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PRESSE/848: Transzendenz (Buddhistische Monatsblätter)


Buddhistische Monatsblätter Nr. 2/2010, Mai - August
Vierteljahreszeitschrift der Buddhistischen Gesellschaft Hamburg e.V.

Transzendenz

Von Dr. Hellmuth Hecker


Die einen sagen "Es gibt eine Transzendenz"; die anderen sagen "Es gibt keine Transzendenz". Was ist richtig?

Um die Frage zu beantworten, muss zunächst einmal der stillschweigend vorausgesetzte Gegensatz von Immanenz und Transzendenz geklärt werden. Immanenz kommt von im-manere und bedeutet soviel wie "Darinbleiben"; Transzendenz kommt von trans-cendere und bedeutet soviel wie "Darüberhinausreichen". Erst wo derart ein Innerhalb und ein Außerhalb abgesteckt sind, kann näher gefragt werden, ob das Außerhalb vorher oder nachher, unterhalb oder oberhalb, davor oder dahinter sein soll.

Es gilt also, die verschiedenen Formen, bei denen ein Innerhalb und Außerhalb angenommen wird, näher zu untersuchen:

1. Der engste Begriff eines "Innerhalb" ist der jeweilige Bewusstseinsmoment, den wir Gegenwart nennen. Ihm gegenüber sind Vergangenheit und Zukunft "außerhalb", d. h. insoweit transzendent. Wo Zeitlichkeit ist, da gibt es auch den Eindruck von Vergangenheit und Zukunft. Und da jeder jeweilige Daseinsmoment, jedes Weilen in der Kette der Bedingungen, gar nicht anders als zeitlich strukturiert sein kann, so gibt es stets ein "Darüberhinausreichen" über das "Jetzt", d. h. Transzendenz. Wo Dasein ist, da ist Transzendenz - in diesem Sinne.

2. Nennen wir den jeweiligen Bewusstseinsmoment mit seinen Inhalten immanent, so wäre das nicht Bewusste transzendent. In diesem Sinne pflegt man von der Transzendenz des Unterbewussten zu sprechen, vom Unbewussten, vom Seelengrund, von Archetypen und psychischen Komplexen, die aus dem Oberbewusstsein verdrängt seien, aber immer wieder nach Manifestation drängten. Daran ist zweifellos richtig, dass jeder Mensch in sich Kraftströme, Energien, Neigungen, Triebe, Absichten, Bezüge spürt und dass sein Tun in weitestgehendem Maße von ihnen bestimmt wird. Jeder Mensch weiß, dass wenn eine Neigung im Moment nicht spürbar ist, sie doch nicht zu nichts geworden ist, sondern in bestimmtem Rhythmus wieder auftaucht. Dieser Drang war, wie man sagen kann, "latent", d. h. er war nicht gegenwärtig in der Immanenz anwesend, aber er war doch potentiell vorhanden. Da die mannigfachen Erscheinungsformen des Dranges überall vorhanden sind, immer wieder diese oder jene aktuell werden, so gibt es stets ein Darüberhinausdrängen über das "Jetzt", d. h. Transzendenz. Wo Dasein ist, da ist Transzendenz - in diesem Sinne.

