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PRESSE/905: Mit dem Gyalwa Karamapa Trinle Thaye Dorje in Russland (Buddhismus heute)


Buddhismus heute 48 - Frühjahr/Sommer 2010
Diamantweg-Buddhismus Karma-Kagyü-Linie

Mit dem Gyalwa Karamapa Trinle Thaye Dorje in Russland
Die erste Russlandreise des 17. Gyalwa Karmapa Trinley Thaye Dorje im Sommer 2009

Von Caty Hartung


Im März 2009 bestätigte der 17. Karmapa Trinle Thaye Dorje, dass er zum ersten Mal in seinem Leben seine buddhistischen Zentren in Russland besuchen würde. Wir wählten sechs bedeutende Karma-Kagyü-Stellen aus den 50 Diamantweg-Zentren aus, die Lama Ole Nydahl in den letzten 20 Jahren dort aufgebaut hatte. Viele von Gyalwa Karmapas Schülern wollten ihn gerne bei dieser historischen Reise begleiten und so nahmen wir 90 Menschen aus verschiedenen Ländern mit.

Die Tour begann im Sommer 2009 in St. Petersburg, dem ersten in Russland gegründeten Diamantweg-Zentrum. Von dort ging es nach Elista, von wo wir die offizielle Einladung nach Russland bekommen hatten, anschliessend in die Hauptstadt Moskau, von dort nach Irkutsk, dem Tor Sibiriens und Ulan Ude, einer historisch buddhistischen Stadt bis die Reise schliesslich in Wladiwostok, wo wir ein schönes Zentrum mit freiem Blick über den Hafen gebaut hatten, endete ...
Als ich Sascha, den Präsidenten der buddhistischen Organisation Russlands, am Flughafen mit einem langen weißen Katak erblickte, stiegen mir Tränen in die Augen und auch seine waren feucht. Wir hatten es tatsächlich geschafft: Gyalwa Karmapa war in Russland gelandet. Über neun Jahre hatten tausende seiner Schüler auf diesen Moment gewartet.

Die ersten beiden Tage verliefen wie in allen Ländern der Welt, wenn Karmapa unsere Zentren besucht: Vorstellung des Landes, Geschichte der Sangha, Einweihungen, Segen, Pressekonferenzen... alles verlief nach Plan. Der letzte Programmpunkt jedoch war ungewöhnlich und würde unsere gesamte Reise verändern. Gyalwa Karmapa erhielt eine Einladung zu den geheimen Schätzen in der Eremitage. Die Eremitage zählt zu den bedeutendsten Kunstmuseen der Welt und die verborgenen Kammern mit unzähligen Kunstwerken sind für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Viele Jahre hatten wir versucht sie zu sehen. Gyalwa Karmapa empfing dieses Geschenk völlig selbstverständlich und so gingen wir mit einer kleinen Gruppe von fünf Menschen die buddhistischen Schätze zu sehen.

Als sich der Schlüssel im Schloss drehte, schienen sich auch unsere Herzen zu öffnen und unser Erleben war plötzlich ohne Erwartung. Alle Buddhas Russlands begrüßten Gyalwa Karmapa.

Der Reichtum an buddhistischer Kunst ist unvorstellbar: Es gibt dort ein Thangka, das vom 10. Karmapa selbst gemalt wurde und hunderte von Statuen der verschiedensten Buddha-Aspekte. Gyalwa Karmapa wurde sogar erlaubt sie anzufassen und uns mit ihnen zu segnen. Eine Milarepa-Statue hatte es Gyalwa Karmapa besonders angetan und er erwähnte sie später als einen der für ihn besonderen Momente in Russland. Für mich war dies der eigentliche Beginn unserer Tour, und wir waren uns in dem Moment sicher, dass der Segen der Buddhas mit uns sein würde. Nach dem Besuch in der Eremitage fuhren wir direkt zum Flughafen - die Reise ging los, Russland erwartete uns.

Unser nächstes Ziel war Elista in Kalmückien. Das Flugzeug war extra für uns gechartert worden und Gyalwa Karmapa und Lama Ole liefen durch die Reihen der Freunde und begrüßten alle. Gyalwa Karmapa wurde sogar zum Start ins Cockpit eingeladen. Wir alle genossen die Stimmung, mit unseren Lehrern auf so ungewöhnlich nahen Raum zusammen zu sein.

