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PRESSE/793: Der Vorgang der Wiedergeburt (DMW)


Der Mittlere Weg - Nr. 3, September - Dezember 2009
Zeitschrift des Buddhistischen Bundes Hannover e.V.

Der Vorgang der Wiedergeburt

Von Axel Rodeck


I. Wiedergeburt ohne Seele

1) Ein irritierender Sprachgebrauch

Die Vorstellung von Prä- und Postexistenzen, also von einem Leben vor und nach der uns bewussten augenblicklichen Existenz, gab es in vielen Kulturen. Heute finden sich in den Weltreligionen zwei große Blöcke mit verschiedenen Ansichten: Einmal die monotheistischen Religionen mit dem Glauben, daß nach Tod und Zerfall des Körpers die Seele ohne erneutes Erdenleben (irgendwo) überdauert, zum anderen die indischen Religionen mit ihren Vorstellungen von Reinkarnation und Wiedergeburt. Reinkarnation und Wiedergeburt beziehen sich zeitlich aber nicht etwa, wie man meinen könnte, auf das Hervorbringen der Leibesfrucht, sondern bereits auf den Zeitpunkt der Zeugung (Befruchtung). Die beiden Begriffe werden oft synonym gebraucht, was aber nicht richtig ist. Denn die brahmanisch-hinduistische Lehre von der Reinkarnation ist streng von der buddhistischen Wiedergeburtslehre zu unterscheiden, weil sie anders als letztere vom Vorhandensein eines unvergänglichen Kerns (Seele, Ich) ausgeht.

a) Seit alten Zeiten bestand in Indien die Vorstellung von einem zyklischen Weltbild, wonach das Dasein im Kreis verläuft und Tod und (Wieder-)Geburt diesen Kreislauf bestimmen. Gegen Ende der vedischen Zeit vor 2.600 Jahren gingen die Upanishaden ("Geheimlehren") von der Existenz einer Seele (Skt. atman, Pali: attan) aus, welche den jeweiligen Tod des Wesens überdauert und sich immer wieder "inkarniert", d.h. in einen neuen (fleischlichen) Körper eingeht. Nach dieser vom Brahmanismus/Hinduismus aufgenommenen Ansicht handelt es sich bei dem Atman um eine feinstoffliche Substanz, eine "Monade" (griech. = "Einheit"). Und diese Substanz enthält die Fähigkeit zur Speicherung von Wahrnehmungen und Empfindungen, sie speichert auch die Sinneseindrücke, die aus eigenen Handlungen resultieren, also das sog. "Karma" (Pali: kamma) und gibt es an die Nachexistenz weiter.

b) Der Buddha übernahm die upanishadische Idee der Wiedergeburt in seine Lehre, widersprach jedoch der Behauptung einer unsterblichen Seele mit großem Nachdruck. Denn nur, wenn es keine unsterbliche Seele, kein ewiges Ich gibt, kann der Mensch die stets mit Leiden verbundene Individualität abwerfen und die Befreiung aus dem Wiedergeburtenkreislauf erreichen. Schon bald zu Beginn seiner Lehrtätigkeit hatte der Buddha deshalb dargelegt, daß in den als "Skandhas" bezeichneten Konstituenten, welche die empirische Persönlichkeit ausmachen - nämlich Körper, Empfindung, Wahrnehmung, Geistesregungen und Bewusstsein - kein den Tod überdauerndes Ich/Seele (atta) vorhanden ist. Er versah deshalb das Wort "Attan" mit dem Negationspräfix "an-" und lehrte das (Pali) "Anatta", die Nichtseelenhaftigkeit / Ichlosigkeit der Person. Wenn es aber gar keine Seele gibt, kann die Wiedergeburt auch nicht auf einer "Seelenwanderung" nebst nachfolgender (Re-)Inkarnation beruhen.

Hinsichtlich der Wiedergeburtslehre unterscheidet sich also der Buddhismus vom Brahmanismus/Hinduismus darin, daß er gemäß dem von ihm betonten Prinzip der Vergänglichkeit alles Irdischen die Existenz von ewigen, zur Wiedergeburt gelangenden Geistmonaden leugnet.