3. Am häufigsten wird der Begriff Immanenz für die Gesamtheit des menschlichen Lebens zwischen Geburt und Tod verwendet. Das "Innerhalb" ist die Zeit der Existenz des Körpers, d. h. die Zeit der fünffach sinnenhaften Wahrnehmung von "Welt". Die Materialisten sagen nun: Mit dem Tode des Körpers ist das Dasein vernichtet; es gibt kein Jenseits, es gibt keine Transzendenz; Dasein beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tode des Körpers, ein anderes Dasein gibt es nicht. - Demgegenüber wäre zu erwidern: Dies wäre nur richtig, wenn Dasein und jeweilige Körperexistenz identisch wären und wenn der Körper die einzige Bedingung für Dasein (Leben, Wahrnehmen, Sein) wäre. Aber: Diese Ansicht hat die psychischen Kräfte, das Neigen und Drängen des Wollens und Wünschens, nicht auf der Rechnung - und nur deshalb geht die Rechnung Körper minus Körper gleich Null mit dem Ende des Daseins auf. Diese Kräfte nun sind ein wesentlicher Bestandteil des Daseins und sie unterliegen ihrem eigenen Gesetz. Sie sind als etwas A-materielles durch materielle Veränderungen nicht beeinflussbar. Sie sind als "geistig" bestehende energetische Bezüge nur durch geistige Akte, durch Denken veränderbar. Wird ihnen nachgegeben, so werden sie bejaht und bestätigt, d. h. für die Zukunft ins Dasein gehoben. Oder abstrakter ausgedrückt: Dort, wo die Bezüge des Wollens und Wünschens weiter geknüpft werden, wird für die Zukunft ein weiteres Bezugsfeld geknüpft, d. h. es wird durch Hängen an diesem Dasein ein weiteres angehängt. Überwiegend beziehen sich alle Bezüge auf ein körperlich sinnenhaftes Dasein. Wo diese Bezüge sind, da erscheint als ihr Werkzeug das, was wir Körper nennen; und wo ein Körper ist, da existieren jene Bezüge. Eines bedingt das andere. Solange diese Bezüge sind, ist ein entsprechendes Dasein. Und da diese Bezüge durch den Tod nicht verändert werden, so gibt es, solange sie bestehen, immer ein Darüberhinausreichen über das "Jetzt und Hier", d. h. Transzendenz. Wo Dasein ist, da ist (solange Bezüge bestehen) Transzendenz - in diesem Sinne.

4. Blickt man statt horizontal einmal vertikal auf das menschliche Dasein, dann fragt man sich, ob es die einzige Immanenz sei oder ob es nicht auch andere, außermenschliche, Daseinsbereiche (wie Höllen und Himmel, Gespenster und Götter) gäbe, die dann gegenüber dem Menschentum transzendent wären. Aber was heißt "es gibt"? Es gibt immer nur das, was gegeben wird. Das einzige Element des Daseins, das es geben kann, sind jene Neigungen, Bezüge und Wollensrichtungen. Die Art und Qualität dieser Kräfte - beim Menschen ein Gemisch von irdischen und geistigen - gibt die Art des Daseins an und konstituiert die jeweilige Daseinsqualität. So lässt sich daraus folgendes schließen: Wo nur noch feine und reine Eigenschaften sind, dort ist das menschliche Dasein zu niedrig und wo nur noch gemeine und brutale Eigenschaften sind, dort ist das menschliche Dasein zu hoch. Das bedeutet: Entsprechend der Qualität der Kräfte wird ein künftiges Dasein heller oder dunkler unter- oder übermenschlich sein. Die Kräfte realisieren sich als Hingabe, sie geben sich für die Zukunft einen solchen Bereich, wie es ihnen entspricht. Abstrakter ausgedrückt: Die Art der Bezüge bestimmt das Bezugsfeld der Erscheinungen, auf die der Bezug es absieht. Und da menschliche Bezüge immer auch niedere oder höhere mit sich führen, so gibt es stets ein Darüberhinausreichen über das "Jetzt und Hier", d. h. Transzendenz. Wo Dasein ist, da ist (solange unterschiedliche Bezüge bestehen) Transzendenz - in diesem Sinne.

5. Verquickt man die Begriffe Immanenz und Transzendenz mit den Merkmalen Vergänglichkeit und Ewigkeit, dann können Ansichten entstehen, wonach es eine solche Art von außermenschlichem (transzendentem) Dasein gäbe, die essentiell von allem anderen Dasein dadurch unterschieden wäre, dass sie unvergänglich, ewig, sei. Nur diese Transzendenz meint man sehr oft, wenn man sagt "Es gibt eine Transzendenz". Aber gerade eine solche Transzendenz kann es n i c h t geben. Ein solches Dasein müsste nach dem Ablauf des jetzigen Körperdaseins beginnen, hätte also einen Anfang. "Was einen Anfang hat, ist zeitlich. Wo aber Zeitlichkeit ist, dort ist Veränderlichkeit, d. h. kein Gleichbleiben, d. h. Endlichkeit, d. h. ein Ende dieser Form. Jenes "ewig" genannte Dasein mag, relativ zum menschlichen, sehr lange dauern - Äonen -, aber einmal muss es wieder enden, da durch das Wirken im gegenwärtigen Dasein das künftige Dasein auch in seiner Dauer bestimmt wird. Aus zeitlichem Wirken kann keine ewige Wirkung hervorgehen. Ebenso wie es im Wesen des Sandes liegt, dass ein Haus aus Sand bald wieder zerfallen muss, so liegt es im Wesen der Bezüge, dass ein Bezugsfeld einmal wieder zerfallen muss. Und da Dasein immer nur aus Bezügen gebaut wird, so muss jedes Dasein wieder zerfallen, d. h. es gibt kein Dasein außerhalb der Zeitlichkeit und Vergänglichkeit, d. h. keine Transzendenz. Wo Dasein ist, da ist Transzendenz unmöglich - in diesem Sinne.

