Schattenblick →INFOPOOL →RELIGION → BUDDHISMUS

PRESSE/948: Bildung des Charakters (Buddhistische Monatsblätter)


Buddhistische Monatsblätter Nr. 2/2012, Mai - August
Vierteljahreszeitschrift der Buddhistischen Gesellschaft Hamburg e.V.

Bildung des Charakters

von Matthias Nyanacitta und Mattea Khema Scharlipp, Thailand



Der Weg zur Bildung des Charakters ist die Gründlichkeit, die nichts überspringt, sondern allmählich und stetig wie das Wasser alle Lücken ausfüllt und so vorankommt.
(Kommentar zum Tao te king)


Stellt man einem im Westen lebenden und an innerem Wachstum interessierten Menschen die Frage "Wer bist du?", zeigen sich nicht selten Unsicherheit, Orientierungslosigkeit, (Selbst)Zweifel oder Resignation aufgrund unbalancierter Idealvorstellungen von der eigenen Rolle in Anbetracht der schwierigen Verhältnisse in dieser komplexen Welt. Die Frage ist natürlich nicht so gemeint, wie jemand heißt oder von wem er abstammt, sondern im Sinne seines echten "Selbstverständnisses". Auch für einen "selbstlosen" Buddhisten spielt dies eine durchaus wichtige Rolle: sich selbst zu erforschen und eine "buddhistische Identität" durch den Zufluchtsgang zu Buddha, Dhamma und Sangha zu finden. Erst dann scheint es möglich, dem Rat und der Einladung Buddhas zu folgen "sei dir selbst eine Insel" sowie "komm und sieh selbst", wozu du in dieser unvollkommenen Welt fähig bist! Denn der Mensch bleibt wegen seiner Möglichkeitsfülle, "auch wenn er in allem anderen eine Randerscheinung des Kosmos wäre, das Überraschungszentrum der Welt" (Martin Buber).

Die Unüberschaubarkeit des Beziehungsgeflechts, in dem wir stehen, stellt eine ständige Herausforderung für die Bildung eines authentischen "Selbstverständnisses" dar, das im Einklang mit der Natur der Wirklichkeit steht. Die Kultivierung einer befreienden Denk- und Lebensweise ist der Versuch, mit dieser Herausforderung durch die Vielfaltswelt fertig zu werden und die starken Fesseln zu lösen, welche die innere "Überraschungskraft" hemmen. In diesem Sinn ist das buddhistische "Selbstverständnis" identitätsbildend als ein sichtbares Zeichen dafür, wie Form und Inhalt eines mitfühlenden, achtsamen und weisen Lebens in Harmonie miteinander gebracht werden können. Doch kann man Verhaltensweisen nicht ändern, ohne auch ein anderer Mensch werden zu wollen. Wenn wir unsere buddhistische Identität ernst nehmen und sie in unseren alltäglichen Begegnungen auch zum Ausdruck bringen möchten, sollten wir bereit sein, eine nicht mehr förderliche Lebensführung zu verändern und die Gestaltung unseres Lebens um diesen kraftvollen Mittelpunkt zu sammeln. Korrekturen im Bereich unserer Denk- und Lebensweise erfordern aber viel Umsicht, Geduld, mutiges Vertrauen, methodische Klarheit, sowie den Schutz und die Wegweisung durch Weggefährten und edle Freunde.

Gerade unser soziales und zwischenmenschliches Verhalten beeinflusst in hohem Maße unsere Möglichkeiten zu echtem geistigem Fortschritt. Der Beseitigung von "Trübungen meditativen Klarblicks" sollte daher die systematische Arbeit am eigenen Charakter und "Selbstbild" im Alltag an die Seite gestellt werden. Den Übenden hierbei Hilfestellung zu geben, ist das Anliegen der Vatupphama Sutta (M 7) und der Sallekha Sutta (M 8). Das in ihnen vom Buddha beschriebene Vorgehen zur "Veredelung des Charakters" und Öffnung des Herzens für seine grundlegende Wandlungsfähigkeit beruht auf einer förderlichen Lebens- und Denkweise, die es ermöglicht, "Trübungen des Herzens" (Paul Debes) und "Befleckungen des Geistes" (Nyanaponika) an der Wurzel auszuroden und den Weg zu weiterem geistigen Fortschritt zu ebnen. Ausdrücklich weist der Buddha darauf hin, dass die notwendige Läuterung von Herz und Geist durch Konzentrationszustände, welche Tiefe sie auch immer erreichen mögen, nicht bewirkt werden kann, da Geistessammlung lediglich zu "angenehm gegenwärtigem Verweilen" bzw. zu (angenehm) "friedvollem Verweilen" führt, nicht aber zu einer tiefer reichenden Klärung, Entwicklung und Befreiung des Geistes.

