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PRESSE/736: Die Chan-Lyrik Wang Weis (Buddhismus aktuell)


Buddhismus aktuell, Ausgabe 4/2008
Zeitschrift der Deutschen Buddhistischen Union

Das Entstehen und Verschwinden der Welt
Die Chan-Lyrik Wang Weis

Von Hans-Günter Wagner


Chan-Verse haben als lebendige Zeugnisse des Erwachens die Jahrhunderte überdauert. Wang Wei hat im 8. Jahrhundert v. Chr. die tiefen Erfahrungen der gegenseitigen Durchdringung aller Dinge und ihrer Substanzlosigkeit auf eine bis heute berührende Weise ausgedrückt. Der Autor stellt den großen buddhistischen Dichter und Maler vor.


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Philosophische Fragen nach dem letzten Grund der Dinge oder dem Ursprung der Welt sind eigentlich kein Gegenstand der buddhistischen Lehre. Das Erklärbare zu erklären und das Unerklärliche als solches zu belassen, ist der bescheidene und realistische Erkenntnisanspruch buddhistischer Lebensweisheit. Als Buddha einst gefragt wurde, woher die Dinge im Anfang kämen, wohin sie am Ende gingen und warum es überhaupt etwas gebe und nicht Nichts, antwortete er mit einem Gleichnis: Wenn sich jemand in einem brennenden Haus befindet, was ist dann sein erstes Ziel: herauszufinden wie es zum Brand kam, wer der Brandstifter war, wie er zur Rechenschaft gezogen werden kann usw.? Oder ist nicht vielmehr das Wichtigste, als Erstes einen Weg aus der Gefahr zu suchen?

Anders als die abendländische Tradition der ewigen, von Zweifeln getriebenen Suche nach letzter Gewissheit und "der" Wahrheit als Erkenntniswert an sich ist der Buddhismus pragmatisch: Nicht das Wissen und die Erkenntnis als solche sind erstrebenswert, sondern jenes Wissen, das den Weg aus der vergänglichen Welt weist, dem "Leidensmeer" der Existenz, jenes Wissen der Befreiung von Alter, Krankheit und Tod, den drei unvermeidlichen Folgen der physischen Geburt. Dennoch haben sich auch Buddhisten und buddhistisch inspirierte Menschen im Lauf der Jahrhunderte existenzphilosophische Fragen gestellt und durchaus unterschiedliche Antworten gefunden. Nicht immer sind dabei logisch konsistente Systeme formuliert worden. Oft war es gerade das Fragmentarische und Poetische, das die Grenzen der Sprache Auslotende, das Indirekte und sich dem letztlichen Zugriff Entziehende, von dem die inspirierendsten Impulse ausgingen. Wang Weis Dichtung steht in dieser Tradition.


Poet und Maler der flüchtigen Stille

Wang Wei lebte 699-759, zur Zeit der Tang-Dynastie, als das chinesische Reich eine Epoche wirtschaftlicher und kultureller Blüte erlebte. Er war kein Philosoph im eigentlichen Sinn, sondern betätigte sich in seiner freien Zeit als Poet und Maler, zudem war er ein begabter Musiker. Lange Jahre stand er auch als Mandarin in kaiserlichen Diensten. Am Ende zog er sich in die Einsamkeit zurück, wo er sich ganz der Praxis des "Chan" (Zen, chinesisch ausgesprochen) widmete. Unzählige Verse entstanden in jenen Jahren, stets in dem Bemühen, der Erfahrung der Stille poetischen Ausdruck zu verleihen. Seine zumeist vier- oder achtzeiligen Gedichte haben auf die nachfolgenden Generationen stilbildend gewirkt. Wang Wei gilt bis heute als der klassische poetische Beschreiber und Maler der idyllischen Atmosphäre südchinesischer Landschaften. In seinen Bildern verzichtete er zumeist auf Farbe und malte mit schlichter schwarzer Tusche. So entstanden beeindruckende Zeugnisse feiner, nebelverhangener Berg- und Wasserpanoramen, in denen das Subjekt gleichsam eins mit seiner Umgebung wird. Seine Gedichte und die wenigen erhaltenen Gemälde zeugen von einer erstaunlichen Fähigkeit, der Flüchtigkeit und Essenz der Dinge Ausdruck zu verleihen. Natur und Geist sind in Wang Weis künstlerischem Schaffen eins. Die stille Landschaft, der gemächlich mäandernde Fluss, die flüchtigen Wolken sind Ausdruck der inneren Stille und friedlichen Gelassenheit, sie versinnbildlichen den gelösten Geist, der frei ist und an nichts haftet.