2) Der Konditionalnexus (Entstehen in Abhängigkeit)

Es schien ein Widerspruch zu sein, daß der Buddha einerseits die Wiedergeburtslehre vertrat, andererseits aber die Existenz einer Seele leugnete. Deshalb wollten die Anhänger der upanishadishen Seelenlehre vom Buddha wissen, wie denn eine Wiedergeburt ohne Seelenwanderung möglich sei: Die Seele sei es doch, die in die neue Existenzform übergehe, sie stelle die Identität der Vorexistenz mit der Nachexistenz dar. Der Buddha - oder die gelehrten Mönche, die später seine Lehrreden kodifizierten - erwiderte: Die Kontinuität der Wiedergeburten wird nicht hergestellt durch eine transmigrierende Seele, sondern durch einen Konditionismus der Daseinsformen. Jede (Wieder-)Geburt bedingt demnach eine weitere, so wie eine angestoßene Billardkugel ihre Wirkung an andere Kugeln weiter gibt, ohne daß materiell etwas in diese übergeht. Der Konditionalnexus (paticca-samuppada, Entstehen in Abhängigkeit) geht also nicht von substanzgestützten Phänomenen aus, sondern bildet allein durch das konditionale Hintereinander seiner Faktoren die neue empirische Person. Der in der überlieferten Form zwölfgliedrige Nexus stellt dazu folgende Reihe auf:

(1) Das erste Glied der Kette (und des Leidens!) ist die Unwissenheit (avijja), nämlich von der Leidhaftigkeit des Daseins, was gleichbedeutend ist mit der Unkenntnis der Vier Edlen Wahrheiten des Buddha. Sie bedingt das Entstehen von

(2) Kammabindung schaffenden Tatabsichten (sankharas), welche gut, schlecht oder neutral sind und - wiederum als unerlässliche (Vor-)Bedingungen! - ein entsprechendes

(3) Bewusstsein (vinnana) hervorrufen. Dieses prägt nach dem Tode eines Menschen

- hier Wiedergeburt! -

(4) die in einem Mutterschoß entstehende neue empirische Person (namarupa), welche mit ihren

(5) Sechs Sinnen (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten und Denken)

(6) Berührungen mit weltlichen Dingen erfährt, was zu

(7) Empfindungen führt. Daraus entwickelt sich die

(8) Gier (tanha) nach den Genüssen des Lebens. Und dies wiederum ist der Grund, warum wir im Tode nicht loslassen können, sondern eine neue empirische Person

(9) ergreifen mit der Folge des

- hier Wiedergeburt! -

(10) Werdens eines neuen Wesens mit der unausweichlichen weiteren Folge von

(11) Geburt und

(12) Tod.

Für unser Thema ist es wichtig, das 3. Glied "Bewusstsein" (vinnana) näher zu betrachten. Nach dem Tode eines Wesens geht sein gutes, schlechtes oder neutrales Bewusstsein in einen entsprechend guten, schlechten oder neutralen Mutterschoß ein und setzt in diesem die Entstehung einer neuen gleichqualifizierten Person (namarupa) in Gang. Den Vorgang schildert der Indologe H.W. Schumann wie folgt: "In den Schoß der zukünftigen Mutter senkt sich das Bewußtsein des Verstorbenen ein, nicht in die dort als Wiedergeburt entstehende empirische Person. Das Bewusstsein ist also keine Seele (attan), die in die neue Existenzform überwechselt."

Die neue Existenz wird also konditional bedingt und geprägt durch die kammischen Impulse, die der Sterbende hinterlässt. Das Bewusstsein der vorigen Existenz bedingt das neue Bewusstsein, ohne mit ihm identisch zu sein. Der Konditionalnexus bildet allein durch das konditionale Hintereinander seiner Faktoren die empirische Person und deren Wiedergeburtenkette. Das "Dasein" ist kein Sein, sondern ein Prozeß.


