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PRESSE/709: Erziehen heißt Vorleben (Zenshin)


ZENSHIN - Zeitschrift für Zenbuddhismus, Nr. 1/08

Erziehen heißt Vorleben

Von Dorin Genpo Zenji


Buddhistische Eltern können ihren Kindern Freunde, Vorbild und Wegweiser sein, aber sie nicht "erziehen" im herkömmlichen Sinne. Das sind Erfahrungen von Dorin Genpo Zenji. Wichtig ist ihm, dass die Eltern selbst die Buddha-Lehre gut kennen und versuchen, sie im Leben umzusetzen. Dann wirkt das Gesetz von Ursache und Wirkung auch in der Familie.

Mit dem Thema Erziehung befasse ich mich aus eigener Betroffenheit schon mein Leben lang: als Kind und Jugendlicher, der ich einmal war, als Vater, ebenso als spiritueller Leiter der Hakuin-Zen-Gemeinschaft in Deutschland, aber auch aufgrund meiner Tätigkeit als Ratsmitglied in der Deutschen Buddhistischen Union (DBU) seit mehr als 20 Jahren. Meine Frau Toshiko ist Japanerin und wir haben drei Kinder. Die älteste Tochter ist 23, der Sohn ist 21 und die jüngste Tochter 15 Jahre alt. Als Eltern haben wir hautnah erfahren, was es heißt, als Buddhisten in Deutschland Kinder auf ihrem Weg zum Großwerden zu begleiten.

Dennoch kann ich Ihnen im Folgenden keine Anleitungen geben, wie Sie ab heute fehlerfrei mit den Ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen umgehen sollen. Und ebenso wenig kann ich eine Garantie für die Richtigkeit und Vollständigkeit meiner Ausführungen geben.


Gibt es überhaupt eine "buddhistische Kindererziehung"?

Meiner Überzeugung nach gibt es keine "buddhistische Kindererziehung" - jedenfalls keine festgelegten und verbindlichen buddhistischen Patentrezepte, die sich Gelehrte für eine erfolgreiche Erziehung des Nachwuchses irgendwann einmal ausgedacht hätten. Und deshalb verwende ich lieber den Begriff "buddhistische Erziehung". Denn vieles von dem, was sich dazu sagen lässt, beschränkt sich nicht nur auf Kinder und Jugendliche. Aber viele Buddhisten stehen nun einmal in der Verantwortung, sich zu fragen, "Wie erziehe ich meine Kinder?" - oder besser ausgedrückt, "Wie begleite ich die mir anvertrauten Kinder auf ihrem Lebensweg?".

Wir Menschen, wie alles in diesem Universum, sind nach buddhistischer Ansicht dem Gesetz von Ursache und Wirkung unterworfen. Es ist also ausschlaggebend, aus welcher Motivation heraus wir denken, sprechen und handeln. Alles hat seine Ursache im Geist, im universellen Bewusstsein. Vom Geist gehen die Dinge aus, sind geistgemacht und geistgelenkt. Und so sind buddhistische Erzieher - Eltern, Angehörige und Pädagogen - eigentlich nur Wegweiser, Impulsgeber, Entwicklungshelfer und Vorbilder. Es geht darum, zur Entwicklung und Entfaltung eines Kindes beizutragen. Dies setzt bei den Erwachsenen voraus, dass sie sich auf dem Boden der buddhistischen Lehre bewegen und leben, was sie predigen. Es gibt in der buddhistischen Lehre, wie in anderen Religionen auch, klare Verhaltensanweisungen, ethische Grundsätze und Richtlinien. Wer der Annahme ist, im Buddhismus könne man machen, was man möchte, der irrt sich! Die Buddha-Lehre gibt präzise Hinweise und Hilfsmittel an die Hand.


Abgenabelt - und wie geht's weiter?

Das Kind wird aufgrund seiner karmischen Ursachen geboren. Es bringt bereits einiges an Veranlagungen mit sich. Das Kind lernt bereits vorgeburtlich und dann vom ersten Augenblick der Geburt an sein gesamtes Leben lang. Die Entwicklung in den ersten drei Lebensjahren legt das Fundament für die weitere Entfaltung.

