungen zugelassen werden, entsteht Wünschen und Hoffen, Ablehnen und Widerstehen, Fürchten, Wüten, Trauern und diverses verzerrtes Wahrnehmen. Doch dies muss nicht so sein, denn diese inneren Zutaten sind keine festen Bestandteile dieser Gefühlsqualitäten. Tatsächlich bleibt es im täglichen Erleben oft bei einem bloßen Bemerken oder einem unterschwelligen und schlaglichtartigen Gefühl, ohne dass tatsächlich weiteres emotionales Ausufern stattfindet. Dies zeigt, dass ein Innehalten an diesem Punkt praktisch realisiert und mit Bewusstheit, Gewahrsein und den Mechanismen der Selbstregulation auch willentlich bewirkt werden kann, selbst wenn der Impuls, eine bestimmte Gefühlsqualität in eine emotionale Reaktion umzuwandeln und sich an sie zu binden, sehr stark sein mag.

Dies ist die buddhistische Auffassung über die Natur des Anhaftens (upadana) und der verwandten inneren Faktoren wie dem Begehren (tanha). Die Abfolge ihres Entstehens und Vergehens in Abhängigkeit von Bedingungen kann vereinfacht so ausgedrückt werden:

Anhaften hängt von der Emotion heftigen Verlangens (Begehrens) ab,   
Begehren hängt von den Gefühlsqualitäten des Zufriedenstellenden oder Unbefriedigenden ab,   
Diese Gefühlsqualitäten hängen vom Kontakt der Sinne mit Objekten ab.

Im täglichen Leben ist es praktisch nicht möglich, das Problem des Anhaftens dadurch zu lösen, dass wir den Kontakt mit der Welt abbrechen. Ebenso wenig ist es möglich, das unmittelbar folgende Erleben von Zufriedenstellendem oder Unbefriedigendem zu verhindern, wenn ein Sinneskontakt stattgefunden hat. Dies bedeutet: der Zyklus des 'Bedingten Entstehens' (von leidvollem Erleben) kann überhaupt nur unterbrochen werden, wenn dies im Spannungsfeld der unmittelbar darauf folgenden Gefühlsqualität (vedana) geschieht.

Dieser Kreislauf kann also mit guten Erfolgsaussichten in dieser vorgängigen Phase des Zuneigens und Abneigens, des Verlangens und Ablehnens, des Anziehens und Abwehrens unterbrochen werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir alles aufgeben müssen, was Freude mit sich bringt und Zufriedenheit schenkt. Was hier wirklich gemeint ist:

Wir können lernen, uns von der Beherrschung durch die Gefühle des Zufriedenstellenden und Unbefriedigenden frei zu machen.


Dies bedeutet auch, dass unser Leben von Vernünftigkeit sowie einer Harmonie der Emotionen und nicht von emotionaler Einseitigkeit oder irrationalen Vorlieben und Widerständen gelenkt werden kann. In der buddhistischen Einsichtsmethode ist es daher sehr wichtig, sich all dessen, was unser qualitatives Erleben in diesem Zusammenhang prägt, so vollständig gewahr zu werden wie nur möglich. Viele Menschen wissen aber oft gar nicht, was sie gerade in Bezug auf die uns umgebende Vielfalt tatsächlich fühlen und so verflacht ihre Wirklichkeitsdifferenzierung immer mehr und Orientierungslosigkeit macht sich breit. Ein Zitat von Karl Kraus bringt dies treffend zum Ausdruck: "Was mich immer tief alteriert hat, das ist, mit welcher Selbstverständlichkeit die meisten Menschen ihr Gesicht tragen."

Von großer Wichtigkeit ist also Wachsamkeit auf alle Gefühle des Zufriedenstellenden oder Unbefriedigenden bereits bei ihrem Entstehen! In ihrem Vorfeld können wir damit beginnen, diese unmittelbaren Gefühlsqualitäten von Vergnügen und Schmerz, Freude und Missfallen, aufrichtig anzuerkennen, denn sie sind die tiefreichendsten aller Empfindungen. Sie sind die Punkte, an denen die Emotionen ihren Ursprung haben, und hier können wir emotionale Wahrhaftigkeit üben. Dabei hilft, Leonard Bullen folgend, die Praxis des Anerkennens. Ihr liegt eine praktische Haltung zugrunde, die einzunehmen notwendig ist, um überhaupt zu einem Klarblick hinsichtlich der wahren Natur der Emotionen zu gelangen. Bei dieser Übungspraxis befragen wir uns über den Tag hinweg immer wieder selbst, ob wir etwas fühlen oder nicht, und ob wir die jeweilige Erfahrung mögen oder nicht. Wenn wir dabei etwas feststellen, ist der nächste Schritt zu betrachten, wie dieses Erleben im konkreten Fall eingefärbt ist und welche Richtung es unserem Denken und Handeln gibt.

Als nächstes können wir uns den wahren Wert unserer Gefühle des Zufriedenstellenden oder Unbefriedigenden und ihre wahre Bedeutung klar machen. Nur dadurch können wir verhindern, dass diese Qualitäten in der Folge Voreingenommenheit (agati) nähren. Auch wenn wir nur ein teilweises Loslösen erreichen und unseren Zugriff auf die Dinge nur etwas lockern sollten, so sind wir doch ein gutes Stück freier geworden, uns ihrer ohne Anhaften zu erfreuen, und aus dem gleichen Grund wird unser Empfinden des Verlustes weniger leidvoll sein, wenn sie vergangen sind.

Emotionen entstehen also nicht im luftleeren Raum - sie sind Antworten und Reaktionen auf ganz bestimmte Umstände. An irgendeinem Punkt gewähren wir ihnen Einlass. Eine negative Emotion ist eine Gewohnheit, auf die wir uns selbst eingelassen haben. Sie ist eine gewohnheitsmäßige Antwort, die durch bestimmte Reize ausgelöst wird und uns dazu bringt, auf unzählige Arten und Weisen uns selbst und/oder anderen Lebewesen Schwierigkeiten zu bereiten. Es ist deshalb in diesem Zusammenhang besonders wichtig, einen freundlichen und lichten Geist durch die Pflege der Meditationen über Liebende Güte, Mitgefühl, Freude und Gleichmut zu kultivieren. Mit einem derart harmonisierten Innenleben wird man sich und/oder anderen niemals wissentlich das Leben schwerer machen, als es schon ist.

Die Praxis emotionalen Nicht-Anhaftens (Loslösens) von grundlegenden unheilsamen Prägungen zielt auf die Freiheit von emotionaler Beherrschung und von Auslieferung an die unmittelbaren Gefühlsqualitäten des Zufriedenstellenden und Unbefriedigenden. Sie setzt auf eine Freiheit vom Anhaften an äußeren Dingen, an Erinnerungen, Erwartungen und Hoffnungen, an Wünschen und Widerständen und letztlich sogar vom Wunsch nach Wohlergehen (chanda) selbst.


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Die Gefühle sind die wahren Einwohner der menschlichen Lebensläufe. Sie beleben (und bilden) die Institutionen, sie stecken in den Zwangsgesetzen, in den glücklichen Zufällen, agitieren an den Horizonten, bewegen sich über diese hinaus bis in die Galaxien. Sie finden sich in allem, was uns angeht.

(Alexander Kluge)


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Quelle:
Buddhistische Montsblätter Nr. 4/2007, Oktober-Dezember , Seite 18-21
Herausgeberin: Buddhistische Gesellschaft Hamburg e.V.,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Oktober 2007