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PRESSE/829: Die Epochen des Buddhismus (DMW)


Der Mittlere Weg - Nr. 1, Januar - April 2010
Zeitschrift des Buddhistischen Bundes Hannover e.V.

Die Epochen des Buddhismus

Von Axel Rodeck


I. Achsenzeit und Hinayana

1. Paradigmenwechsel in verschiedenen Gegenden der Welt

Karl Jaspers war es, der für die Periode zwischen 800 und 200 vor unserer Zeitrechnung den Begriff "Achsenzeit" prägte. Der Ausdruck ist treffend, denn tatsächlich war jene Zeit vor rund 2500 Jahren eine Drehachse des Denkens.

Das mythische Zeitalter ging zuende und es begann ein Prozeß, der zur Entstehung des heutigen Menschen führte. Religionsstifter und Denker entwarfen neue Leitbilder und formulierten ethische Ideale. In Persien lehrte Zarathustra (630-553), in China Konfuzius (551-497) und Laotse (4./3. Jh.), in Griechenland Heraklit (550-480) und Platon (427-348). In Indien wirkten die Zeitgenossen Mahavira, der die Jain-Religion stiftete, und der Buddha (563-483). Überall in Ost-, Süd- und Westasien erwuchsen aus Dörfern Städte mit regem sozialem und geistigem Leben; die geistige Entwicklung ging hier wie auch in anderen Ländern mit einer Änderung der sozialen Zustände einher.

In Indien waren die Entwicklung einer urbanen Kultur und der Untergang der vedischen Opferkulte festzustellen. Die Opferzeremonien waren ständig komplizierter, die Opfergaben immer teurer und die von den Opferpriestern geforderten Honorare immer unverschämter geworden. Seitab von den vedischen Opferkulten hatte sich deshalb eine Bewegung gebildet, deren Träger sich unabhängig von der überlieferten Religion auf die Suche nach geistiger Erweckung machten. Zahlreiche Männer verließen ihre Familien, um als Asketen oder hauslose Wanderbettler einen Weg zur Erlösung vom Leiden zu suchen. Zu diesen besitzlosen Wanderbettlern gehörte auch der Sohn des Gouverneurs des nordindischen Sakya-Stammes Siddhartha Gautama, der als 29-jähriger seine Heimatstadt und Familie verlassen hatte. Im Alter von 35 Jahren erfuhr er die "Erwachung" (bodhi) oder "Erleuchtung", die ihn zu einem "Buddha" machte.


2. Erleuchtung und Urlehre

Im Jahre 528 v. Chr., in der ersten Vollmondnacht des Monats Vesakha (April/Mai), hatte der 35-jährige Siddhartha Gautama in einem sich über drei indische Nachtwachen (9 Stunden) hinziehenden Prozeß die Buddhaschaft erlangt.Was war der Inhalt der Buddhaerleuchtung? Gautama erinnerte sich an seine Vorexistenzen, durchschaute, daß dieWiedergeburt durch das bewusste Tun (karman) verursacht und qualitativ bestimmt wird, und erkannte die Leidhaftigkeit jeder Existenzform - aber auch, wie der Prozeß der Wiedergeburt durch die Einhaltung ethischer Regeln zu einem Ende gebracht werden kann.

Sich die folgenden sieben Tage unter einem Bodhibaum ausruhend überlegte er, ob er seine "tiefe, schwer durchschaubare, schwer zu begreifende, sachgerechte, ausgezeichnete, bloßer Logik unzugängliche, feinsinnige, nur Gebildeten verständliche" Lehre für sich behalten oder sie anderen Menschen darlegen solle. Der nunmehrige "Buddha" entschied sich für die Verkündung. Zunächst suchte er die fünf Kameraden seiner früheren Askesezeit auf, die bei Benares im Wildpark von Isipatana weilten. Ihrem Vorwurf, sich von der harten Askese losgesagt zu haben, begegnete Buddha mit der berühmten ersten Lehrrede, dem "Sutra vom Andrehen des Dharma-Rades".