6. Will man dagegen unter Transzendenz verstehen, dass es eine Aufhebung aller Bezüge und damit allen Daseins und aller Zeit und aller Vergänglichkeit gibt, dann mag man dies "Jenseits aller Bezüge" transzendent nennen - man muss sich nur darüber im Klaren sein, dass jede positiv bezeichnende Bezeichnung mit "es gibt" und "es besteht" irreführend ist, denn: Wo kein Bezug, da keine Zeit und kein Sein - und wo kein Sein und keine Zeit, da ist jedes Wort für dieses "Nicht mehr" falsch:

Wo alle Dinge allgemach entschwunden,
ist allgemach entwurzelt auch die Macht der Worte.

Diese "Transzendenz", die eigentlich keine ist, weil sie sowohl ihr Gegenteil wie überhaupt alle Begriffe aufhebt, ist nur durch Aufhebung aller Bezüge zu erreichen. Alle Bezüge werden nur aufgehoben, wenn sie sämtlich als negativ erkannt werden. Dazu ist eine Analyse des gesamten Daseins notwendig. Außerdem wäre der Weg anzugeben, wie denn jenes Negativum zu überwinden sei. Wo Bezüge sind, ist, wenigstens theoretisch, auch eine Abstraktion von allen Bezügen als Denkoperation möglich, d.h. wo Dasein ist, ist Transzendenz möglich - in diesem Sinne.

7. Es bleibt ein Rest, zu tragen peinlich. Eine letzte Art von Transzendenz wird gewöhnlich dergestalt angenommen, dass es "hinter" Wahrnehmung, Vorstellung, Bewusstsein, Unterscheidung und Erleben - oder wie man sonst den Vorgang des Seins in seiner Jeweiligkeit nennen mag - eine Welt von real, objektiv, materiell, an sich bestehenden Formen und Dingen gäbe. Dieser transzendente Hintergedanke nimmt ein Etwas an, das unabhängig - an sich und für sich - besteht. Auf diesem Gedanken baut die marxistische Philosophie ebenso auf wie das praktische Verhalten derer, die jene Philosophie bekämpfen wollen. Die Annahme einer solchen Transzendenz ist der Haupt- und Grundfehler des abendländischen Denkens. Man vergisst dabei eben folgendes: Menschlich gesehen bedeutet Sein immer eine Dreifaltigkeit von dem, was wir Körper, Welt, Bewusstsein nennen können. Körper: Das ist der Sammelname für den Bezugspunkt der 5 Sinne, die auf Festem, Flüssigem, Feurigem, Luftigem basieren. Welt: Das ist das eingepasste Gegenüber dazu, die Entsprechung, die Räumlichkeit von anderem Festem, Flüssigem, Feurigem, Luftigem. Bewusstsein: Das ist das Wahrnehmen jener vier äußeren und inneren Gebilde durch die Sinne. Keines dieser drei Dinge ist ohne das andere, keines besteht "an sich". Jedes steht und fällt miteinander. Wo "Körper", da "Welt" und "Bewusstsein". Wo "Welt", da "Körper" und "Bewusstsein". Wo "Bewusstsein", da "Körper" und "Welt". Eine "Welt an sich" ist ein Unding. Nur das Denken, das man als 6. Sinn definieren mag, kann sich ein Denkding erdenken, von dem man dann - nachdem man es zuerst gedacht hat - sagt, es bestünde auch ohne Denken, es bestehe als "Idee" an sich. Wo Dasein ist, da ist Transzendenz unmöglich - in diesem Sinne.

Kurz: Es gibt Transzendenz, wenn man an Zeitlichkeit, Unterbewusstes, Jenseits nach dem Tode, Jenseits außerhalb des Menschentums, Jenseits aller Bezüge denkt. Und es gibt keine Transzendenz, wenn man an etwas Ewiges oder An-sich-Bestehendes denkt. Gerade das, was man gewöhnlich unter Transzendenz versteht, gibt es nicht. Und gerade das, was man gewöhnlich als Nichtbestehend ansieht, besteht transzendent.