Kalmückien ist ein buddhistisches Land, in dem wir als Religion voll anerkannt sind, weil nachgewiesen ist, dass Kagyü-Buddhismus dort schon seit 1560 praktiziert wird. Durch diese Verbindung hatte Gyalwa Karmapa eine offizielle Einladung des Präsidenten der Republik Kalmückien erhalten, woraufhin dieser Teil der Russlandreise als ein Staatsbesuch organisiert wurde.

Der Vize-Präsident und zwei in Trachten gekleidete Frauen empfingen Gyalwa Karmapa mit Kataks und Buttertee, als er das Flugzeug verließ, ein Empfang, mit dem er nicht gerechnet hatte. Alles erinnerte ihn an seine Heimat Kham in Ost-Tibet - die Gesichter, die Landschaft, der Tee...

Mit Polizeieskorte (an jeder Kreuzung salutierten die Polizisten, die die Straßen für den Ehrengast freihielten und für grüne Ampeln sorgten) wurde Gyalwa Karmapa in das Haus des Präsidenten gefahren, in dem auch schon Putin gewohnt hatte.

Kaum waren wir angekommen, wollte schon der Presseattaché des Präsidenten dringend die Organisatoren sprechen und wir gingen mit einem Minister das ganze Protokoll für den nächsten Tag durch. Jede Viertelstunde war durchgeplant: Begrüßung durch den Präsidenten in seinem Büro, Übergabe der Geschenke, eine Presseerklärung, Besuch des von Lopön Tsechu Rinpoche gebauten Stupa in Elista, Besuch des Staatsklosters, Essen, Pressekonferenz und mehr. Nach diesem langen Tag war uns allen klar, warum wir keine Politiker sein mögen und lieber unsere Zeit für die Bedürfnisse der Menschen verwenden und frei aus der Situation heraus handeln.

Gyalwa Karmapa bewegte sich bei all diesem Zauber, als wäre es das Natürlichste der Welt. Er fand immer die richtigen Worte und strahlte mit Mitgefühl und Bescheidenheit auf alle Menschen. Lama Ole war ständig an seiner Seite und übernahm wie üblich, wenn politische Fragen aufkamen. Die beiden zeigten sich als eingespieltes Team und wir alle genossen das. Als wir an dem Stupa in Elista ankamen, gab es fünf private Minuten, in denen Karmapa ohne Presse und Protokoll zu unserer Freude den Stupa segnen konnte. Das hatte keiner von uns erwartet und so genossen wir es umso mehr.

Am nächsten Tag sollte Gyalwa Karmapa in einem offenen Fußballstadion eine Ermächtigung geben, bei über 40 Grad Hitze ohne Schatten. Verschiedene Szenarien zum Umgang mit der Hitze waren besprochen worden - früher anfangen, später anfangen, einfach leiden... Karmapa hörte zu und sagte nicht viel. Als er jedoch die Gäste begrüßte, zog eine Wolkendecke auf, die erst nach der Einweihung wieder verschwand. Hier begann ein Muster, das sich durch die ganze Reise hindurch zog. Der Präsident hatte bei der Begrüßung um Regen gebeten. Nach unserem Abflug regnete es zwei Tage in diesem trockenen Gebiet. War diese Wetteränderung das Resultat unserer gemeinsamen Wünsche, wie Gyalwa Karmapa es ausdrückte?

Wir waren zu einem Mittagessen mit der Familie des Präsidenten eingeladen. Schon Putin und der Dalai Lama waren vor einigen Jahren bei ihnen zu Besuch gewesen. Die Mutter erzählte uns viel über das Leben ihres Sohnes und behandelte uns wie alte Familienmitglieder. Zum Abschluss gab sie ein Geschenk für Gyalwa Karmapas Mutter mit, ein besonderes Essen, das Gyalwa Karmapa sehr genossen und das ihn erneut an Tibet erinnert hatte. Nach einem Gruppenfoto reisten wir ab, mit noch einer Sache in unserem Gepäck, auf die wir aufpassen mussten.