II. Sonstige Gesetzmäßigkeiten des Dharma

Die vorstehend geschilderte Lehre vom Entstehen in Abhängigkeit (Konditionalnexus) soll die Wiedergeburt ohne Seele theoretisch erklären und benennt darüber hinaus ein universelles Prinzip. Doch wir haben es hier mit einem Bündel von weiteren Gesetzmäßigkeiten zu tun, die unser Geschick bestimmen. Denn die riesige Welt des Lebens beruht in ihrem Kern auf einem zentralen Gesetz, dem "Dharma". Dieses fundamentale Gesetz und die sich aus ihm ergebenden Gesetzmäßigkeiten wurden von Buddha entdeckt und der Welt mitgeteilt und sind auch für die Wiedergeburt maßgeblich. Wir wollen folgend, unter Bezugnahme auf die Ausführungen des singhalesischen Theravada-Mönchs V. F. Gunaratna (Skt., Pali: Gunaratana), verschiedene Gesetzmäßigkeiten darlegen, die für den Ablauf des Wiedergeburtsvorganges konkret von Bedeutung sind.


1) Das Gesetz der Veränderung

Alles in der Welt ist der Veränderung unterworfen und nichts ist beständig, das gilt für den Menschen ebenso wie für den Kosmos. Der Mensch etwa befindet sich in einem Fließgleichgewicht: Jeden Augenblick sterben Hunderttausende von Zellen ab und werden durch ebenso viele neue ersetzt. Alle sieben Jahre wird so die ganze Materie, aus der er besteht, ausgetauscht. Obwohl sich alles ändert, geht jedoch nach dem "Gesetz von der Erhaltung der Energie" nichts verloren, und selbst nach dem Tode bleibt die sich auflösende Materie als Form von Energie erhalten. Freilich führt die Veränderung unvermeidbar zum Wechsel der Form: Aus dem Kind wird der Jüngling, aus diesem der Mann und aus diesem der Greis. Dies ist eine fließende Änderung, bei der zwischen den einzelnen Stadien keine klare, feste Grenze gezogen werden kann.


2) Das Gesetz des Werdens und des Bestehens

Wenn aber, wie vorstehend ausgeführt, sich alles ändert, so ist die logische Folge, daß etwas anderes entsteht, etwas "wird". Dies ist das Gesetz des Werdens (bhava), wonach letztlich das Werden der einzige Vorgang auf der Welt ist. Denn alles ohne Ausnahme ist ständig dabei, etwas anderes zu werden, ausnahmslos alles ist dynamisch. Das gilt sowohl positiv für Wachsen und Gedeihen als auch negativ für den Verfall. Die Tatsache, daß die Dinge ständig "werden", läßt auf einen ununterbrochenen Zusammenhang schließen, auf ein "Bestehen". Folge des Werdens ist also das Bestehen.

Betrachten wir den Werdeprozeß noch einmal unter Zugrundelegung des Konditionalnexus: Die "Gier" (Glied 8), also unsere Wünsche, unser Verlangen und insbesondere unser Lebenswille, führt direkt zum "Werden" einer neuen Existenz (Glied 10). Der Lebenswille wiederum ist geprägt durch das "Karma" (Pali: kamma), welches wir uns in der Vergangenheit erworben haben und welches nach dem "Gesetz von Ursache und Wirkung" unser zukünftiges Dasein bestimmt.


3) Das Gesetz von Ursache und Wirkung

Zur Gesetzlichkeit des Universums, dem "Dharma", gehört es, daß Handlungen ihre Folgen haben, also durch eine Kausalität bewirkte Ergebnisse. Jeder erntet das, was er gesät hat, die Umstände des gegenwärtigen Lebens erklären sich aus den Taten der Vergangenheit. Dies ist das Gesetz von Ursache und Wirkung, vom "Karma" (Pali: kamma). Es war ein entscheidender Schritt des Buddha, eine Neuinterpretation des Begriffs "Karma" vorzunehmen, und ihn über den Handlungsbereich hinaus auf den der Ethik auszuweiten. Der Buddha verkündete, daß Kamma eine rein ethische Gegebenheit des Denkens, der Rede und der Tat sei. Die Bewertung des Kamma als gut oder schlecht ergebe sich allein aus der Absicht, die dahinter stehe. Der Wert einer Tat hängt also von dem hinter ihr stehenden Motiv ab.