So zeigt sich am Begriff der Transzendenz deutlich, wie notwendig es ist, einen Begriff erst gründlich zu klären, ehe man darüber diskutiert, ob es "Transzendenz gibt". Schon Konfuzius sagte: "Alles Unheil in der Welt kommt daher, weil die Begriffe unklar sind".

H. Hecker


Der vorstehende Artikel unseres sehr geschätzten Mitarbeiters stellt einen wichtigen Beitrag zur Abklärung des Begriffes "Transzendenz" dar und sei deshalb unseren Lesern hier noch speziell zu eingehendem Studium empfohlen.

Lediglich zu Absatz 7 dürften einige Bemerkungen am Platze sein, weil darin zum Ausdruck gebracht wird, dass es ein "Haupt- und Grundfehler des abendländischen Denkens" ist, anzunehmen, dass Sein auch außerhalb des Bewusstseins, sozusagen "hinter" ihm existiert.

Dass dies ein Grundfehler ist, kann heute füglich bezweifelt werden und es ist besonders die kritische Ontologie, die diesen Zweifel auf Grund neuer Erkenntnisse vollauf rechtfertigt. Sie ist es, die zum Seins-Problem im Sinne des "Sein ist unabhängig vom Bewusstsein" Entscheidendes vorbringt, wobei eine überraschende Übereinstimmung mit der buddhistischen Lösung dieses Problems konstatiert werden kann.

Steht man vor der Überlegung, ob Sein überhaupt nichts anderes als Bewusstsein ist, so darf wohl nicht übersehen werden, dass das Bewusstsein selber ein Sein ist und als solches in Relation steht zum Sein dessen, was ihm bewusst ist.

Das Sein des Bewusstseins ist unmittelbare Tatsache und kann nicht geleugnet werden, aber es kann darüber diskutiert werden, ob das Sein im Bewusstsein liegt, d. h. ob das Sein Bewusstseins-immanent ist, oder ob das Bewusstsein im Sein liegt, d. h. ob das Bewusstsein Seins-immanent ist.

Mit dem Sein des Bewusstseins steht fest, dass es ein Sein gibt. Gibt es aber Sein, so ist damit nicht gesagt, dass es nur ein Seiendes gibt (Bewusstsein), es kann ja auch noch anderes Seiendes geben, Unbewusstes und Bewusstes, Unerkanntes und Erkanntes, Unerfassbares und Erfassbares, Irrationales und Rationales.

Bewusstsein ist eine bestimmte Art des Seins, ein geistiges Sein, das sich auf Voraussetzungen stützt, wie z. B. auf den körperlichen Organismus, ohne den es kein Bewusstsein gäbe und der als solcher in seinem Sein und Dasein auch nicht wegzuleugnen ist. Der Organismus wiederum resultiert aus dem Zusammenwirken von verschiedenerlei Faktoren, die bestimmt nicht vom Bewusstsein geschaffen sind, wohl aber von ihm erfasst werden können. Diese Faktoren haben auch wieder ihre Ursachen usw. ad infinitum. In diesem kausalen Prozess ist das Bewusstsein ein Glied, ein Ergebnis, das im Organischen (einem Seienden) wurzelt, wie dieses im Anorganischen (wiederum ein Seiendes) und deshalb kann nicht gesagt werden, dass Sein (nichts anderes als) Bewusstsein ist. Das meint auch der Buddha nicht, denn er sagt klar und deutlich im Anguttara-nikaya. IV, 174:

"Wie weit, o Bruder, die sechs Bewusstseinsgebiete reichen, so weit eben reicht die subjektive Welt; und wie weit die subjektive Welt reicht, so weit eben reichen die sechs Bewusstseinsgebiete. Mit der restlosen Abwendung und Erlöschung der sechs Bewusstseinsgebiete, o Bruder, erlischt die subjektive Welt, gelangt die subjektive Welt zur Ruhe."