Er führte aus, die richtige Methode liege nicht in den beiden Extremen Askese oder Sinnesfreuden, sondern in einem "Mittleren Weg". Damit bot er eine vernünftige Alternative zu den extremistischen religiösen Ideen seiner Zeit. Der Kern seiner Lehre, welcher durch alle Zeiten und Entwicklungen der Lehre erhalten geblieben ist, war die Lehre vom Leiden ("Die vier edlen Wahrheiten"). Gemäß einer aus der indischen Medizin abgeleiteten Methode, wonach der Arzt zunächst nach der Krankheit, dann nach ihrer Ursache, sodann nach der Möglichkeit von ihrer Aufhebung und letztlich nach dem Heilmittel fragt, ging der Buddha systematisch vor. Er führte aus, alles Dasein sei Leiden, Ursache sei die Gier (auch "Durst" genannt) und Heilung könne folglich nur durch Beseitigung der Gier erreicht werden. Hierzu bot er als "Heilmittel" acht Regeln an, den "achtfältigen Pfad". Wenige Tage später erweiterte Buddha seine Lehre und stellte fest, daß entgegen der herkömmlichen brahmanischen Tradition die Wesen keine (ewige) Seele besitzen, die Subjekt der Wiedergeburt sein könne. Sie sind ohne ein Etwas, das den Tod überdauert. Es gibt keine seelenidentische Wiedergeburt, aber ein kausales Neuentstehen je nach der Qualität der Taten in der gegenwärtigen Existenz ("Karma-Gesetz").


3. Der elitäre Charakter der Lehre

Der Buddha war überzeugt, ein ewiges Naturgesetz wiederentdeckt und verkündet zu haben. Dem Naturgesetz der von den Taten bedingten Wiedergeburt unterliegt jeder, gleich ob er Anhänger oder Gegner von Buddhas Lehre ist. Die neue Lehre und ihr Lehrer fanden großen Zuspruch. Allerdings dominierten im Orden die Gebildeten. Brahmanen und Adel machten dreiviertel der Anhängerschaft aus. Auch in der Laienschaft waren die unteren Schichten nur schwach vertreten. Hier dominierte der Kaufmannsstand, für den die neue liberale Lehre mit ihrem Verzicht auf teuren Opferkult, der positiven Einstellung zu wirtschaftlichem Handeln wie auch der konsequenten Ablehnung verschuldeter Personen, welche sich durch die Ordination als Mönch dem Zugriff ihrer Gläubiger entziehen wollten, eine hohe Attraktivität besaß. Der Indologe H.W. Schumann wagt die Schätzung, daß die Buddhisten ungefähr 15 - 20%der Bevölkerung des mittleren Landes ausgemacht haben.

Schon bald bestätigte sich, dass Buddhas ursprünglicher Argwohn, ob jemand die komplizierte Heilslehre verstehen und das Heilsziel - das völlige Verlöschen (Nirvana) - erreichen könne. nicht unbegründet war. Zwar lehrte der Buddha, anders als die Brahmanen, in der Volkssprache und benutzte zu seiner Argumentation logische Verfahren wie Gegenüberstellung und Konditionalableitung. Gleichwohl waren zur Erreichung des Heilsziels günstige karmische Veranlagung, geistiges Niveau und eine zur Selbstzügelung bereite Lebensweise erforderlich. Es liegt auf der Hand, daß nur eine Minderheit diesen hohen Anforderungen genügen konnte.

Der Buddha ließ daher auch gegenüber Laien und schlichteren Gemütern im Orden keinen Zweifel daran, daß sie vorerst nur eine bessere Wiedergeburt, aber noch nicht die in weiter Ferne liegende Befreiung von der Wiedergeburt (Nirvana) erreichen konnten. Mönchen mit niederem Bildungsstand und Berufen wie Fischer oder Geierabrichter traute der Buddha zu, daß sie zwar ethische Qualitäten, aber nur geringe Erkenntnisfähigkeit besaßen.

Damit ergab sich ein Dilemma: Das Heilsziel der Lehre war nur von einer Minderheit der Anhänger zu erreichen, während die Mehrheit sich mit dem Streben nach einer besseren Position im Geburtenkreislauf begnügen musste. Die religiöse Aufgabe des Laien in diesem Leben bestand nur darin, seinen Vorrat an karmischem Verdienst zu mehren, um im künftigen Leben den Sprung in das von sozialen Bindungen freie mönchische Leben vollziehen zu können. Manche strebten überhaupt nur nach einer besseren materiellen Welt, obwohl die Lehre ja gerade den Verzicht auf eine solche nahe legte. Freilich gilt dies für alle Religionen: Nur selten werden alle Anforderungen einer Religion tatsächlich von ihren Anhängern erfüllt.