Im Augenblick des Todes eines Wesens geht aus der Angst vor dem Ende und dem Begehren nach weiterem Leben kammische Energie hervor, die, so Gunaratna, "wie Feuer immer und ständig am Brennen ist." Sie ist auf der Suche nach neuer "Nahrung", um die eigene Existenz aufrecht zu erhalten, nach einem Mutterschoß als neuer Unterkunft. "In dieser Weise setzt sich ein ständiger Strom von Begierde und Werdeprozessen fort. Das ist es, was man Leben nennt." (Gunaratna)


4) Gesetz der Anziehung (auch: der "Wahlverwandtschaft")

Wir wissen, daß gleich und gleich sich gern gesellt, und auch der Buddha sprach schon davon, daß Leute mit niedriger Stellung sich ebenso untereinander anziehen wie Leute aus gehobener Stellung. Hier spielen geistige Kräfte eine Rolle, die auf einem Verlangen (tanha) beruhen. Das stärkste Verlangen des Menschen ist aber, wie noch einmal betont werden soll, das nach Existenz (bhava tanha), es ist geradezu die Quelle aller anderen Verlangen. Wie jeder Gedanke auch ist das Verlangen ein Ausdruck von Energie und kann deshalb nicht zerstört werden. Im Augenblick des Todes werden diese im sterbenden Menschen angehäuften Energien zum Nährboden für die neue Existenz. Denn das Verlangen,ja die Habgier nach Leben führt dazu, daß eine neue Existenz ergriffen wird: "Jeder sterbende Mensch, der um seinen letzten Atemzug ringt, zieht eine weitere Existenz an." (Gunaratna) Der Wille zum Leben läßt ihn wiederleben. Allerdings ist der "Durst" nach Dasein und Erhaltung kein universaler und daher unaufhebbarer Trieb, sonst könnte er nicht individuell aufgehoben werden und Erlösung wäre nicht möglich.


III. Der Augenblick des Todes

1) Veränderung bei Geist und Gedanken

1. Das erwähnte "Gesetz der Veränderung" gilt nicht nur für den Körper, sondern auch für den Geist. Als Geist bezeichnet man das fortwährende Fließen der Gedanken, die endlose Gedankenfolge. Mit hoher Geschwindigkeit und ohne Abgrenzung untereinander, also als Strom, folgen die Gedanken einander und gaukeln einen selbständigen Geist vor. Ist ein Gedanke beendet, überträgt er seine charakteristischen Eindrücke unwiderruflich auf das Unterbewußtsein (bhavanga citta), wo diese gespeichert werden.

Da also sowohl Körper als auch Geist sich ständig verändern, besteht unser Leben nur aus einem kurzen Augenblick, und der nächste Augenblick bedeutet ein neues Leben, so wie ein sich drehendes Wagenrad immer nur mit einem Punkt den Boden berührt. Es spielt dann keine Rolle, ob der Wechsel von einer in die andere Existenz sich im gegenwärtigen Leben abspielt oder die Grenze zum Tod in ein neues Leben überschreitet.

2. Die Aussage, daß der Geist aus Gedanken gebildet wird, bedarf noch einer Verfeinerung: Die Gedanken ihrerseits bestehen aus sog. "Gedankenvorgängen", deren Zeiteinheit ein "Gedankenmoment" genannt wird. Nach indischer Systematik bilden 17 Gedankenmomente, jedes kurz wie das Aufleuchten eines Blitzes, einen Gedankenvorgang. Es soll darauf verzichtet werden, die 17 Gedankenmomente näher zu erläutern. Für unser Thema kommt es darauf an auszuführen, wie ein Gedankenvorgang im Augenblick des Todes wirkt.


2) Wirkung der Gedanken beim Tod

Im Augenblick des Todes fällt die den Menschen bildende Geist-Körper Kombination (nama-rupa) auseinander, wobei beide Teile nach dem Energieerhaltungsgesetz getrennt bestehen bleiben. Beim Körper erfolgt dies über den Prozeß der Verwesung, und wir wollen betrachten, was mit dem Geist, oder genauer gesagt: den aus Energie bestehenden und daher auch nach dem Tod fortexistierenden Gedanken, geschieht. Der letzte Gedankenvorgang beim Tode umfaßt nicht 17, sondern nur 8 Gedankenmomente, auf die folgend einzugehen ist:

3-5. Die ersten drei Stufen sollen nicht beschrieben werden, da sie sich mit denen eines Nichtsterbenden decken.

4. Die erste änderung stellen wir auf der 4. Stufe fest: Beim Sterbenden richtet sich dieses Gedankenmoment nicht mehr auf Eindrücke von außen, sondern auf Stimuli innerer Natur.