Als wir von der Polizei direkt zu unserem Flugzeug gefahren wurden, ohne Security und Gepäckkontrolle, wussten alle, dass unser Besuch ein großer Erfolg gewesen war. Unser "Weltenherrscher" hatte all seine Künste gezeigt, hatte die Menschen beeindruckt und ihnen mühelos die Herzen für den Segen der Buddhas geöffnet.

Wir flogen weiter nach Moskau. In dieser riesigen Stadt besitzen wir tatsächlich nur ein sehr kleines Zentrum, so dass wir alle in einem Hotel wohnten. Abends stand eine Sitzung mit Fragen und Antworten auf dem Programm. Die Russen hatten die Fragen schon vorher vorbereitet, was zu hoher Qualität führte. So hatte Karmapa auch die Gelegenheit, exzellente Antworten zur Natur des Geistes zu geben. Wir alle waren beeindruckt davon, wie geschickt er sich mittlerweile in Englisch ausdrücken konnte und es war klar, dass seine philosophische Ausbildung Früchte trug und sich dem Abschluss näherte, Diese hervorragende und interessante Sitzung und eine Diamantgeist-Ermächtigung am nächsten Tag waren das einzige Programm in Moskau.

So hatten wir auch Zeit, den Kreml zu besichtigen, wo Gyalwa Karmapa die Juwelen der Zaren gezeigt wurden. Welch ein Reichtum! Es war wie eine große Mandala-Schenkung mit den größten Diamanten, Rubinen usw. der Welt. Bei all diesen kulturellen und Sightseeing-Programmen zeigte sich Gyalwa Karmapa völlig entspannt und offen und sagte bei allen Angeboten im Gegensatz zu den früheren Jahren in anderen Ländern: "Ja, ich nehme gerne teil!" Die Zeit, andere Kulturen zu entdecken, schien für ihn reif zu sein. Er war bereit und offen für diese neue Reise und ihre Erscheinungen, womit er unsere russischen Freunde tief berührte.

Unsere Reise führte nach einem Gala-Dinner und Kunst-Programm von Moskau aus weiter nach Irkutsk. Dort waren die Bedingungen etwas schwieriger. Das Wetter zeigte sich von seiner kalten und nassen Seite. Es begann sogar zu schneien und wir witzelten, dass Karmapa nun auch einen russischen Winter erleben würde. Das ursprünglich geplante Programm musste aus dem Garten des Zentrums in eine eilig organisierte Halle verlegt werden. Entsprechend war nichts richtig vorbereitet und es fehlten alle möglichen Dinge für die geplante Marpa-Einweihung. Wir wollten schon eine weniger aufwendige Einweihung vorschlagen, aber Gyalwa Karmapa bestand darauf. Bereits eine Stunde vor Veranstaltungsbeginn wollte er zu dem Saal fahren. Dort saß er dann zum ersten Mal in einer mehr oder weniger nackten Halle. Gyalwa Karmapa setzte sich bescheiden an die Seite und beobachtete, wie die Bühne und sein Thron aufgebaut wurden. Die nötigen Vorbereitungen für eine Veranstaltung von ihm hatte er noch nie gesehen. Er sah ja immer nur die wunderschönen geschmückten Räume mit farbenreicher Bühne, Altar, Bilder, Blumen usw... Er war sichtlich beeindruckt und erkannte schnell die Arbeit und die vielen Hände, die hinter allem steckten, Am Ende des Abends dankte er mit Wärme allen Freunden, die die vielen Veranstaltungen mit Ehrenamtlichkeit, Freundschaft und viel Freude ermöglichen, für ihren großzügigen Einsatz und ihren Überschuss.