Körper und Geist bilden in den ersten Lebenswochen und Monaten eine Einheit. Der junge Mensch wird sich hauptsächlich mit sich selbst beschäftigen. Er hört, schmeckt, fühlt, sieht, bewegt sich, kommt so zu Erfahrungen und lernt dabei aus sich selbst heraus. Er entfaltet nach und nach - wenn man ihn nicht dabei stört - seine bereits in ihm angelegten Potenziale.

Wichtig ist: nichts fordern, was noch nicht an der Reihe ist! Manche sind schneller als andere, andere brauchen mehr Zeit ...

Wenn in den ersten drei Lebensjahren das Urvertrauen (karmisch bedingt) nicht gestört wird, dann hat das Kind die besten Voraussetzungen, ein erfülltes, glückliches Leben zu führen.


Leben und lernen sind eins

Jeder Mensch befindet sich in einem kontinuierlichen Lernprozess. Er muss sich auf immer wieder neue und sich verändernde Lebenssituationen einstellen. Buddhistische Erziehung besteht darum meines Erachtens hauptsächlich darin, den heranwachsenden Menschen miterleben zu lassen, dass das Leben ein ständiges Umgehen mit Veränderung bedeutet und folglich ein ständiges Lernen beinhaltet, das mit dem Erwachsenwerden keinen Abschluss findet. Die sogenannte Erziehung sollte sich deshalb nicht ausschließlich auf fixierte Ziele konzentrieren, sondern grundsätzlich flexibel auf die gegebenen Situationen eingehen.

Erziehende Menschen müssen sich vor Augen halten, dass Veranlagungen, Begabungen, Schwächen und Potenziale in jedem Menschen selbst liegen, was ja auch die Verschiedenheit der Charaktere erklärt. Buddhistisch zu erziehen bedeutet eigentlich, ein Gespür dafür zu entwickeln, welche Möglichkeiten in einem Kind vorhanden sind, und Impulse zu geben.


Anleitung zu Selbstverantwortung und Güte

Buddhistische Erziehung beschränkt sich aber nicht auf bloßes Gewährenlassen, sie ist nicht antiautoritär. Sie sollte aber auch niemals rechthaberisch oder dogmatisch sein, sondern die Bedingtheit und Relativität allen Daseins aufzeigen. Es geht also auch darum, bei dem Heranwachsenden ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass alle Gegebenheiten und Zustände durch eigene Verursachung und Willenstendenzen entstehen. In diesem Sinne wird ein Verstehen und Akzeptieren der eigenen Verantwortung gefördert. Eltern können das Selbstbewusstsein ihrer Kinder stärken, wenn sie deren Vertrauen und Einsicht in die eigenen Potenziale wecken. Gelingt es, dem jungen Menschen aufzuzeigen, dass seine Lebensgestaltung und der Sinn, den er seinem Leben gibt, in ihm selbst vorhanden sind, führt dies zu Selbstverantwortung und Selbstständigkeit.

Die Entwicklung dieser Qualitäten setzt voraus, kindliche Spontaneität und eine verantwortbare Risikofreudigkeit zuzulassen, sowie Neugier und Kreativität zu fördern. Zugleich muss zur Bewältigung von Problemen und Konfliktsituationen Hilfestellung gegeben werden. Eine solche Erziehung fordert auch Leistung, übt aber keinen Zwang aus. Ein weiterer wichtiger Aspekt der Erziehung im buddhistischen Sinne ist die Hinführung zu Güte und Toleranz, friedlicher Gesinnung und Gewaltlosigkeit. Die goldene Regel, die in allen Kulturen und Religionen zu finden ist, sagt, dass man anderen nichts zufügen soll, was man selbst auch nicht erleiden möchte.

Ebenso sollten die Kinder erleben, dass mit den Gläubigen und den Lehren anderer Religionen tolerant umgegangen wird. Es ist sinnvoll, wenn in buddhistischen Familien christliche Feiertage beachtet werden und Kinder ihr christliches Umfeld kennenlernen.