5. Es folgt (Stufe 5) das "Äußerste Gedankenmoment" (maranasanna javana citta), welches von erheblicher Bedeutung ist. Der sterbende Mensch ist durch seine Schwäche nicht mehr in der Lage, selber einen Gedanken zu fassen, sondern ihm wird eines der drei "Gedankenobjekte" oder "Todeszeichen" vorgegeben. Dies geschieht immer im Moment des Sterbens, wie unverhofft der Tod auch kommen mag, sogar - so Gunaratna - wenn jemand überraschend und ahnungslos erschlagen wird. Die drei Gedankenobjekte sind Folge von Gedanken an im Leben ausgeführte Taten:

a. Es kann der Gedanke an eine stark beeindruckende Tat sein oder eine Tat kurz vor dem Tode bzw., da dies dem Sterbenden meist nicht möglich ist, eine Gewohnheitstat,

b. Erinnerung zwar nicht an eine Tat selber, wohl aber an ein hierfür stehendes Symbol (z.B. Geldscheine bei einem notorischen Einbrecher),

c. Hinweise auf den Ort der Wiedergeburt (z.B. "himmlische" Musik bei einem guten Menschen, der wegen seiner Taten eine gute Wiedergeburt erwarten kann).

Das betreffende Gedankenobjekt/Todeszeichen bestimmt nicht nur den Todesimpuls, sondern auch das Wiedergeburtsbewußtsein, d.h. das Gedankenobjekt des letzten bewußten Gedankens vor dem Tode wird zum ersten Gedankenobjekt im neuen Leben (s. unten).

6-7. Sodann als Stufe 6 die weniger bedeutsame "Aufzeichnung der Erfahrungen" und als Stufe 7 das "Sterbebewusstsein" (cuti citta, auch "Todesbewußtsein") als letzter erfahrener Gedanke im gegenwärtigen Leben. Das Unterbewußtsein (bhagva citta) wird sich nun des sterbenden Geistes bewußt. Für das Sterbebewusstsein als "allerletzten" Gedanken spielt das Karma des Sterbenden die entscheidende Rolle. Hier können verschieden zu bewertende Handlungen in Konkurrenz treten, so daß folgende Prioritätenregel gilt:

a) "Schwerwiegendes Kamma", also die gewichtigste heilsame oder unheilsame Tat des vergangenen Lebens,

b) "Sterbensnahes Kamma" unmittelbar vor dem Tod. Hier wird vermutet, daß durch Rezitation heiliger Texte oder sonstiges positives Zutun doch noch im letzten Augenblick eine Bewußtseinsverbesserung erzielbar ist,

c) "Gewohnheitskamma", also das auf während des Lebens gewohnheitsmäßig ausgeübten Taten beruhende Kamma, für Normalbürger wohl die Regel.

8. Die letzte Stufe 8 ist das Wiedergeburtsbewusstsein (patisandhi citta), welches bereits im nachfolgenden Leben auftritt. Es wird durch den letzten Geisteszustand des sterbenden Menschen (s. o. Stufe 5 = maranasanna javana citta) geprägt, d.h. die Gedankenobjekte beider Geisteszustände sind gleich. Wie ein sterbender Baum noch ein letztes Mal üppig Früchte trägt, so entwickelt der letzte Gedanke des sterbenden Menschen ungeheure Energie, die meist auf das Verlangen nach weiterer Existenz gerichtet ist und deshalb zum Ergreifen einer neuen Existenz führt.

Die oben angeführten Gesetze kommen somit im Augenblick des Todes zur Anwendung und veranlassen im vereinten Zusammenwirken die Wiedergeburt, genauer: sie bilden die geistige Energie, die zusammen mit den Samenzellen des Mannes und der Eizelle der Frau einen Embryo in einem geeigneten Mutterschoß erschafft. So entsteht wieder eine Geist-Körper-Kombination (namarupa), eine neue Existenz. (Es wird auch die Meinung vertreten, daß der entsprechend disponierte Geist sogar ohne Kombination mit einem Körper in der geistigen Welt wiedergeboren werden kann.) Bei diesem Vorgang der "Wiedergeburt" gibt es eigentlich nichts, was von dem einen Leben in das nächste Leben gewandert ist. Die Vorexistenz konditioniert lediglich die Nachexistenz, ohne mit ihr identisch zu sein. Oder wird doch, wie wir folgend überlegen wollen, von Gunaratna eine in die Wiedergeburt ziehende Entität akzeptiert?