Mit etwas mehr Lebenserfahrung hinter uns fuhren wir von Irkutsk weiter nach Ulan-Ude in Burjatien, ebenfalls ein Land mit buddhistischer Tradition, nahe der Mongolei. Ulan Ude war einer der Höhepunkte der Reise und diesmal stand der Besuch des spirituellen Oberhauptes der Buddhisten, dem Hambo Lama, auf dem Programm. Er gehört der Gelugpa-Schule an und sein Titel "Hambo" leitet sich vom tibetischen Gelehrtentitel "Khenpo" ab. Lama Ole traf ihn bereits zum dritten Mal, die beiden haben eine gute und interessante Verbindung miteinander. Man zeigte uns das Kloster. 1927 hatte hier der frühere Hambo Lama seinen Schülern gesagt, dass man 30 Jahre nach seinem Tod seinen Leichnam wieder ausgraben solle. Sie fanden ihn tatsächlich noch immer in Meditationsstellung und praktisch unversehrt. Da die politische Lage jedoch ein solches Ereignis sicher nicht zuließ, vergruben sie ihn einfach wieder. Vor einigen Jahren brachten sie ihn erneut zum Vorschein.(1)

Man erlaubte uns zu Ehren Gyalwa Karmapas, diesen als Reliquie verehrten Leichnam zu sehen. Normalerweise ist dies nur an vier Tagen im Jahr möglich, aber für Gyalwa Karmapa öffneten sich auch diese Türen mit Leichtigkeit. Gyalwa Karmapa, Lama Ole und die Mönche verbeugten sich sehr still und respektvoll vor dem Körper des Hambo Lama. Es war eine tiefe Begegnung, die in diesem Raum stattfand.

Der Körper sah tatsächlich erstaunlich frisch aus, man hatte nicht das Gefühl, vor einer Leiche zu stehen, sondern meinte, eine leichte Atmung zu bemerken. Die Mönche erzählten, dass seine Haare noch wuchsen. Die Belehrungen zu Tod und Wiedergeburt zeigten sich nie konkreter - ein großartiges Geschenk! Sowohl diese Begegnung als auch der Ausflug in die Eremitage waren für viele von uns die herausragenden Ereignisse in Russland. Auch Gyalwa Karmapa sagte, als er in Rödby gefragt wurde, was ihn am meisten beeindruckt hatte: "Der Hambo Lama". Aber er meinte den lebenden Hambo Lama, denn dieser war ein ziemliches Original.

Die Verbindung begann mit der Standard-Einladung: Normalerweise würde das Oberhaupt einer buddhistischen Schule den höchsten Lehrer einer anderen buddhistischen Schule in sein Kloster, in sein Haus, zu einem Event oder in ein Restaurant einladen. Aber der Hambo Lama lud Gyalwa Karmapa ein zu - einem Ringkampf auf offenem Feld ... ohne jegliche Vorwarnung!

Als wir auf dem Feld ankamen, saß der Hambo Lama in einem kleinen, offenen Zelt. Vor ihm reihten sich einige Ringkämpfer, kreisförmig um sie herum saßen die Bevölkerung und hinter ihm die Ehrengäste. Ein archaisches Bild, als wären wir ein paar hundert Jahre zurück versetzt, nur die Pferde fehlten. Er lud uns ein, mit ihm die Kämpfe anzuschauen. Sofort forderte er Gyalwa Karmapa auf, den Sieger vorauszusagen. Als Gyalwa Karmapa sich für den Kleineren entschied, der noch dazu bereits einmal gekämpft hatte, lachte er nur. Doch Gyalwa Karmapa sollte natürlich Recht behalten... und als ich nach einer halben Stunde auf unser volles Programm hinwies, ließ er die Kämpfe wie ein König einfach mittendrin stoppen. Über ein Mikrofon stellte er Gyalwa Karmapa den Menschen vor und gab ihm dann unvermittelt das Mikrofon, damit dieser spontan etwas sagen solle. Er beobachtete Gyalwa Karmapa genau, die ganze Zeit, prüfte ihn und machte sich aus allem einen Spaß. Er versteckte seine Gefühle nicht. Gyalwa Karmapas Worte waren unerwartet liebevoll, freudvoll und offen für die Situation. Er war in keiner Weise von diesem Ausdruck unkonventioneller Kraft und Freude eingeschüchtert.

Gyalwa Karmapa beeindruckte den Hambo Lama offensichtlich durch seine Ruhe und sein Mitgefühl, denn schließlich lud er uns dann doch in seine Jurte ein, wo schon alles sehr ehrenvoll für Gyalwa Karmapa hergerichtet war. Dort spielte sich dann eine unglaubliche Szene ab. Der Hambo Lama und Lama Ole zeigten ein Schauspiel der besonderen Art. Er stellte immer wieder provozierende Fragen und Lama Ole schoss seine Erwiderungen zurück, wobei er sich immer soweit zurückhielt, dass der Hambo Lama wieder nachlegen konnte. Es war wie ein Wettbewerb zwischen zwei großen entwickelten Geistern, die frei, spielerisch und sehr fröhlich Worte zu einem tanzenden Duell werden ließen. Karmapa verfolgte fasziniert das Schauspiel, ohne sich einzumischen. Später meinte er, dass er dabei viel gelernt hätte.