Die "subjektive Welt" ist die vom Bewusstsein (Subjekt) erfasste, nicht aber die von ihm erschaffene Welt; es ist die der sechs Bewusstseinsgebiete. So weit das Auge reicht, so weit gibt es Bewusstsein des Gesehenen (Sehbewusstsein), so weit das Ohr, die Nase, die Schmeck-, Tastund Denkorgane reichen, so weit gibt es das jeweilig entsprechende Bewusstsein. Die Objektion des Seienden kann nur so weit reichen, als die Sinne reichen, als das Bewusstsein zu fassen vermag. Erlischt das Bewusstsein und mit ihm die Sinnestätigkeit und -fähigkeiten, so erlischt auch jede Objektion und damit die subjektive Welt. Sie kommt zur Ruhe, weil keine Objektion mehr da ist.

Schon der Begriff "Objektion" weist hin auf ein dem Bewusstsein Gegenüberstehendes, auf ein Seiendes, das als solches nicht auf Objektion angewiesen ist, um zu sein, das aber im Momente des Erfassens zum Gegenstand, zum Objekt wird. Wie das vor sich geht, ist ein Problem der Erkenntnistheorie, aber dass es vor sich geht, darüber gibt es keinerlei Zweifel.

Wäre Sein nur Bewusstsein, so wäre die Objektion des Seienden bloße Objektion eines Scheines. Man versuche doch einmal den Nebenmenschen als ein bloß Scheinbares und den Tod eines geliebten Wesens mit dem daraus entstehenden Schmerz bloß als einen Schein zu empfinden!

Gewiss hängt die Welt am Faden des Bewusstseins, wie die Art und Weise der Dinge am Faden der Empfindungsfähigkeit und mit dem Verschwinden des Bewusstseins verschwindet die Welt, wie mit dem Blindwerden das Sehbare. Aber bewusst-sein heißt berühren und erfassen, nicht aber erschaffen und so ist auch das Sehen nicht Erschaffen, sondern Berühren und Erfassen (mittels des Sehorgans) eines Seienden.

Wäre Sein nur Bewusstsein, so gäbe es kein Irrationales und prinzipiell kein Unerkennbares, es gäbe keinen Erkenntnisprogress, keine Probleme und keine wissenschaftliche Forschung, denn es wäre alles schon bewusst. Es gäbe auch kein Transzendieren des Bewusstseins, d. h. kein Hinübergreifen auf das zu Erfassende, d. h. es gäbe keine Berührung. Gerade diese aber ist es, die der Buddha als Voraussetzung des Leidens erkannt hat:

"Ursächlich entstanden ist das Leiden. Aus welcher Ursache? Aus Ursache der Berührung."
S. XII, 24.

Wäre Sein nur Bewusstsein, dann müsste es auch um die Entstehung des Objektes im Bewusstsein wissen, das aber weiß es nicht; darum können Prozesse und Funktionen, die das Objekt hervorbringen, nicht mit dem Bewusstsein identisch sein. Die Prozesse gehen im Unbewussten, also unter der Bewusstseins-Schwelle vor sich. Die Außenwelt, das Bewusstseins-Transzendente ist also in diesem Falle unbewusste Subjekttätigkeit und nicht das Bewusstsein selber.

Hinter dem Bewusstseins-Objekt steht also nicht das Bewusstsein selbst, sondern das nichterkennende Subjekt, womit die scheinbare Realität des Objektes an die unabweisbar wirkliche Realität einer unbewussten Funktion gebunden ist. Dieses Reale ist ein anderes als das Bewusstsein, womit die Allgemeingültigkeit der These "Sein ist Bewusstsein" bereits durchbrochen ist. Neben dem erkennenden Bewusstsein steht noch ein anderes Reales, ein Gebendes hinter der Gegebenheit, ein unerkannt Seiendes hinter dem erkannt Seienden.

Man muss sich aber vor einer spekulativen Ausdeutung dieser Tatsache hüten, denn unter dem "unerkannt Seienden" soll etwa ja nicht ein sogenanntes Absolutes "Selbst" oder "Ich" verstanden werden, sondern ganz einfach und schlicht nichts anderes als das Nichtobjektivierte, das als solches immer wiederum neu Gegenstand des Erkenntnisprogresses, resp. der Forschung ist und bleibt.

M. L..


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Quelle:
Buddhistische Monatsblätter Nr. 2/2010, Mai - August
Seite 5-11
Vierteljahreszeitschrift der Buddhistischen Gesellschaft Hamburg e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juni 2010