Nach dem Tode Buddhas wurde seine Lehre fortentwickelt, insbesondere hinsichtlich der insubstantiellen Daseinsfaktoren (dharmas), aus welchen sich die Welt zusammensetzt. Weil die elitäre Lehre nur Wenigen die Reise über den Strom des Leidens ans andere Ufer ermöglichte, wurde sie von Opponenten geringschätzig als "Kleines Fahrzeug" bezeichnet (Hinayana, heute daher besser: Theravada).


II. Von der Elitelehre zur Massenreligion

1. Erneuter Paradigmenwechsel

Die Lehre des Buddha war nicht nur schwer verständlich. Ihre Kultlosigkeit entsprach auch nicht den religiösen Bedürfnissen vieler Anhänger. In einer Umwelt, in der die buntesten Kulte und Rituale angeboten wurden, in der Wunderglauben und Reliquienverehrung herrschten, fiel es schwer, die Laien bei der Stange zu halten. Viele nutzten zusätzlich die Zauberwelt der Hindu-Umgebung und ihrer Götter.

Auch wurde die Frage gestellt, warum das baldige Heil nur Mönchen und nicht allen Menschen offen stehen solle. Die schon im Urbuddhismus latent vorhandene Grundspannung zwischen mönchischer und laikaler Existenz kam damit zur Auswirkung. Die Heilslehre für wenige "Erlösungsegoisten", die meist aus privilegierten Bürgerschichten stammten, ließ sich nicht aufrechterhalten. Wie Max Weber ausführt, konnten Bauern und Kleinbürger mit der Erlösungslehre der Bildungsschicht nichts anfangen: "Die Art der Erlösung, die dem Bettelmönch versprochen wurde, war nicht nach dem Geschmack sozial gedrückter Schichten, die ein Entgelt im Jenseits verlangt hätten".

Wie der Indologe E. Conze schreibt, war das Mahayana schon "vorbereitet durch das Erschöpftsein der alten Impulse, die immer weniger Heilige (arhats) hervorbrachten, durch die Spannungen innerhalb der Lehren, die sich nach Buddhas Tod entwickelt hatten, und durch die Forderung der Laienschaft nach mehr Gleichberechtigung mit den Mönchen". Die Zeit war also reif für die Ergänzung des "Kleinen Fahrzeugs" (Hinayana) durch ein "Großes Fahrzeug" (Mahayana), für einen Paradigmenwechsel, für eine neue Drehung des Rades der Lehre.


2. Das Mahayana

a) Hundert Jahre nach Buddhas Tod hatte es auf dem 2. Buddhistischen Konzil (383 v. Chr.) Meinungsverschiedenheiten gegeben, die zu verschiedenen Lehrrichtungen führten. Die trotzdem freundschaftlichen Beziehungen der Anhänger verschiedener Richtungen verschlechterten sich aber, als im 1. Jhd.v.Chr. neue Schriften entstanden, die als Worte Buddhas ausgegeben wurden. In der Überzeugung, daß Buddhas Lehre immer wieder neuer Formulierungen bedarf, um den Bedürfnissen neuer Zeitalter, neuer Generationen und neuer sozialer Gegebenheiten gerecht zu werden, wurde von den Autoren eine breite Literatur geschaffenen. Hierzu gehörte vor allem - begünstigt durch einen Aufschwung der Schreibkunst - die Prajna-Paramita-Literatur.

Proteste der Anhänger der alten Lehre gegen die neuen "Irrlehren" wurden heftig zurückgewiesen. Es hieß, der historische Buddha habe in Hinblick auf das beschränkte Erkenntnisvermögen der damaligen Mönche nur einen Teil der Wahrheit verkündet. Erst jetzt sei die Menschheit für die vertiefteWahrheit des Mahayana reif und aufnahmebereit. Freilich entspricht es buddhistischer Friedfertigkeit, daß der Streit der Mönche nicht zu sehr eskalierte: Zank mit einem Hinayanin, so wurden die Mahayanins ermahnt, behindere die Erlösung und solle deshalb vermieden werden. Die zweite Drehung des Rades der Lehre war erfolgt, das "große Fahrzeug" war ins Dasein getreten.

b) Was war aber der so aufregende Inhalt der neuen Lehren?