Hier in Burjatien, wie auch in Kalmückien zuvor, kamen viele Menschen, die zwar Buddhisten waren, aber nicht wirklich wussten, was das eigentlich bedeutet. Lama Ole hatte über die letzten Jahre mit westlichem Enthusiasmus ihren leeren Ritualen wieder etwas Sinn zurück gegeben. Als sie nun Gyalwa Karmapa sahen, fühlten sie intuitiv, dass er ein besonderer Lama war und obwohl er nicht aus ihrer Linie war, wollten sie alle sofort Segen von ihm. Sie umringten ihn auf der Straße, nahmen ihre abgetragenen Mützen in die Hände und senkten die Köpfe. Gyalwa Karmapa segnete jeden Einzelnen. Bei der Einweihung am Abend konnten wir viele von ihnen wiedersehen.

Schließlich begann die längste Strecke unserer Reise, die dreitägige Zugfahrt bis Wladiwostok. Das war etwas völlig Neues für Gyalwa Karmapa und auch für uns: Gemeinsame Tage im Zug! Für diese Reiseform hatten wir uns sehr eingesetzt. Die Wintertour mit Lama Ole durch Russland ist mittlerweile ein "Klassiker". Tausende seiner Schüler von überall auf der Welt sind ihm im Zug durch Russland in den letzten 20 Jahren gefolgt. Viele Freundschaften sind entstanden und wichtige internationale Verbindungen für unsere Arbeit sind hier gewachsen. Nirgendwo sonst lernt man in so kurzer Zeit so viel über sich und die Menschen. Hinzu kommt, dass es viel Zeit für Meditation gibt.

Wir wollten, dass Gyalwa Karmapa diese Reiseform erlebte, um das Land, seine Weite und seine Art mit den Dingen umzugehen, wirklich verstehen zu lernen. Das ging nirgendwo besser als auf der Transsibirischen Eisenbahn, nicht umsonst ist sie die Inspiration für so viele Regisseure und Schriftsteller. Wir beschlossen, in dieser Zeit nicht zu fotografieren, um jedem mehr Freiheit zu geben. Nach einer kurzen Ansage über diesen Beschluss hielten sich alle daran. Gyalwa Karmapas Vertrauen in uns wuchs durch solche Erfahrungen beständig.

Gyalwa Karmapa genoss den Zug vom ersten Moment an. Er ging manchmal einfach alleine durch den Zug - so etwas sieht man sonst nie. Normalerweise begleitet ihn immer mindestens ein Mönch, doch die Mönche saßen fröhlich beim Tee in ihrem Abteil. Was sollte auch passieren? Drei Waggons waren gefüllt nur mit Freunden. Gyalwa Karmapa sah uns bei unserem normalen Leben auf diesen Reisen, beim Essen, Reden, Meditieren, Arbeiten... Wir hatten ihm oft davon erzählt, wie wir die Zeit teilten, wie die Leute im Zug meditieren usw., jetzt überzeugte er sich mit eigenen Augen und kam unserer Arbeit näher als je zuvor.

Nun gab es auch Zeit für Interviews, ein Abendessen mit Lama Ole alleine, Pläne für die Zukunft machen usw. Ich nutzte die Zeit für viele organisatorische Fragen und ein Interview für "Buddhismus Heute". Es wurde uns sicher nicht langweilig. Hier entschied sich, dass wir bei den Einweihungen Blumen an Stelle von Kataks verwenden, dass wir in Zukunft allen Kagyü-Gruppen weltweit das Streaming anbieten, dass wir 2012 mit ihm in die USA reisen wollen und 2014 nach Südamerika und dass wir ein für alle Gruppen zugängliches Gyalwa-Karmapa-Fotoarchiv bräuchten. Und immer wieder redeten wir über unser Europazentrum, den Hauptsitz des Diamantweges, wie es die Menschen zusammenbringt, seine Bedeutung und die Arbeit dort, die anstehenden nächsten Schritte usw.