Beide Lehrreden geben für die Entfaltung des menschlichen Potenzials und die dafür notwendige Selbsterziehung auf dem Weg wichtige Anhaltspunkte und Übungshinweise. Der Buddha erinnert u. a. daran, dass jede Bemühung, den Geist von unheilsamen Kräften zu befreien und ihn in heilsame Bahnen zu lenken, von großem Gemeinschaftssegen ist, da die systematische Kultivierung entgegenwirkender Kräfte nicht nur zu eigenem Wohlergehen und Glück führt, sondern ein dem Guten zugeneigt er Geist auch entsprechendes Handeln zum Wohle anderer nach sich zieht:

"Cunda, ich sage dir, schon die Ausrichtung der Geisteskräfte auf heilsame Zustände ist von großem Segen, und was könnte man erst von entsprechenden Worten und Taten sagen. Deshalb, Cunda, (schwierige) geistige Energien sollten (als erstes) auf diese Weise umgelenkt werden: 'Während andere grausam sind, lasst uns nicht grausam sein: so kann der Charakter verfeinert werden' (...)."

Der Buddha nannte diese weise Vorsatzbildung, sowie das weiter von ihm empfohlene Vorgehen, "den Weg, der nach oben führt". Nyanaponika bezeichnete diesen bewegenden Übungsauftakt, der in der Sallekha Sutta nicht auf die Vermeidung der Grausamkeit (ahimsa) beschränkt, sondern auf weitere Charakterschwächen ausgedehnt wird, als "die moralische Unabhängigkeitserklärung", die er mit den Worten zusammenfasste:

"Andere mögen verkehrt handeln, reden und denken, wir wollen in rechter Weise handeln, reden und denken - so kann der Geist von Befleckungen geklärt werden."

Ohne die notwendige Kleinarbeit im Alltag unserer zwischenmenschlichen Begegnungen und Beziehungen bleibt echter geistiger Fortschritt, der in der Verwirklichung einer zunehmenden Freiheit von inneren Schwächen und Zwängen zum Ausdruck kommt, eine unerreichbare Utopie. Doch sollte man auch versuchen, diesen Weg, der manchmal als mühsam erscheint, mit Mitgefühl und Güte zu gehen und die guten Übungsvorsätze der Vergangenheit regelmäßig erneuern.

Wir möchten mit einer Kurzbeschreibung der vom Buddha empfohlenen Vorgehensweisen und einer tabellarischen Übersicht über die 16 "Herzenstrübungen" und "geistigen Befleckungen" enden, die sowohl in der Lehrrede M 7 als auch (bis auf wenige Ausnahmen) in M 8 angesprochen werden. Bei der Wiedergabe dieser unheilsamen geistigen Energien geben wir eine Auswahl deutscher Übersetzungen an die Hand, die einen guten Eindruck über die Gegenstände und den Bereich "freudigen Loslassens" vermitteln. Eine der Bedingungen für wahres und zuverlässiges Glück (mangala) ist "das Aufsuchen erfahrener Übender, die geistigen Fortschritt sichtbar zu ihrem Lebensinhalt gemacht haben". In diesen beiden Lehrreden finden wir einen brauchbaren Maßstab, um solche Menschen zu erkennen.

Die Lehrrede vom Tuch (M 7)
Die Überwindung von Charakterschwächen soll erfolgen durch: (1) ihr Bemerken (und Benennen!), (2) das Eingestehen ihrer Anwesenheit und (3) ihr gründliches Untersuchen und Kennenlernen. Letzteres bedeutet die Anwendung der vier edlen Wahrheiten auf sie, d.h. das Verstehen ihrer leidhaften Natur, ihrer Entstehungs- und Aufhebungsbedingungen, sowie des dafür erforderlichen Vorgehens und der geeigneten Mittel.

Die Lehrrede von der Veredelung des Charakters (M 8)
Die Überwindung von Charakterschwächen soll erfolgen durch: (1) immer wieder beherzt den Entschluss und Gedanken fassen, diesen unheilsamen Energien zu widerstehen ("moralische Unabhängigkeitserklärung"), (2) sich klar und ehrlich mit ihnen im eigenen Geist auseinander setzen, (3) systematisch die positiven Gegenkräfte entwickeln und (4) Überheblichkeit und Stolz (nach Tschung-tse: "eine Tugend, die schielt") angesichts von Erfolgserlebnissen beim Üben immer wieder loslassen.

Auf den Erleuchtungsstufen werden die genannten Charakterschwächen nach den Kommentaren wie folgt endgültig gemeistert:
beim Stromeingetretenen (5-10), beim Nicht-Mehr-Wiederkehrer (2-4, 16), beim Arahant (1, 11-15).

Buddhistische Monatsblätter Nr. 2/2012

Quelle:
Buddhistische Monatsblätter Nr. 2/2012, Mai - August, Seite 24-27
Vierteljahreszeitschrift der Buddhistischen Gesellschaft Hamburg e.V.
Herausgeberin: Buddhistische Gesellschaft Hamburg e.V.
Beisserstr. 23, 22337 Hamburg
Tel.: 040 / 6313696, Fax: 040 / 51902323
E-Mail: bm@bghh.de, bghwiebke@gmx.de
Internet: www.bghh.de
 
Die Buddhistischen Monatsblätter erscheinen
vierteljährlich.
Einzelpreis: 5,-- Euro
Abonnementspreis: 20,-- Euro jährlich


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Juli 2012