3) Buddhistische Scholastik

So interessant und anregend die Darlegungen Gunaratnas sein mögen, so beruhen sie doch offensichtlich auf Spekulationen der buddhistischen Scholastik. Eine Religion, stellt der Indologe H.W. Schumann hierzu fest, ist aber keine Naturwissenschaft und sollte daher nicht versuchen, das Geheimnis der Wiedergeburt durch eine psychologische Kausalkette erklären zu wollen: "Ließe sich die Wiedergeburt naturwissenschaftlich erklären, wäre sie längst ein Teil der Naturwissenschaft und wäre in medizinischen Handbüchern nachzulesen."

Etwas verwirrend sind wohl auch die Ausführungen zum letzten "Gedankenvorgang" mit seinen "Gedankenmomenten": Da haben wir das "äußerste Gedankenmoment" (Stufe 5), welches das Wiedergeburtsbewusstsein (Stufe 8) prägt und damit irgendwie in Konkurrenz tritt zu dem "Karma", das der Verstorbene in seinem Leben angesammelt hat. Während also das "Karma" für einen adäquaten Mutterschoß als Ausgangsbasis für das, neue Wesen sorgt, pflanzt sich das äußerste Gedankenmoment im Wiedergeburtsbewusstsein fort. Hier sehen wir die neuerdings kritisierte (s. Buchbesprechung Maug "Buddha, Dhamma und Buddhismus in DMW 2/2009) Einführung des Seelenglaubens "durch die Hintertür" auch im Theravada: Wenn schon weder Seele noch Bewusstsein in die neue Existenzform überwandern, dann doch wenigstens ein Gedankenobjekt. Damit wird wieder mal ein Ewigkeitsband eingeschmuggelt als Ersatz für den verpönten Atman.


IV. Unmittelbarkeit der Wiedergeburt

Die buddhistische Wiedergeburtslehre führte zu zwei praktischen Fragen, denen sich freilich auch die Seelentheorie der Atman-Theoretiker stellen mußte: Wie wird die Distanz vom Ort des Sterbens zu dem einer neuen Wiedergeburt (genauer: Empfängnis) überbrückt und welche Zeit ist hierfür erforderlich?

1. Für den frühen Buddhismus war das offenbar kein Problem. Er ging davon aus, daß die Geistesbestandteile wegen ihrer immateriellen Natur nicht von den Grenzen der Zeit und des Raums eingeschränkt werden können (Man denke an die heutigen Erkenntnisse der Quantenphysik!). Nach dieser Tradition verstreicht keine Zeit zwischen dem Augenblick des Todes und der neuen Verkörperung: Tod und Wiedergeburt (in Form einer Empfängnis) folgen unmittelbar aufeinander. Das letzte Gedankenmoment des sterbenden Menschen (maranasanna javana citta) prägt das Wiedergeburtsbewußtsein im nachfolgenden Leben. Der letzte Seufzer des Sterbenden fällt, jedenfalls nach theravadischer Ansicht, zeitlich mit dem Funken zusammen, der die Flamme des neuen Lebens entzündet.

Für irgendwelche Zwischenzustände oder Wartepositionen ist kein Raum. In seinem Werk "Visuddhimagga" (Weg zur Reinheit) erhellt Buddhaghosa, der große Kommentator und Interpret der Pali-Tradition, diesen Sachverhalt mit einer Reihe von Parabeln. Er vergleicht den Vorgang der Wiedergeburt mit einer Kerzenflamme, die auf einer anderen Kerze eine Flamme bewirkt, ohne selber auf deren Docht überzugehen. Die Unmittelbarkeit der Wiedergeburt vergleicht er mit einem Prozeß der Sinneswahrnehmung, bei welchem das Bewußtsein eines visuellen Eindrucks unmittelbar, also ohne Zeitverschiebung, auf den Augenblick der Sinneswahrnehmung folgt.