In Russland hält der Zug manchmal für kurze Zeit in Städten, in denen dann Lamas Oles Schüler für einen kurzen Segen oder eine Meditation auf den Bahnhof kommen und uns auch Essen bringen. Das geschieht "gerne" mitten in der Nacht und Gyalwa Karmapa lernte auch das kennen. Einmal wollten die Mönche Gyalwa Karmapa um fünf Uhr morgens während eines solchen Stopps nicht wecken, aber Lama Ole bestand darauf und klopfte laut an sein Abteil. Gyalwa Karmapa kam und segnete die fünf Buddhisten, die gekommen waren. Ich war leicht irritiert, aber es war gut so. Gyalwa Karmapa erlebte direkt, wie hart Lama Ole auf diesen Touren arbeitet. Als ich sein Verhalten bei Gyalwa Karmapa erklären wollte, sagte er einfach nur: "Was auch immer Ole tut, er liegt immer genau in der Mitte." Seine Offenheit und Vertrauen in Lama Ole, der jedem Zuflucht gab und die buddhistischen Lehren und die Wichtigkeit der Linie und der Lehrer vermittelte, halfen jedermanns Entwicklung. Indem sie diese vertrauensvolle Verbindung zueinander beobachteten, konnten sich die Schüler mehr öffnen und ihre Hingabe basierte auf Erfahrung.

Gyalwa Karmapa lernte ununterbrochen das russische Leben und uns kennen. Nie zuvor teilten wir so viel Zeit auf so nahem Raum. Nähe geschieht ja, wenn Unerwartetes passiert, etwas schwierig ist und man die Menschen spontan angenehm reagieren sieht, auch wenn nicht alles durch Protokoll und Abstand unnatürlich wird. Gyalwa Karmapa sah ungefiltert, was Lama Oles Arbeit ausmacht, warum die Menschen ihn so lieben und sich für ihn öffnen, warum er nie aufhört und immer bei seinen Schülern sein will. Gyalwa Karmapa verstand, dass es kein Zufall ist, dass tausende von Menschen zu seinen Veranstaltungen kommen, sondern dass sehr viel Arbeit dahinter steht.

Die viele Leben alte Verbindung zwischen Ole und Karmapa war einfach schön zu beobachten. So viel Vertrauen! Manchmal wie Vater und Sohn, dann wie Lehrer und Schüler, Schüler und Lehrer, Mann und Mann. Gyalwa Karmapa sah auch, wie wir alle miteinander umgehen und wie wichtig uns der Diamantweg ist. Überall konnte er unsere Dankbarkeit spüren.

Und auch wir lernten ihn stündlich besser kennen, seine Gesten, seine Mimik ... und seinen versteckten Humor, mit dem er uns immer wieder überraschte. Gyalwa Karmapa wurde mit der Zeit immer direkter, sagte, was er dachte, stellte Fragen. Er war aufmerksam, feinfühlig, dachte an seine Mönche und bemerkte auch, wenn wir etwas brauchten: Mit der Zeit musste weniger besprochen werden, wir wussten, wie jeder den Tee mochte und welches Gepäck wem gehörte. Wir wuchsen langsam aber sicher zu einem Mandala zusammen und alle fühlten sich gut.

Auch viele von Lama Oles Schülern reisen ja jedes Jahr mit, um diese Erfahrung zu machen. Für Gyalwa Karmapa reichte eine kurze Reise, um unseren ganzen modernen westlichen Diamantweg-Stil in sich aufzunehmen. Es war beeindruckend, wie er das tat.