Die Beschreibung der Erhabenheit und Unvergleichlichkeit dieser Erfahrung durchzieht seine Dichtung. Die Dinge vergehen im Moment ihrer Entstehung. Neben ihrer Unwirklichkeit sind ihre wechselseitigen Verbindungen auf der materiellen Ebene ein weiteres Leitmotiv. Wandlung und Transformation kehren immer wieder, allerdings ohne jede bleibende Identität. Eben war der Geist noch in den Bergen, jetzt folgt er dem Lauf des Wassers, schon löst er sich im emporsteigenden Nebel auf oder entschwindet in den vorbeiziehenden Wolken. Diese laufende Abfolge verweist auf den ständig wiederkehrenden Kreislauf und unablässigen Wandel, doch zugleich soll sie ein Gefühl der Unwirklichkeit der Wandelwelt auslösen, eine Ahnung dessen, was sie transzendiert. Die Ungleichzeitigkeit der Dinge und Ereignisse deutet auf den illusionären Charakter der phänomenalen Welt. Wo die Dinge ihrer Vergangenheit ledig sind und ihre Zukunft noch nicht begonnen hat, ist das ewige Jetzt, der unerschöpfliche Augenblick ohne Anfang und Ende. In der poetischen Vermittlung dieser Erfahrung liegt die philosophische Dimension dieser Lyrik. Jeder Augenblick hält die letzten und wahren Dinge bereit. Wo der Geist sich von den Ketten von Ursache und Wirkung löst, wird der Blick frei für die bedingungslose Wirklichkeit.


Substanzlose Welt

Zu Lebzeiten Wang Weis erreichte der Mahayana-Buddhismus in China seine höchste Blüte. Überall entstanden neue Klöster und Lehrmeinungen. Unter den aus Indien überlieferten und ins Chinesische übersetzten Texten erfreute sich die Philosophie des "Madhyamaka", des mittleren Wegs (chin. "Zhongguan"), besonderer Beliebtheit. Die Madhyamaka-Schule, die auch bei der Entwicklung des Chan eine wichtige Rolle gespielt hat, basiert auf der "Shunyata"-Lehre von der Leerheit aller Phänomene und wurde von Nagarjuna im zweiten nachchristlichen Jahrhundert begründet. Nagarjuna wandte sich vehement gegen das Konzept der Essenz oder inhärenten Existenz der Phänomene. Es wäre eine unzutreffende Verkürzung, wollte man Wang Weis Dichtung als eine Illustration dieser Denkrichtung auffassen. Dennoch lassen viele seiner Verse den Einfluss von Nagarjunas Philosophie erkennen. Wie aus Nebel und Nichts treten die Dinge Verszeile um Verszeile in Erscheinung, sind verbunden und verschwinden wieder in die Leerheit.

Nagarjunas höchstes Prinzip ist das "Entstehen in Abhängigkeit", das er mit dem Konzept der Leerheit gleichsetzte: Die Dinge seien frei von inhärenter Eigenexistenz, d. h. sie existierten nicht aus sich heraus, sondern im Gewebe des Lebens nur in der Verbundenheit von allem mit allem. Auf der höchsten Ebene sei kein Unterschied zwischen dem Nirwana und dem Samsara. Er begründete diesen Standpunkt vor allem mit seinem Konzept der Zeit. Nur in der Zeit seien die Dinge vergänglich, doch diese lasse sich niemals auf einen, wenn auch noch so winzigen Punkt bringen. Augenblicke entstehen und vergehen, ohne jemals zu bestehen.