Der historische Buddha hatte sich in seinem Denken auf die diesseitigeWelt, den Immanenzbereich beschränkt und Spekulationen über das Transzendente vermieden. Das Mahayana durchbrach diese Beschränkung. Hatte der frühe Buddhismus angenommen, daß es im Laufe der Zeit mehrere Buddhas gegeben habe, aber niemals zwei zur gleichen Zeit, so nahm das Mahayana jetzt zahlreiche Buddhas an, verteilt über die Gegenden des Raumes. Ein Buddha allein könne mit seiner Lehre nicht alle Wesen erreichen, es müsse daher mehrere gleichzeitige, ja zahllose transzendente Buddhas geben.

Eine zweite Neuerung des Mahayana war ein neues Leitbild. Der frühe Buddhismus hatte als Ideal den Arhat, den Heiligen propagiert, dem durch die Erlösung von Gier, Haß und Verblendung keine Wiedergeburt mehr bevorsteht. Das Mahayana ersetzte den Arhat durch den Bodhisattva, der die Erlösung zwar erreicht hat, aus Mitleid mit den unerlösten Wesen aber freiwillig in der Welt verbleibt, um auch anderen Wesen zur Leidfreiheit zu verhelfen. Später wurden sogar transzendente Bodhisattvas anerkannt, die Wunder wirken und unheilsames Karma aus demWeg räumen können. Diese Idee ist mit der alten Lehre unvereinbar, wonach das Karma immer seinen Urheber trifft und Erlösungshilfe durch andere nicht möglich ist.

Der historische Buddha wird jetzt abqualifiziert und als Scheinleib eines transzendenten Buddhas angesehen, welcher der universale, übernatürliche Heilsbringer und Herr über Zeit und Raum ist. Transzendente Buddhas sind Hüter außerirdischer Paradiese und nur spirituell, nicht aber mit den Sinnen erfahrbar.

Das älteste der beiden großen Denksysteme des Mahayana ist die Leerheitsphilosophie: Wenn die empirische Person, die Dinge der Welt und sogar das Nirvana ohne Seele und Eigennatur, also "leer" sind, dann ist "Leerheit" die verbindende Klammer und das allem immanente Absolute. Da es die Unwissenheit ist, die den Menschen an der Erkenntnis seiner Leerheit und damit an der Erlösung hindert, muß er zu einer "Weisheit" (prajna) gelangen, die "hinübergegangen" (paramita) ist über die Alltagsvernunft. Den Weg weisen die "Prajnaparamita-Sutras".

Das andere, spätere Denksystem ist die Bewußtseinslehre (Yogacara): Waren die Anhänger der Weisheitslehre mehr intellektuell auf eine Analyse der Objekte aus, um deren Leerheit nachzuweisen, wenden sich die Yogacarins meditativ nach innen. Nicht die Leerheit, sondern das Denken wird als das Absolute angesehen. In tiefster innerer Ruhe stellen sie fest, daß es gar keine äußeren Objekte gibt, vielmehr sind alle Dinge und Gedanken ausschließlich Geist. Die Vielfalt äußerer Dinge ist bloße Vorstellung, nichts als Idee. Die höchste Einsicht ist erreicht, wenn alles als reine Halluzination gesehen wird: Die Welt (und somit auch das Leiden) ist nichts als ein Traum und auch der Träumer ist nur geträumt.


3. Das Tantrayana

Das Tantrayana will die Leidensbefreiung durch die Macht des Wortes und die Vorstellungskraft des Geistes verwirklichen. Die Anfänge des Tantra ("Gewebe") gehen in die frühe Zeit der Menschheitsgeschichte zurück, als Ackerbau treibende Gemeinschaften an Magie und Zauberei glaubten, Menschenopfer darbrachten, eine Muttergottheit anbeteten und Fruchtbarkeitsriten ausübten. Der Aufnahme hieraus hervorgegangener Gedanken in den Buddhismus im 6. Jh.n.Chr. liegt wieder ein Paradigmenwechsel zugrunde: Der Buddhismus befindet sich in einer Defensive gegenüber dem wieder vordringenden Hinduismus. Von den Randgebieten seiner Verbreitung (Bengalen) dringen esoterisch-okkulte Praktiken vor, welche auf die breite Masse stärkere Anziehung ausüben als akademisch-intellektuelle Finessen. Das Tantrayana ist die letzte schöpferische Leistung des indischbuddhistischen Denkens und bewirkte die dritte Drehung des Rades der Lehre.