An einem Abend bat uns ein russischer Schüler mit zu Gyalwa Karmapa ins Abteil zu kommen. Er war sehr gefasst und gleichzeitig auch aufgeregt. Dann begann er für 20 Minuten auf Tibetisch mit Gyalwa Karmapa zu reden. Als Gyalwa Karmapa auf Tibetisch antwortete, bat er ihn, es doch bitte auf Englisch zu tun. Wir waren verblüfft als sich herausstellte, dass es seine Weise war, Gyalwa Karmapa bei seiner ersten Begegnung in diesem Leben allen Respekt zu zeigen, ihn in seiner Sprache zu begrüßen und um Belehrungen zu bitten. Er hatte alles auswendig gelernt. Wir waren berührt von ihm und Gyalwa Karmapa antworte bescheiden wie immer: "Bitte praktiziere weiter und warte auf mich. Wenn ich selbst mehr gelernt habe, werde ich dir die Belehrungen geben".

Nach drei unvergesslichen Tagen im Zug geschah im Zentrum in Wladiwostok etwas Besonderes: Normalerweise verlaufen die Vorstellungen der Zentren immer sehr ähnlich. Begrüßung, Geschichte, derzeitiges Programm, Geschenke und Karmapas Dankesworte. Aber in Wladiwostok sagte Gyalwa Karmapa plötzlich am Ende unvermittelt: "Ich glaube, ihr werdet bald alle Erleuchtung erlangen." In genau dem Moment donnerte es draußen laut los, und Gyalwa Karmapa sagte: "Seht ihr?". Wir hatten alle Gänsehaut und große Freude stand auf unseren Gesichtern. Was für ein Timing! Mittlerweile war die Stimmung in der Reisegruppe völlig entspannt. Am letzten Abend schaffte es Lama Ole nicht, pünktlich zum Abendessen zu erscheinen und so stellte ich Gyalwa Karmapa all die Leute am Tisch vor und bat sie zu erzählen, was sie im Zentrum machten. Die Freunde rückten immer näher und erzählten von ihren Leben, ein großes Menschenknäuel entstand hinter Gyalwa Karmapa. Es fühlte sich an, als säßen gute alte Freunde zusammen. Es war ganz natürlich so entstanden und Gyalwa Karmapa schien es gar nicht weiter zu bemerken. Er fühlte sich offensichtlich gut, stellte Fragen, lauschte, lachte... Als Lama Ole kam, setzte sich jeder wieder an seinen Platz. Es hatte nicht lange gedauert, aber an diesem Abend hatten wir einen Blick darauf erhascht, was mit Gyalwa Karmapa jenseits des Protokolls möglich ist. Normalerweise wird er ja immer geschützt und es gibt so eine natürliche Distanz. Für uns war es wichtig zu erleben, dass es mit ihm auch anders sein kann. Offensichtlich brauchen westliche Schüler diese Nähe, um sich öffnen zu können.

Gyalwa Karmapas Reise in Russland war auf allen Ebenen ein Erfolg. Dass sich ein lebender Buddha als ein angenehmer, bescheidener Mensch zeigt, scheint in unsere Zeit zu passen. Sein Mitgefühl und seine Liebe gegenüber jedermann zu erleben, seine Anpassungsfähigkeit, seinen Humor und seine moderne Weise schnell zu denken und zu handeln, waren beeindruckend. Wir können uns freuen: The future looks bright.


Caty Hartung, abgeschlossenes Studium in Sport, Französisch und Pädagogik an der Uni Hamburg. Sie ist Schülerin von Lama Ole seit 1984 und reist mit ihm seit 1990 rund um die Welt. Sie half bei der Entstehung vieler Meditationstexte und Bücher wie "Das Grosse Siegel", "Wie die Dinge sind" und "Der Buddha und die Liebe". Zusammen mit Lama Ole und ihrem Lebensgefährten Gergely Porkolab ist sie im Vorstand der Buddhismus Stiftung, die den Erhalt des Diamantweg-Buddhismus im Westen zum Ziel hat. Besondere Aufmerksamkeit schenkt sie momentan der Verwirklichung des Internationalen Europazentrums und der gemeinsamen Programme von Karmapa Thaye Dorje, Shamar Rinpoche, Sherab Gyaltsen Rinpoche und Lama Ole Nydahl.


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Quelle:
Buddhismus heute 48, Frühjahr/Sommer 2010, Seite 38-43
Herausgeber:
Buddhistischer Dachverband Diamantweg e.V. (BDD) in Deutschland
Info-Telefon: 0172/830 40 08, Fax: 08366/98 38 18
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Redaktion: Detlev Göbel und Claudia Knoll
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. März 2011