Das Bild der Wirklichkeit als vielfach verwobenes Netz mannigfaltiger Beziehungen, ist eine Assoziation, die sich beim Lesen vieler Verse Wang Weis fast zwangsläufig aufdrängt. Ausformuliert findet es sich im sogenannten "Blumengirlanden-Sutra" (chin. "Huayanjing", sanskr. "Avatamsaka-Sutra"), einem der am weitesten verbreiteten kanonischen Texte des chinesischen Buddhismus, dessen Einfluss auf das Werk Wang Weis unverkennbar ist. Das Blumengirlanden-Sutra richtet sein Augenmerk auf die wechselseitige Durchdringung aller Dinge und Phänomene sowie auf die Beziehung des Teils zum Ganzen und umgekehrt. In diesem Sinn liefert der Text auch die philosophische Grundlage einer Ethik des Nichtverletzens: Wer ein Wesen tötet, tötet sich in gewissem Sinn selbst und alle anderen Wesen, da alle miteinander verbunden sind.

Das Sutra beschreibt zehn gegenseitige Durchdringungen, die von "Alle Lebewesen durchdringen einen Körper, ein Körper durchdringt alle Lebewesen" bis zu "Alle Zeiten durchdringen eine Zeit, eine Zeit durchdringt alle Zeiten" reichen. Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart bedingen einander und sind in jedem Augenblick ineinander zu finden. Die scheinbar getrennten Erscheinungen der Welt existieren nur, weil sie einander wechselseitig bedingen, sind aber ohne beharrendes Selbst. Die Knospen erblühen - die Blüten fallen. Die Subjektlosigkeit der Wirklichkeit ist ein durchgehendes Motiv der chinesischen Chan- wie auch der verwandten japanischen Haiku-Dichtung. Neben dem Chan-Buddhismus hat auch die taoistische Lehre vom unaussprechlichen Urgrund aller Dinge und das Konzept der Nichtidentität, wie es etwa in Zhuangzis "Schmetterlingstraum" zum Ausdruck kommt, Wang Weis Lyrik beeinflusst.


Verse des Erwachens

Um diese Erfahrungen auszudrücken, bedient sich Wang Wei der Natur. Aus der achtsamen Betrachtung der Berge und der Wolken, der Jahreszeiten, dem Lauf der Sonne und des Mondes entspringt die spontane Einsicht in die wechselseitige Verknüpfung aller manifesten Erscheinungen. Das Bild der Wolken steht für die Ichlosigkeit aller Phänome. Entstanden aus Ursachen, vergänglich und ohne bleibende Substanz - so ist auch die menschliche Existenz. Wer dies wahrhaft erkennt, der schaut die höchste Wirklichkeit, deren Reinheit und Vollkommenheit mit einer leuchtenden Blume oder zarthellen Blüte assoziiert wird. Wang Weis Verse sprechen über die Welt wie auch über den Weg aus ihr heraus. Ihr existentielles Anliegen ist die Loslösung von Leiden und Anhaftung, das Verlöschen im Nirwana.

Wie bei anderen Chan-Dichtern ist der Mond eine Metapher für die Kühlung der Leidenschaften und der Klarheit, die erfährt, wer sich aus der Hitze und dem Getriebe der Wandelwelt löst. Die Bildersprache der Chan-Dichtung ist über die Jahrhunderte gleichgeblieben - so auch ihre Inhalte. Wo die philosophischen Lehren bisweilen ins Scholastische abglitten, da überzeugte die Schlichtheit der Lyrik gerade durch ihre Indirektheit und Vieldeutigkeit. Gleich einem chinesischen Garten mit seinen verschlungenen Pfaden, eckigen Fenstern und Ausblicken auf Orte, die man niemals direkt ereicht, sondern erst, wenn man um eine Ecke, über eine Brücke oder durch einen verschlungenen Korridor gegangen ist, so wird in Wang Weis Poesie das Eigentliche nie benannt, sondern allenfalls umkreist, meist spricht es nur aus zarten, blumigen und eher beiläufigen Andeutungen. "Die Worte umkreisen und treffen doch den Kern", wie es in einem chinesischen Sprichwort heißt. Der Umweg als Zugang ist ein ausgeprägter Wesenszug dieser Lyrik, die sich in vielem als der nachhaltigste Träger der Chan-Erfahrung erwiesen hat: Chan-Verse haben als lebendige Zeugnisse des Erwachens die Jahrhunderte überdauert.