Man unterscheidet zwischen rechtshändiger, ganz auf Meditation gerichteter, und linkshändiger Form des Tantra, welche als Shaktismus bezeichnet wird. "Shakti" ist die schöpferische Energie einer Gottheit, welche als weiblicher Partner der Gottheit personifiziert wird. Die Urheber des shaktischen Tantra sind oft durch das Land ziehende Einzelgänger, die mit zauberkräftigen Formeln und magischen Kräften gleichermaßen Anstoß und Bewunderung erregen. Sie stammen vielfach aus den sozial benachteiligten Volksschichten und verletzen bewußt die Konventionen der etablierten Gesellschaft.

Später nahmen sich dann die Gelehrten der formlos weitergegebenen Lehren an. Das Vajrayana ("Diamantfahrzeug") beinhaltet eine um 750 n.Chr. erfolgte Systematisierung früherer Lehren. Sein erotischer Mystizismus und die Betonung des weiblichen Prinzips deuten auf die dravidische Schicht der indischen Kultur hin, in der der Kult der Dorfgöttin die matriarchalische Tradition der Muttergöttin besser erhalten hatte als in der vedischen Religion.

Anders als der bisherige, für jeden Interessenten offene Buddhismus unterscheidet das Tantra streng zwischen Eingeweihten und Nichteingeweihten. Entsprechend wird zwischen esoterischer und exoterischer Lehre getrennt. Nicht aus Büchern, sondern nur von einem persönlichen Guru kann man die Rituale und Formen der Anbetung lernen. Das sind hauptsächlich Rezitation von Zaubersprüchen und Mantras, rituelle Tänze und Handbewegungen sowie die Selbstidentifizierung mit Gottheiten durch ein System von Meditationen. Denn jede Magie geht davon aus, daß man mit Hilfe von Identifikation an der magischen Kraft einer Gottheit teilnehmen kann. Zie1 all dieser sakralen Übungen ist es, sich den kosmischen Kräften anzugleichen und sie für das buddhistische Endziel der Aufhebung der Wiedergeburt nutzbar zu machen.

Shaktistische Sexualpraktiken, Reduzierung des Ordens auf kleine Geheimgruppen, das Ausleben von Leidenschaften statt deren Unterdrückung sowie Magie und Zauberei scheinen, insbesondere aus theravadischer Sicht, die Lehre Buddhas auf den Kopf zu stellen. Das wird allerdings nicht von allen so gesehen. Denn der historische Buddha hat selber nie an Zauberkraft und Wundern gezweifelt, wenn er sie auch für unnütz hielt. Und schließlich haben Meditation und Geschlechtsverkehr ein gemeinsames Ziel, nämlich verzückte Ruhe und Entspannung hervorzurufen.


III. Weitere Entwicklungen außerhalb Indiens

1. Zen und Amitabhakult

Die durch die Andrehung des Rades der Lehre geschaffene erste Periode des Buddhismus konzentrierte sich auf die Erlösung vom Leiden durch Selbstdisziplin. Die zweite Drehung schuf den Mahayana-Buddhismus, der eine Vielzahl von über die Raumgegenden verteilten, gleichzeitig lebenden transzendenten Buddhas annimmt und als real eingreifende Heilshelfer Bodhisattvas anerkennt. Die dritte Drehung des Rades der Lehre führte die Selbstidentifikation mit dem Urbuddha und geheime Formeln als Erlösungsmethoden ein. Zeitlich parallel zum Tantrayana entwickelten sich a) der Meditationsbuddhismus und b) der Glaubensbuddhismus, ohne daß jeweils von einer weiteren Drehung des Rades der Lehre gesprochen wird.