2. Es kann allerdings nicht verwundern, daß auch das Konzept von Zwischenzuständen (Sanskrit: antarabhava; tibetisch: bar do) vertreten wurde. Dies legte schon das hinduistische Umfeld mit seinem Glauben an einen weiterexistierenden feinstofflichen Körper nahe, der nach Trennung vom physischen Körper herumvagabundiert. Nur hundert Jahre nach dem Theravadin Buddhaghosa widmet sich im Übergangsfeld von Hinayana und Mahayana das "Abhidharmakosha" (Schatzkammer des Abhidharma) des Vasubandhu bereits detailliert der Einordnung der fünf Skandhas, aus denen die empirische Person besteht, zwischen zwei Bestimmungsorten, einem vergangenen und einem künftigen. Es schreibt dem Zwischenwesen eine Reihe von Eigenschaften zu, etwa daß es nur für Geschöpfe gleicher spiritueller Beschaffenheit erkennbar ist und von materiellen Barrieren nicht behindert werden kann. Der Abhidharmakosha widmet sich all den Themen, die auch das Kernstück des Tibetischen Totenbuchs bilden, sieht aber anders als dieses den Weg des Zwischenwesens als durch sein Karma prädestiniert an. Auch in einigen Mahayanatexten wird später der Gedanke von einem Zwischenzustand und dem darin befindlichen Wesen erörtert.

Am tiefgehendsten wird die Phase zwischen Tod und Wiedergeburt jedoch im Tibetischen Totenbuch behandelt, wo die Belehrung von Verstorbenen zwecks Erreichung einer möglichst erlösungsnahen Wiedergeburt geschildert wird. Nur in Tibet finden wir - so Lama Govinda - auch heute noch eine Kultur, die mit den großen Mysterien der Vorzeit verbunden ist, nur hier sei das Mysterium von Tod und Wiedergeburt bis heute lebendig geblieben.

Freilich müssen Theravada-Buddhisten "solche Belehrung eines Toten für unmöglich halten, da nach den Palitexten die fünf "Skandhas" im Todesmoment ihre Funktion einstellen und dem Verstorbenen weder Sinnesfähigkeiten wie das Hören noch ein Bewusstsein erhalten bleiben von einer Seele, die der Buddhismus ja bestreitet, ganz zu schweigen." (H.W. Schumann) Das deckt sich mit den Aussagen heutiger Naturwissenschaft: Was immer an Immateriellem (Bewusstsein!) nach dem Tode übrig bleibt, es sind keine körperlichen Eigenschaften aus unserer Raumzeitdimension wie Augen und Ohren. Daher wird es auch keine physikalischen Phänomene wie Schallwellen oder elektromagnetische Strahlung wahrnehmen können.

3. Zum Schluß sei zu diesem Thema V.F. Gunaratna zitiert, der auf die Frage, ob zwischen Tod und Geburt ein Zeitunterschied bestehe oder ob Tod gleich Geburt sei, wie folgt antwortete:

"Einige Schulen lehren, daß zwischen Tod und Geburt eine kleine Pause (antarabhava) eintritt; die Theravadaschule jedoch versteht Tod und Wiedergeburt als Teile eines Vorganges. Unverzüglich nach dem Cuti citta (Todesbewusstsein) kommt das Patisandhi Citta (Wiedergeburtsbewußtsein) auf. Der Stillstand des Maranasanna Javana Citta und des Cuti Citta endet im Aufkommen des Patisandhi Vinnana. Ein Tod hier bedeutet eine Geburt irgendwoanders; was hier verschwindet, erscheint irgendwoanders. ... Dem Buddhismus nach sind Tod und Geburt nur Türen von einem Leben zum anderen."


"Jede Empfängnis ist nur möglich durch den gleichzeitigen Tod eines Wesens in einem der fünf Reiche des Samsara, indem, was hier verschwindet, dort wieder erscheint. Den Schauern der Wollust im Moment der Begattung steht also die Qual des Todes des empfangenen Wesens in seiner bisherigen Gestalt gegenüber."

Georg Grimm


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Quelle:
Der Mittlere Weg - majjhima-patipada
41. Jahrgang, September - Dezember 2009/2553, Nr. 3, Seite 19-24
Herausgeber: Buddhistischer Bund Hannover e.V.
Drostestr. 8, 30161 Hannover,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. September 2009