Kleine Buddhisten?

Mir ist klar: Buddhisten möchten ihre Religion niemandem aufdrängen, auch nicht ihren Kindern. Es ist jedoch nicht sinnvoll, Alltagsleben und spirituelles Leben zu trennen. Wenn Eltern ihre buddhistische Überzeugung und Praxis den Kindern vorleben, wachsen diese in einer Atmosphäre des Mitgefühls, der Eigen- und Mitverantwortung auf und lernen auf undogmatische Weise die buddhistische Lehre in Theorie und Praxis kennen.

Dass sich das Kind für die Buddha-Lehre entscheidet, kann sinnvoll erst erfolgen, wenn es dies selbst frei tun kann. Zwang von Seiten der Eltern darf es nicht geben.


Buddhistische Praxis ist keine Nabelschau

Als spiritueller Leiter eines Zen-Tempels und einer buddhistischen Gemeinschaft erlebe ich immer wieder, dass die Erwachsenen ihre Spiritualität ohne Familie oder Kinder ausüben. Diese kleine Geschichte gab mir sehr zu denken: Eine Ehefrau und Mutter kam zu mir und meinte: "Auch wenn mein Mann das immer wieder behauptet, habe ich überhaupt nichts dagegen, dass er regelmäßig zu Ihnen in den Tempel kommt, um zu meditieren und Buddhismus zu praktizieren. Wirklich Freude würde es mir aber machen, wenn es auch etwas Gutes bewirken würde. Wir zu Hause merken jedenfalls nichts davon."

Wie schade, wenn von der Buddha-Lehre und der spirituellen Praxis nichts Positives auf die nächste Umgebung ausstrahlt!

Auch in den Zentren und Gemeinschaften, in denen Erwachsene praktizieren, gibt es vielfach keinen Platz oder keine Angebote für Kinder und Jugendliche. So kann es sein, dass sie oft gar nicht wissen, welche Religion Vater oder Mutter ausüben. Gelegentlich erfahre ich auch, dass in der Familie nicht über Buddhismus gesprochen wird, dass das Gute an Erfahrung und die heilsamen Lehren nicht in den Alltag übertragen werden. Und immer wieder stoßen meine Aufrufe in buddhistischen Kreisen, mehr für Familien, Alleinerziehende, Kinder und Jugendliche zu tun, auf taube Ohren oder Ablehnung. Doch gerade daran, wie wir Buddhisten mit unseren Kindern, Jugendlichen und unseren Alten umgehen, sollten wir gemessen werden.


Fazit: Erziehung zur Selbsterziehung

Den besten Lehrmeister für sich findet man schließlich nur in sich selbst, die eigentliche Arbeit hat jeder Einzelne in sich zu leisten. Das trifft auf Eltern und ihre Kinder gleichermaßen zu. Dabei ist aus Fehlern, überstandenen Krisen und Schwierigkeiten am meisten zu lernen. Nicht im Verdrängen oder im Davonlaufen liegen die Lösungen für Wachstum und Reife, sondern im genauen Hineinsehen in sich selbst. Nur so entstehen Klarheit und Selbsterkenntnis, um die Augen öffnen zu können für das, was ist. Eltern und ihre Kinder gehen da nur ein Stück ihres Weges gemeinsam.


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Quelle:
ZENSHIN - Zeitschrift für Zenbuddhismus, Nr. 1/08, S. ..-..
Herausgeberin: Hakuin Zen Gemeinschaft Deutschland e.V. (HZG)
Burggasse 15, 86424 Dinkelscherben
Redaktion: Nanshu Susanne Fendler / Bunsetsu Michael Schön
Übelherrgasse 6, 89420 Höchstädt a.d.D.
E-Mail: s-fendler@t-online.de / schoen-bio@gmx.de

ZENSHIN erscheint halbjährlich.
Einzelheft 7,50 Euro inklusive Versand


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juli 2008