a) Die chinesische Ch'an - Sekte (von Sanskrit dhyana = Meditation) baute auf der Metaphysik des Mahayana auf und paßte sie den chinesischen Bedingungen an. Die Lehre wurde um 1200 nach Japan gebracht und dort als "Zen" bezeichnet. Dem damaligen Zeitgeist entsprechend war der Ch'an-Buddhismus gegen den Wissensballast des traditionellen Buddhismus gerichtet. Er leugnet die Autorität aller Schriften, da die letzte Wahrheit sowieso nicht mitteilbar sei. Sie müsse "von Herz zu Herz", vom Meister zum Schüler direkt übertragen werden. Gegenüber dem durch Lesen oder durch wissenschaftliche Betätigung erworbenen Wissen hat das intuitive Wissen einen höheren Rang. Hierzu verhilft ausschließlich die Meditation.

b) Der seit dem 4. Jhd. in China heimische Kult des Amitabha - dieser ist von den vier den Himmelsrichtungen zugeordneten transzendenten Buddhas der des Westens - verspricht Erlösung durch vorherige Wiedergeburt in einem Zwischenparadies (sukhavati). Ist man erst einmal dort, kann man von Verlockungen ungestört und in Muße die zur Erlösung benötigten Qualitäten entwickeln. Der Glaube - dieses Wort ist aber im Sinn von "liebender Hingabe" zu verstehen - ist die Kerntugend, die zur Wiedergeburt im Buddhaparadies führt. Das gilt nach späterer Ansicht unterschiedslos für alle Menschen, gleich ob klug oder dumm, moralisch oder unmoralisch - dank Amitabhas Gnade. Erstmals herrscht also die Vorstellung, dass Moral gegenüber dem Glauben bedeutungslos sei. Jetzt ist auch für die große Masse des Volkes, die sich nicht wie die Elite religiöser Aristokraten aus der Welt zurückziehen kann, ein trotz Alltagsmühsal beschreitbarer Heilsweg zur Erlösung gegeben.


2. Bestand des Kerns der Lehre

Bei allen Veränderungen blieb der Buddhismus eine auf die Erlösung des Individuums zugeschnittene Lehre. Er zeigte sich im Verlauf seiner ganzen Geschichte als einheitlicher Organismus, in dem jede neue Entwicklung nur die vorherige fortgeführt hat. Wie Raupe und Schmetterling bei allem äußerlichen Unterschied nur Entwicklungsstadien desselben Tieres sind, gibt es auch im Buddhismus nach (dem Indologen) E. Conze keine echte Neuerung, sondern nur die Verwandlung von Anfang an vorhandener Ideen. Bei aller Vielfalt der Lehren bestünden jedoch drei gemeinsame Faktoren: Die Fortdauer einer monastischen Organisation, ein Komplex von Meditationen und die Erkenntnis, daß eine ewige Seele nicht existiert.

Die schon im Zusammenhang mit dem Tantra (s.o. II 3) aufgeworfene Frage, welche Weiterentwicklung häretisch ist, ist nicht neu und wurde schon zu Lebzeiten Buddhas gestellt. Dieser gab dem Mahapajapati Gotami folgenden Rat: "Von welcher Lehre auch immer du feststellst, daß sie zur Leidenschaft und nicht zur Leidenschaftslosigkeit, zur Fessel und nicht zur Loslösung, zur Habsucht und nicht zur Genügsamkeit, ... führt, von solch einer Lehre kannst du mit Sicherheit bestätigen: Das ist nicht der Dhamma, das ist nicht der Vinaya, das ist nicht die Lehre des Meisters."

Allerdings ist, wie der Indologe K. Mylius ausführt, der Niedergang des Buddhismus in seinem Stammland Indien auch ein lehrreiches Beispiel, wohin ideologischer Opportunismus führt: Im Bestreben, den Volksmassen entgegenzukommen, habe sich der Buddhismus Schritt für Schritt den hinduistischen Gedanken und Gepflogenheiten angepaßt und dadurch Eigenständigkeit und Widerstandskraft verloren. Besteht Anlaß zur Sorge, ob sich der Buddhismus auf seinem Weg in den Westen in einer fremden Welt bewahren kann? Auf die Frage, wie ein Wassertropfen vor dem Verdunsten geschützt werden könne, soll der Buddha geantwortet haben: "Indem man ihn ins Wasser wirft".


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Quelle:
Der Mittlere Weg - majjhima-patipada
42. Jahrgang, Januar - April 2010/2553, Nr. 1, Seite 6-11
Herausgeber: Buddhistischer Bund Hannover e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Februar 2010