Rückzug von der geschäftigen Welt des Wandels

Auch der Rückzug in die innere Stille kehrt in Wang Weis Dichtung immer wieder. Ob es um die Rückkehr in die Bergeinsamkeit während seiner späten Lebensjahre geht oder um die innere Einkehr inmitten einer geschäftigen Welt, das Motiv ist das ruhige Verweilen, das Nichtanhaften, das Geschehenlassen der Dinge und die Suche nach Einsicht, die aus der Stille kommt. Dieser Rückzug verschließt die Augen nicht vor der Welt und wendet sich nicht von den anderen Menschen ab, vielmehr ist er ein Gewahrsein, das gerade in seiner Achtsamkeit von Augenblick zu Augenblick eine größere Präsenz und ein umfassenderes Verstehen erzeugt als die unablässige Geschäftigkeit, die niemals zu Distanz und Klarheit führen kann. So wird der Rückzug in die Stille zum Moment der größten Vergegenwärtigung und Klarheit. Die Muster des weltlichen Handelns werden erneuert, die Prioritäten des Lebens neu gesetzt. Diese Erfahrung vermittelt eine Einstellung der Gelassenheit und des Gleichmuts anstelle subjektbezogener Zielstrebigkeit: "Den Blick auf das eigene Selbst richten - und keine Pläne mehr schmieden."

Wang Weis künstlerisches Schaffen ist mit seiner Praxis des Chan untrennbar verbunden. Er betrachtete sich als buddhistischen Laien. Als hochrangiger Mandarin hatte er zeitweise die Stellung eines hohen Ministerialbeamten inne, eine Tätigkeit, die ihn, folgt man den historischen Aufzeichnungen, eher mit Verdruss als mit Freude erfüllte. In vielen seiner Verse werden die Amtsgeschäfte als Qual und das Leben am Hof als falsch und bedrückend geschildert.

Mit jedem Rückzug in die Bergeinsamkeit wurde ihm klarer, wo sein wirklicher Lebenszweck lag. Hierin folgte er dem Beispiel seiner Mutter, die eine praktizierende Buddhistin war und Wang Wei wie auch seinen Bruder entsprechend erzogen hatte. Während in seinen frühen Werken die Dharma-Lehre eher indirekt präsent ist, finden sich in seinen späten Versen immer öfter direkte Betrachtungen der buddhistischen Lehre, so auch die ausdrückliche Verwendung buddhistischer Termini und Lobpreisungen ihm bekannter Meister. Nach dem Tod seiner Mutter soll er sich drei Jahre lang in eine abgelegene Gebirgsregion zurückgezogen haben. Am Ende seines Lebens hat er sich dann ganz der Versenkung gewidmet. Lange Zeit verbrachte er im Zhongnan-Gebirge und in Wangchuan, an Orten, auf die auch viele seiner Verse Bezug nehmen. Zudem geht die Gründung eines Klosters auf seine Initiative zurück. In den Annalen wird Wang Wei zu den geistigen Wegbereitern der Südlichen Schule des Chan gezählt. Sein künstlerisches Schaffen hat die Jahrhunderte überdauert. Bis heute zählt er zu den bekanntesten chinesischen Poeten.


Hans-Günter Wagner, (49) ist traditionsübergreifender Buddhist und lebt mit seiner Frau seit über zwölf Jahren in China. Er ist zurzeit für das Management eines von der EU finanzierten akademischen Austauschprogrammes zuständig und übersetzt in seiner Freizeit Lyrik des Chan-Buddhismus (siehe auch Ba 3/07).


Im Land der wilden Orchideen

Der Berg im Herbst. Verglüht das letzte Sonnenlicht
In den Lüften ruft ein Vogel die Gefährten
Es ist die Zeit, da alle Farbe schwindet
Kein Ort, wo nicht die Abendnebel steigen

(Quelle: Ausgewählte Verse von Wang Wei aus:
Hans Günter Wagner, Wie die Wolken am Himmel.
Die Dichtung des Chan-Buddhismus, Yin Yan Media Verlag)


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Quelle:
Buddhismus aktuell, Ausgabe 4/2008, S. 52-55
Herausgeberin: Deutsche Buddhistische Union (DBU)
Buddhistische Religionsgemeinschaft e.V.
www.dharma.de
www.buddhismus-deutschland.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. November 2008